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Saudi-Arabien: Kontrollverlust auf mehreren Ebenen

Screenshot. Quelle: Twitter / Snapchat

Im Streit mit Katar bleibt Mohammed Bin Salman ohne Erfolg. Ein Video macht nun auf seine Art auf die Grenzen der saudischen Kontrollpolitik aufmerksam

Man kann das einen "Körpertreffer" nennen. Die Bilder einer jungen Frau, die unverschleiert im Minirock durch die Gassen eines saudi-arabischen Dorfes mitten in Wahhabistan schlendert, dürften eine wuchtige Wirkung haben. Das Video [1], angeblich mit einem Modell namens Khulood in der Hauptrolle kursiert auf internationalen Webseiten [2] und auf poppigen arabischen Twitter-Seiten [3]. Im Jahr 2016 zählte man fast 5 Millionen [4] Twitter-User in Saudi-Arabien.

Khulood spaziert angeblich [5] durch das historische Dorf Ushayqir. Ob das ein Fake ist, ist für die saudischen Behörden leicht nachzuprüfen, denn die Kulisse ist gut erkennbar [6] und historisch. Das Dorf war eine berühmte Station auf dem Pilgerpfad [7] für den Hadsch aus Kuwait, Irak und Iran.

Ushayqir befindet sich in der stockkonservativen Provinz Naschd, wo der Wahhabismus seinen Anfang nahm [8], und seither streng über die Sitten der Bewohner wacht. Die Religionspolizei ist wegen des Tabubruchs alarmiert [9]. Regierungsmitarbeiter sollen "Maßnahmen gegen die Frau" gefordert [10] haben. Die Provokation ist gelungen.

Politische Schwächen bloßgelegt

Fast mag man denken, dass dies nicht nur ein harmloser Snap-Chat-Stunt ist, der so halb unbeabsichtigt eine solche virale Reichweite bekommt, sondern dass eine größere Absicht hinter dieser Demonstration steckt, die zu einem heiklen politischen Zeitpunkt kommt und politisch relevante Schwächen bloßlegt. Nämlich, dass die Kontrolle und die Abschottung in Saudi-Arabien nicht so gut funktionieren, wie es bislang garantiert war.

Das saudische Herrscherhaus, genauer sein Hauptakteur, der neue Kronprinz [11] Mohammed Bin Salman (MBS) steckt in Schwierigkeiten und das hat mit Selbstüberschätzung zu tun, für welche das Video mit der unerträglichen Leichtigkeit des unverhüllten Seins ein Index ist. MBS ging nach allem, was über ihn berichtet wurde, davon aus, dass er den Streit mit Katar [12] im Griff hat.

Katar gibt nicht auf

Katar würde schnell aufgeben, lautete seine Arbeitshypothese. Dem ist aber nicht so. Der katarische Herrscher Tamim Bin Hamad Bin Khalifa Al- Thani lehnte die von MBS maßgeblich mitgestalteten, völlig überzogenen Forderungen ab (Machtkampf im Nahen Osten: Katar soll sich gefügig zeigen [13]). Er wollte sich nicht unterordnen.

Das Quartett aus Saudi Arabien, den Vereinigten Emiraten, Ägypten und Bahrain signalisierten [14] daraufhin, dass sie ihre Forderungen lockern könnten. Al-Jazeera müsse nicht unbedingt gänzlich abgeschaltet werden, mit einer "fundamentalen Umstrukturierung" wäre man auch zufrieden.

Indessen reagierte Al-Jazeera auf den Druck damit, dass sich das Programm nun mehr den grausligen Bildern von der humanitären Katastrophe im Jemen-Krieg zuwendet und Syrien in den Hintergrund stellt: ein Beispiel aus einem Al-Jazeera-Programmhinweis [15]: "The world’s largest humanitarian crisis isn’t in Syria. It’s in Yemen. Here's how it all began."

Die Türkei will ihre Militärpräsenz in Katar ausbauen

Es ist fast schon ein Prinzip: Statt nachzugeben, wird die Position verstärkt. Vonseiten der Viererkette kommt ein Vorstoß, wie etwa aktuell aus Ägypten [16], dass man dort die Visafreiheit für Kataris aufgehoben hat (mit Ausnahmen), bis Katar endlich in die Bedingungen einwilligt. Zugleich erfährt der Nachrichtenleser, dass aufseiten der Verbündeten Katars gekontert wird. So verlangte der Forderungskatalog, dass die Türkei ihre (ohnehin schwache) Militärpräsenz in Katar aufgibt. Aktuelle Nachrichten künden vom Gegenteil: Die Türkei will ihre Militärpräsenz in Katar weiter ausbauen [17].

Der Konflikt zwischen den Golftstaaten könnte sich noch eine Weile hinziehen, meinte der US-Außenminister Tillerson kürzlich. Er versuchte - wie demnächst Erdogan [18] und Mogherini und zuvor die Außenminister Jean-Yves Le Drian, Boris Johnson und Sigmar Gabriel - zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Ohne sichtbaren Erfolg [19]. Sichtbar wurde dagegen, dass sich Tillerson auf einem anderen Kurs befindet als Donald Trump, der sich deutlich auf die Seite Saudi-Arabiens schlug. Der Entscheidungsprozess innerhalb der US-Regierung sei schwierig, bemerkte [20] Tillerson.

Saudi-Arabien: Faktor der Stabilität?

Mit einem Leak, bei dem Tillerson eine Rolle spielte, wurden Saudi-Arabien Grenzen aufgezeigt. Die Washington Post veröffentlichte [21] Informationen von US-Geheimdienstmitarbeitern, die bestätigen, dass die Aussagen von Tamim Bin Hamad Bin Khalifa Al- Thani nach dem Gipfeltreffen der arabischen Länder mit Trump, die den offiziellen Anstoß zum Streit [22] gegeben hatten, auf einen Hack zurückgehen. Und dieser Hack sei vorher, wie das Material der US-Geheimdienste nahelegte, in den Vereinigten Emiraten verabredet worden.

