Schlaf, der Gedächtnisgärtner

Seite 2: Träumen, um zu vergessen

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Synapsen, die Verbindungen zwischen Nervenzellen, werden also im Tiefschlaf verstärkt, und das dient dazu, deklarative Inhalte, die im Wachzustand gelernt worden sind, zu festigen. Nun besteht das Lernen im Wachzustand auch schon darin, Synapsen zu verstärken. Wenn Synapsen aber immer nur verstärkt würden, wäre das Gehirn recht bald von Neuronenfortsätzen überwuchert. Alle Synapsen wären am Anschlag, nichts ginge mehr.

Dieses Problem warfen Francis Crick (ja, der Francis Crick) und Graeme Mitchison im Jahr 1983 in einem in Nature erschienenen Artikel auf. Sie stützten sich dabei auf Beobachtungen an künstlichen neuronalen Netzen: Diese kann man mit einfachen Lernalgorithmen lehren, verschiedene Muster zu erkennen und zu vervollständigen. Wenn man sie jedoch überfordert, indem man zu viele oder zu ähnliche Muster einspeichert, fangen die Netze an zu spinnen: Sie "phantasieren" zu einem Input ein falsches, weit hergeholtes Muster, oder sie liefern "obsessiv" immer dieselbe Antwort, oder "halluzinieren" Antwortmuster, wenn der Input eigentlich gar keine Antwort hervorrufen sollte. Kurz, so meinten Crick und Mitchison: Sie benehmen sich wie ein Mensch, der zu lange nicht geschlafen hat.

In künstlichen neuronalen Netzen, so zeigten sie, kann man das verhindern und die Netze wieder aufnahmefähig machen, indem man sie von Input und Output abschneidet und aus internen Quellen zufällige Aktivität generieren lässt. Die Zufallsmuster, die dadurch hervorgerufen werden, schwächt man dann, indem man die entsprechenden Synapsen verringert. Dieser Mechanismus, bei dem ein von der Umwelt abgeschnittenes Nervennetz in wilden, nutzlosen Assoziationen flackert und danach wieder aufnahmefähig ist, erinnert, so sagten sie, frappant an den Traumschlaf.

Crick und Mitchison gingen so weit, ihren Lesern davon abzuraten, sich morgens an ihre Träume zu erinnern zu versuchen. Träume, so meinten sie, sind keine wichtigen Botschaften aus dem Unterbewussten. Sondern das, was das Gehirn zu vergessen versucht.

Die geistreiche Hypothese wurde immer wieder diskutiert, aber sie ist experimentell schwer zu überprüfen. Vor einigen Jahren gelang es immerhin dem bedeutenden Hippokampus-Forscher György Buzsáki von der New York University, die Aktivität von Neuronen im Hippokampus - der für Gedächtnisbildung und Orientierung wichtigen Struktur - über Abfolgen von Tiefschlaf - REM-Schlaf - Tiefschlaf bei Ratten zu beobachten. Während der Tiefschlafepisoden nahm das Feuern der Neuronen kontinuierlich zu. Während der REM-Episoden dagegen ging es drastisch nach unten.

Zwar muss das, was für den Hippokampus gilt, durchaus nicht für die stammesgeschichtlich jüngere und anders aufgebaute Großhirnrinde gelten. Aber die Befunde eröffnen zumindest die Möglichkeit, dass der REM-Schlaf tatsächlich der neuronalen Homöostase dient. Also dazu, die Eingänge aller Neuronen gleichmäßig so zu schwächen, dass ihre Aktivität einen Sollbereich wahrt und Luft nach oben hat. Ob sich diese Idee auch für die Großhirnrinde bestätigen lässt, bleibt abzuwarten.

Schlaf ist also wie ein Gärtner, der den nächtlichen Garten der Erinnerung pflegt. Pflanzen, die wachsen sollen, düngt und gießt er und bindet sie höher. Doch damit sie Platz haben, jätet er aufschießende Unkräuter weg und schneidet störende Äste aus.

Wie oben, so unten

Nicht nur das Gehirn bildet Gedächtnis. Viele Systeme des Körpers verändern sich entsprechend der Erfahrung auf eine Weise, die man als Gedächtnis bezeichnen kann: Muskeln werden stärker durch Gebrauch, Knochen werden robuster durch Belastung, Haut lagert Melanin ein, wenn besonnt.

Ein System, das eigens Zellen dafür unterhält, sich frühere Begegnungen mit der Umwelt zu merken, ist das Immunsystem. Erkennt es ein fremdes Molekül, dann präsentiert es dieses den T-Zellen im Lymphgewebe. Diese probieren aus, ob sie passende Antikörper dazu bereit haben. Solche T-Zellen, die gut passende Antikörper zu bieten haben, vermehren sich dann; einige davon bekämpfen sofort die Bedrohung, andere ziehen sich zurück und bewahren die Erinnerung.

Wie Jan Born und Kollegen in einem aktuellen Übersichtsartikel darstellen, gibt es erstaunliche Parallelen zwischen der Gedächtnisbildung des Gehirns und jener des Immunsystems. Nicht die geringste davon ist, dass beide vom Schlaf profitieren. Eine Aktivierung des Immunsystems, etwa durch eine Impfung, erhöht das Schlafbedürfnis. Der Schlaf wiederum verbessert langfristig das Immungedächtnis, indem die Zahl beider Arten von T-Zellen erhöht wird.

Sogar in den Mechanismen gibt es Ähnlichkeiten: Im Tiefschlaf erreichen die Blutkonzentrationen des Stresshormons Cortisol ihr Minimum. Diese geringe Konzentration fördert die Gedächtniskonsolidierung im Schlaf. Sowohl im Hippokampus als auch im Immunsystem wird die Konsolidierung gestört, wenn man experimentell Cortisol appliziert.

Zu wenig Schlaf ist nicht gesund. Schlafmangel stört Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit, und begünstigt Krankheiten. Beides, so scheint es, hat damit zu tun, dass der Körper im Wachen von zahllosen Reizen überfordert ist. Seine Reaktionen auf alle Informationen, auf wichtige und unwichtige, auf belanglose Details, wuchern wie sonnenbeschienenes Unkraut in den Kontaktstellen der Zellen. Erst im Dunkel des Schlafs ist Gelegenheit, Ordnung zu machen, Muster zu erkennen, Unwichtiges auszujäten, damit Relevantes wachsen kann.