Schmerzlos und merkbefreit

Die neue Aggro-, Trend-, Teufels- und Superman-Droge Tilidin

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„Der Raser entkommt vorerst und die Polizisten wissen, wer ihm dabei half: Tilidin.“ An diesem Satz aus einem Artikel der Online-Ausgabe der Zeitung Welt vom 1. Juli ist zweierlei interessant: Zum einen das Phänomen der vermeintlich polizeilichen, eher wohl journalistischen Ferndiagnose, die einen Autofahrer ohne Bluttest des Konsums eines Schmerzmittels überführt. Zum anderen der Tonfall, der an ein Groschenheft der 50er Jahre erinnert. Es ist dieser Tonfall, der in unregelmäßigen Abständen angeschlagen wird, wenn von einer neuen Droge berichtet wird, die das Leben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland gefährdet. 2008 ist Tilidin auf dem besten Weg zur Horrordroge des Jahres aufzusteigen.

Bereits am 23. Januar titelte der Spiegel „Trend-Droge lässt Jugendliche durchdrehen“. Auch hier ist der Einstieg ein zu schneller Autofahrer, auch hier müssen die Polizisten die Verfolgungsjagd abbrechen, auch hier wird das Bild von enthemmten Jugendgangs gemalt, die durch Tilidin in einen Gewaltrausch kommen. Man will sogar dem Erfurter Amokläufer Robert Steinhäuser den Konsum von Tilidin nachgewiesen haben, obwohl sich in dessen Körper nie Spuren des Medikaments hatten finden lassen. In der aktuellen Fassung des Beitrags bittet man um Entschuldigung für den Fehler.

Kein Problem, wie die vielen anderen Horrordrogen wird auch Tilidin in den Medien-Archiven verschwinden. Heraus gezerrt werden sie immer wieder dann, wenn man eine illegale Handlung auf den Einfluss einer Droge reduzieren will. Anfang der 80er liefen die Städte Gefahr, zu Crack-Ghettos zu verkommen. Später flogen Halberwachsene mit Hilfe von Nachtschattengewächsen ihren Horrortrip in Bodennähe, zwischendrin suhlten sich Pilzfans durch die Grasnarben vollgekackter Äcker ­ und stürzten sich von Hochäusern. Widersinnig wirken dann neuere Artikel, die über therapeutische Kräfte des Pilzwirkstoffs Psilocybin berichten. Ist alles also doch nur eine Frage von Set und Setting? Es ist halt so, mit der Faszination und Angst vor Rauschdrogen lässt sich die Auflage steigern. Wenn man das dann noch mit Sex und Prominenz verwebt, steht die Story. Siehe Michel Friedman und die vielen andere Celebrities aus der Rüsselfraktion.

Tilidin ist nur das chemische Sahnehäubchen auf einem bewusst aggressiv geführten und erlebten Lebensalltag

Der Vorgänger vom heutigen Tilidin wurde als Valoron Anfang der 70er Jahren auf den Markt gebracht. Das Schmerzmittel war beliebt bei Heroinkonsumenten, Christiane F. berichtete. Um den intravenösen Gebrauch von Valoron zu unterbinden, fügte der Hersteller ab 1978 eine Substanz bei, die bis heute bei Opiat-Überdosierung eingesetzt wird: Naloxon. Damit entstand eine Mischung aus konkurrierenden Substanzen, denn während Valoron ein klassisches Opioid ist hebt Naloxon diese Wirkung teilweise wieder auf. Allerdings ist dieses Naloxon bei der oralen Einnahme von niedrigen Dosen kaum wirksam.

Heute ist der Patentschutz für Tilidin abgelaufen, die Pharma-Unternehmen dürfen sich austoben. Krewel Meuselbach stellt es unter dem Namen "Andolor" her, Mundipharma nennt es "Findol", Grunenthal bezeichnet ihre Tropfenform als „Gruntin“. Auch Ratiopharm, Stada und die anderen Generika-Spezialisten haben ihr Tilidin-Produkt auf dem Markt. Die immer wieder interessante Frage ist nur, wann wird aus dem zugelassenen Schmerzmedikament das "Teufelszeug" (Frontal 21)?

