Schlappe für Werthebach
Demonstrationsverbot des konservativen Innensenators mobilisierte Zehntausend, die auf ihr Demonstrationsrecht nicht verzichten wollten
Am Ende war alles wie immer: Knüppel, Flaschen, Steine, Tränengas; 600 Verhaftete und eine unbekannte Anzahl Verletzter. Am Morgen ziehen die Putzkolonnen über den Berliner Mariannenplatz, durch die Oranienstraße und das umliegende Viertel und beseitigen, was Fest, Demonstration und spätere Kämpfe an Müll hinterließen. Wären nicht die ein, zwei Autowracks, die Szenerie sähe nicht viel anders aus als Unter den Linden nach der Loveparade; doch halt, da liegen noch die Steine, über die gestern die Polizeitransporter wie über ein ADAC-Testfeld hoppelten. Alles beim Alten? Nein, denn gestern schien er mehr Sinn zu machen, der 1.Mai, der Feiertag, der Demonstrationstag, als in den Jahren zuvor.
Als Sinnstifter betätigte sich der Berliner Innensenator Werthebach (CDU), der in den Tagen zuvor versucht hatte, alle Demonstrationen an diesem Tag zu verbieten. Dank urdeutscher Rechtsprechung gelang ihm dies nur zum Teil: Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht hatten das Verbot einer NPD-Demonstration aufgehoben; wenn auch unter der Auflage, dass selbige in Hohenschönhausen stattfinden musste. Dies blieb der linksalternativen "Revolutionäre 1.Mai Demonstration" in Kreuzberg jedoch versagt. Nicht nur hier, auch besonders im Ausland wird kaum vermittelbar sein, warum Gerichte in Deutschland eine Demonstration der Rechten erlauben, während gleichzeitig die der Linken verboten wird. Eine fatale Situation, ein abstoßendes Bild, das Werthebach später an diesem Tag in den Tagesthemen schön zu reden versuchte. Das war bereits nach dem Gewaltausbruch, der das Fest am Mariannenplatz vorzeitig beendete. Einige Hundert Menschen, FestbesucherInnen, Anwohner, AnarchistInnen, wurden zu diesem Zeitpunkt noch in zwei Polizeikesseln festgehalten.
Dem vorausgegangen war ein typischer, ruhiger 1.Maimorgen: Pünktlich hat sich das warme Wetter eingestellt und die Zivilbeamten der Polizei überlegen sich vor ihrem grauen VW, ob sie im Kapuzenpulli oder doch im Sepultura-T-shirt den Tag angehen sollen. Während einige der Restaurants den Rolladen heruntergelassen haben, macht der alte Eisverkäufer nahe dem Lausitzer Platz das Geschäft des Jahres, als sich endlich die linken Selbständigen, die Antifaschistinnen, der Arbeitslose, die türkischen Jugendlichen und das ein oder andere StartUp-Unternehmerlein zur "Demo gegen das Demoverbot" einfinden. Abgeordneter Ströbele, mit den Grünen, den Jusos und der PDS Unterstützer der von Angela Marquardt (PDS) angemeldeten Veranstaltung, kommt mit dem Fahrrad.
Gut eine Stunde verspätet ziehen die vielleicht Zehntausend auf kurzer Strecke durch das Viertel, räumlich getrennt von der parallel stattfindenden Demonstration der eher traditioneller organisierten KommunistInnen der TKP/ML und der RIM - auch das eine Tradition, seit es Mitte der 90er zu Schlägereien zwischen den Fraktionen kam. 2001 verlaufen beide Umzüge friedlich, ausgerechnet die Jusos haben einen Tieflader mit anschwellender Tanzmusik und später recht ordentlichem, deutschsprachigem Hip Hop dabei, ein Schwarzer Block ist nicht in Sicht. Die Polizei begleitet den Zug auf beiden Seiten, aber niemand regt sich darüber auf. Die Bank bleibt heil, der Sexshop erfährt nicht einen einzigen Steinwurf, und nach der Demo gehen alle was essen. Auf dem Mariannenplatz sind zwei Bühnen und ungefähr zwanzig Imbisstände aufgebaut. Die Organisation gegen das Stadtschloss verkauft kleine Büchlein über den Palast der Republik aus dem Jahr 1986. Das vom Senat ausgesprochene Versammlungsverbot ist ein Witz: ganz Kreuzberg ist auf der Straße.