Die Drohung, die mit diesem Leak an die Washington Post verbunden sei, so das Blog Moon of Alabama [23], laute, dass man noch mehr Schmutz über Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate auspacken könne. Es ist ein offenes Geheimnis, dass nicht nur aus Katar, sondern auch aus den beiden anderen Golfstaaten in der Vergangenheit und gewiss auch in der Gegenwart reichlich Unterstützung an islamistische Gruppen floss oder fliest, die mit Terrorgruppen mehr oder weniger eng verbunden sind.

Die saudi-arabische Elite habe von sich selbst den Eindruck, dass Reichtum und Macht eine Art natürlicher Zustand sei, den sie ihrer Brillanz zu verdanken haben. Man sei so aufgewachsen, so ein Kommentar [24], der in Auszügen auf dem Blog zu lesen ist [25]. Dessen Fazit lautet, dass sich Saudi-Arabien absehbar zu einer Quelle der Instabilität entwickeln würde, und noch nicht klar sei, wie die USA damit zurechtkommen werden.

Ähnliche Einsichten zur Selbstüberschätzung der saudi-Arabischen Führung, nicht ganz so scharf formuliert, äußert [26] Marc Lynch. Er weist vor allem darauf hin, dass es dem Quartett aus KSA, VAE, Bahrain und Ägypten nicht gelungen ist, Katar zu isolieren. Stattdessen würden sich große Probleme auf der Seite der vier zeigen, Unterstützer für ihre Sache zu gewinnen.

Wenn sich der Streit lange und glücklos hinzieht, wie sich auch der Krieg im Jemen lange und glücklos hinzieht, könnte dies Auswirkungen auf die Lage des "überambitionierten" (BND) Muhammed Bin Salman haben. Er ist ohne große dynastische Unterstützung. Schon bei seiner Beförderung zum Kronprinzen gab es kritische Stimmen, die von einer ungefestigten Stellung sprachen.

Nachtrag:

Angeblich soll die junge Frau aus dem Video mittlerweile den saudischen Behörden bekannt [27] sein. Man kann davon ausgehen, dass die saudische Obrigkeit diesem Kontrollverlust mit großer Strenge begegnen wird. Bei den anderen wird das schwieriger.

Die Zeit meldete [28]am Abend:"'Die Polizei in Riad hat eine Frau aufgegriffen, die in Uschaiger in freizügiger Kleidung aufgetaucht ist. Sie wurde der Staatsanwaltschaft überwiesen', berichtete das staatliche Fernsehen via Twitter(!). Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob Anklage gegen die Frau erhoben wird."


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https://www.heise.de/-3775890

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/50BM_/status/886614068768976897
[2] https://www.bustle.com/p/this-snapchat-of-a-woman-wearing-a-miniskirt-in-saudi-arabia-is-causing-a-stir-70821
[3] https://twitter.com/50BM_/status/886614068768976897
[4] https://www.statista.com/statistics/558404/number-of-twitter-users-in-saudi-arabia/
[5] https://www.bustle.com/p/this-snapchat-of-a-woman-wearing-a-miniskirt-in-saudi-arabia-is-causing-a-stir-70821
[6] http://en.wikigogo.org/en/169886/
[7] https://www.360cities.net/image/ushayqir-saudi-arabia
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Wahhabiten
[9] http://www.n-tv.de/panorama/Frau-mit-Minirock-alarmiert-Sittenpolizei-article19941562.html
[10] https://www.rt.com/news/396567-saudi-girl-mini-skirt/
[11] https://www.heise.de/tp/features/Der-neue-saudische-Kronprinz-Fun-Neoliberalismus-und-Kriege-3751690.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Streit-zwischen-Saudi-Arabien-und-Katar-3733064.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Machtkampf-im-Nahen-Osten-Katar-soll-sich-gefuegig-zeigen-3754624.html
[14] https://www.alaraby.co.uk/english/news/2017/7/13/anti-qatar-countries-to-drop-demand-on-al-jazeeras-closure
[15] https://twitter.com/AJEnglish/status/881580742341414912
[16] https://www.reuters.com/article/us-gulf-qatar-egypt-idUSKBN1A21SM
[17] https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-07-17/turkey-building-up-army-base-in-qatar-erdogan-adviser-says
[18] https://www.thenational.ae/world/gcc/turkey-s-president-recep-tayyip-erdogan-plans-gulf-trip-1.609887
[19] https://www.nytimes.com/2017/07/13/world/middleeast/qatar-saudi-arabia-rex-tillerson.html
[20] https://www.nytimes.com/2017/07/13/world/middleeast/qatar-saudi-arabia-rex-tillerson.html
[21] https://www.washingtonpost.com/world/national-security/uae-hacked-qatari-government-sites-sparking-regional-upheaval-according-to-us-intelligence-officials/2017/07/16/00c46e54-698f-11e7-8eb5-cbccc2e7bfbf_story.html
[22] https://www.heise.de/tp/features/Streit-zwischen-Saudi-Arabien-und-Katar-3733064.html
[23] http://www.moonofalabama.org/2017/07/can-washington-mitigate-the-death-of-the-gulf-states-.html
[24] http://www.ianwelsh.net/the-death-of-saudi-arabia/
[25] http://www.moonofalabama.org/2017/07/can-washington-mitigate-the-death-of-the-gulf-states-.html
[26] https://t.co/d9mAjOlinS
[27] https://twitter.com/EHSANI22/status/887295883469041665
[28] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-07/saudi-arabien-minirock-video-festnahme-model-cholud