Tilidin sediert in niedrigen Dosen nur gering. Durchaus stellt sich allerdings die bekannte Opioid-Wirkung ein: Wattiges Wohlbefinden, warmes Körpergefühl, Selbstzufriedenheit. Konsumenten berichten von einer klaren Wirkung ohne die eher dumpfen Effekte der Opiate und Opioide. Von stimulierenden Effekten oder gar aggressiven Konsumenten weiß die Fachliteratur wenig zu berichten.

Wie bei jeder Droge wird erst durch die Berücksichtigung der äußeren Begleitumstände die Wirkung klar. Tilidin ist bei einer Generation von sowieso gewaltbereiten Jugendlichen beliebt. Die Melange aus Frust und Lust auf Grenzerfahrungen ergibt eine körpereigene Grundchemie der Aggression. Zusammen mit der beliebten Koffeinschelle Red Bull und Alkohol ergibt sich die probate „Need for Speed“-Mischung. Cool, aber getrieben, furcht- und schmerzlos, merkbefreit. Auch die nun durch die Medien gezerrten, namenlosen Delinquenten leben in der polytoxomanen Gesellschaft, die für jede Gelegenheit ihr Mittelchen nutzt ­ und weil es so viele Gelegenheiten gibt auch kaum noch genau weiß und wissen möchte, welche Ingredienzien der innere Cocktail gerade aufweist.

Anders formuliert: Tilidin ist nur das chemische Sahnehäubchen auf einem bewusst aggressiv geführten und erlebten Lebensalltag. Frauen sind „Nutten“, der Rest des „verfickten“ Lebens schwankt stets zwischen „krass“ und „beschissen“. Ordinäres Mackertum, Konfrontationslust und sprachliches Gebollere gehen Hand in Hand. Zack die Bohne. Wo bleibt Sprachkommissar Wolf Schneider, der den verwirrten Zöglingen Einhalt gebietet? Tilidin gibt das letzte Quäntchen Abgebrühtheit, die finale Scheißegal-Haltung, die von den Männern als angenehm empfunden wird. Dazu passt die schmerzstillende Wirkung, die der Polizei bei Verhaftungen Sorge bereitet, weil hochdosierte Tilidinkonsumenten schwer zu bändigen sind. Stärker als Paracetamol, nur ein Fünftel der Wirkung von Morphin, dazu ein zugelassenes Arzneimittel, das klingt nach der idealen Aufmischerdröhnung.

Die Normaldosis liegt zwischen 25 bis 50 mg, aber diese Dosierung wird anscheinend gerne überschritten. Daran zeigt sich die Unterschätzung der möglichen Toleranzentwicklung. Belastbare Statistiken existieren nicht, selbst nicht für den Berliner Raum, auf den sich das Phänomen bisher zu beschränken scheint. Sicher, man berichtet von Rezeptfälschungen, die auch in anderen Städten zugenommen hätten. Aber das wird seit drei Jahren behauptet. "Auch in Hamburg häufen sich nach Angaben der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände die fingierten Verschreibungen", schreibt die Welt. Deren Sprecherin Sprecherin Ursula Sellerberg will das auf Nachfrage von Telepolis "so nie gesagt haben". Der Verband erstelle keine Statistiken darüber, welche Rezepte wie oft gefälscht werden. Als Straftat lande das bei der Polizei. Die wiederum unterscheidet nicht nach Arzneimittelklassen.

Sollte sich das Phänomen noch etwas halten, so lässt sich voraussagen, dass die übliche Klaviatur angeschlagen wird. Tilidin landet dann trotz unsicherer Beweislage seiner Missbrauchsausbreitung im Betäubungsmittelgesetz und damit auf dem Schwarzmarkt, wo es dann einfacher als bisher zu besorgen sein wird.