Erst 2 Stunden später, allerdings bereits vor der Zeit, zu der die verbotene Demonstration hätte stattfinden sollen, beginnen die Auseinandersetzungen: einige hartnäckig Demonstrationswillige haben sich auf der Kreuzung Oranienstraße / Adalbertstraße niedergelassen und werden dann von der Polizei weggeräumt, wie immer ein zärtlicher Vorgang. Danach dauert es nicht mehr lange und die Straßen sind verwüstet, der Mariannenplatz geräumt und zum Theater umfunktioniert. Davon, dass die Polizei vor der Räumung die vorschriftsmäßigen drei Verwarnungen in je fünf Minuten Abstand verlauten ließ, kann nicht ausgegangen werden: Die Imbissbetreiber haben ihre Nudeln und das frisch gegrillte Fleisch bestimmt nicht absichtlich auf dem Rasen verteilt. Hin und her wogt das Gefecht in klassischer Inszenierung. Die Greifer, nun doch im Kapuzenpulli über den zerschlissenen Jeans, holen sich einen jugendlichen Punk raus: Seine Freundin umarmt und küsst ihn, als er hinter einem Transporter fotografiert wird.
Die Kinder der Anwohnerschaft wissen Bescheid und flüchten in die Hinterhöfe, wenn die Wasserwerfer zu nahe kommen: Begeisterte Blicke, erregte Kommentare zur Wirkung des Tränengases. Ist ja gar nicht so schlimm, wenn man es nicht voll ins Gesicht geblasen kriegt. Zum Glück sind die ganz Kleinen in Sicherheit gebracht worden, für sie kann Tränengas zum tödlichen Reizstoff werden. Als Autos angezündet werden, macht die Polizei den Laden dicht und umstellt am Ende des Mariannenplatzes die Menschen, die nicht rechtzeitig weggekommen sind. Nach einigen Stunden erst werden sie gegen Abgabe der Personalien herausgelassen. Gegen sie wird ein Verfahren wegen Landfriedensbruchs erhoben werden. Den Rest der Nacht bleibt es weitestgehend ruhig.
Innensenator Werthebach wird heute natürlich darauf bestehen, dass seine Strategie des Verbots voll aufgegangen sei. Als er gestern um 22.40 Uhr in den Tagesthemen behauptete, die von Marquardt organisierte Demo gegen das Demoverbot habe Steinewerfer "ins Zentrum" geholt, beschrieb er nicht nur die Situation falsch, sondern lag auch im Widerspruch zu seinem Polizeipräsidenten: Saberschinsky hatte wenig zuvor im ZDF hervorgehoben, der Erfolg in der Polizeistrategie habe in der gelungenen "Dezentralisierung" gelegen. Auf unheilvolle Weise mag er dabei Recht gehabt haben, was die Demonstration der Rechten betraf: Seit einiger Zeit werden diese Demos gerne nach Hohenschönhausen verlegt. Damit transportiert man dieses offensichtliche Problem in die Vorstadt, und die Gerichte helfen der NPD beim Rekruten werben: Hohenschönhausen ist Berlins Stadtteil mit der größten Anzahl Jugendlicher, die durften sich mit ansehen, wie 2000 Polizisten 700 Nazis vor 300 Gegendemonstranten jeglichen Alters abschirmten.
Werthebach wird auch behaupten, dass die Ausschreitungen in Kreuzberg besser kontrolliert worden seien. Wobei fraglich ist, ob eine hohe Anzahl von Verhaftungen an sich als besonderer Erfolg gewertet werden kann: Vor allem hat seine Strategie alle, aber auch wirklich alle auf die Straße geholt, die sich das Demonstrieren nicht verbieten lassen wollen. Nicht wenige dieser Erzdemokraten mögen jetzt auch unter den Verhafteten sein. Werthebach wird behaupten, dass dies der Anfang vom Ende der Krawalle sei, aber er liegt da falsch, wenn er den Einsatz von immer mehr Polizisten meint. Selbst wenn es sich bei den Ausschreitungen um Rituale handeln sollte, gibt es für Rituale immer Gründe, auf die sie sich beziehen; an die sie erinnern sollen, ja, müssen, wie tags zuvor der Ethnologe Wolfgang Kaschuba in der Tageszeitung festgestellt hatte. Erst mit der Arbeit an strukturellen Änderungen hin zu mehr gesellschaftlicher Gleichheit, anstatt einem Auseinanderdriften der Einkommenshierarchie, werden diese Ursachen verschwinden. Forderungen nach mehr Polizei und Einschränkungen des Versammlungsrechts, wie sie in den nächsten Tagen konservative Politiker formulieren werden, zementieren diese Hierarchien und werden mehr Widerstand hervorrufen.