Schottland: Kampf um Unabhängigkeit ist weiter Thema
Versprechungen an die Schotten werden nicht eingehalten, die SNP ist weiter im Aufwind und widersetzt sich der geplanten "Kopfsteuer"
Die Furore über das schottische Unabhängigkeitsreferendum ist vorbei. Die Weltpresse ist aus Schottland verschwunden. Die britische Politik hat einen Stoßseufzer der Erleichterung abgegeben. Das Vereinigte Königreich scheint gerettet, man geht zur Tagesordnung über. Doch am 12. Oktober nahmen tausende Menschen an einer Kundgebung des Unabhängigkeitslagers in Glasgow teil. Die Botschaft ist klar: Das Thema wird nicht verschwinden. Der Kampf für eine Unabhängigkeit Schottlands wird weiter geführt.
Lange Zeit hatte die britische Politik dem Referendum mit Langeweile entgegengesehen. Doch als eine Meinungsumfrage das Unabhängigkeitslager knapp in Führung liegen sah, brach Panik aus. Der Parlamentsbetrieb wurde unterbrochen. Alle Spitzenpolitiker wurden nach Schottland beordert, um das Ruder herumzureißen.
Und es wurden verzweifelte Versprechen gemacht. Gordon Brown, ein Politiker der Labour-Partei ohne gewähltes Amt und Würden zwang die Parteichefs der britischen Konservativen, Liberaldemokraten und der Labour Partei zu einem in der schottischen Tageszeitung Daily Record veröffentlichten Schwur. Darin wurden weit reichende Autonomierechte für Schottland versprochen.
Schon am frühen Vormittag nach dem Referendum war dieser Schwur nicht mehr das Papier wert, auf dem er geschrieben stand. Premierminister David Cameron erklärte, der Schwur könne nur mit einer neuen Verfassungsregelung für das gesamte Vereinigte Königreich Wirklichkeit werden. Vor allem müssten regionale Rechte für den englischen Landesteil verwirklicht werden. Dazu gehört nach Vorstellung der Konservativen, schottische Abgeordnete nicht mehr über englische Fragen abstimmen zu lassen. Über die Umsetzung des Schwurs und die Schottlandfrage wurde am 14. Oktober im britischen Unterhaus erstmals debattiert. Cameron blieb der Debatte fern.
Vor dem Referendum kämpfte Cameron energisch darum, die "Union" zu erhalten. Die Union steht hier als Synonym für Großbritannien als starken, zentralistisch in Westminster regierten Nationalstaat. Die jetzige Politik der Konservativen führt diese Vorstellung ad absurdum. Ihnen geht es um langfristigen Machterhalt. Die große Mehrheit ihrer Abgeordneten sitzt in englischen Wahlkreisen. In Schottland haben die Konservativen eine einzige Abgeordnete.
Es ist für die Konservativen also schwierig, sich als eine Partei zu präsentieren, die für ganz Großbritannien sprechen kann. Doch deren rechtskonservatives Programm hat Auswirkungen auf die ganze Insel. Dessen wirtschaftlicher Pfeiler ist die Weiterführung der Austeritätspolitik. Auf dem jüngsten konservativen Parteitag wurden im Falle eines Wahlsieges für die kommenden Jahre 25 Milliarden zusätzlicher Einsparungen verkündet, deren Lasten vor allem die Bezieher des gesetzlichen Mindestlohns zu spüren bekommen sollen. Ihnen wird zwar die Einkommenssteuer erlassen. Gleichzeitig werden eine Reihe von Sozialleistungen zur Einkommensaufstockung ersatzlos gestrichen.
Der andere Pfeiler konservativer Politik ist eine zunehmende Entdemokratisierung. Bereits die jetzige Regierung hat geheime Gerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit eingeführt. Innenministerin Theresa May kündigte auf dem Parteitag einen Ausbau geheimdienstlicher Eingriffsrechte in die Privatsphäre der Menschen an. Außerdem soll das Unterhaus zukünftig gegen Beschlüsse des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes Einspruch einlegen dürfen.
Auch die oppositionelle Labour-Partei wird in Schottland Probleme bekommen. Die Labour-Partei stellte die Führung der unionistischen "better together"-Kampagne. Der ehemalige Finanzminister Alistair Darling war deren Vorsitzender. Am Tag nach dem Referendum wurden in jedes schottische Wohnzimmer Bilder ausgestrahlt, auf denen man sehen konnte, wie sich Politiker der Labour und der Konservativen Partei freudig um den Hals fielen.
Der politische Preis für Labour ist hoch. Denn die größten Mehrheiten erzielte das Unabhängigkeitslager in den Arbeitervierteln, unter Jugendlichen und Erwerbslosen. Das sind genau die traditionellen Labour-Hochburgen, die in den kommenden Wahlen voraussichtlich an die Scottish National Party fallen werden.
Hinzu kommt das klare Bekenntnis der Labour-Partei zur Weiterführung der Sparpolitik. Auf dem Labour-Parteitag in Manchester erklärte Schattenfinanzminister Ed Balls, dass es unter Labour keine Neuverschuldung geben werde. Im Gegenteil versprach auch er, ähnlich wie George Osborne, weitere Einsparungen.
Die "roten Tories" machen sich weiter unbeliebt
Doch das Unabhängigkeitsreferendum war in den Augen vieler Wähler eine Möglichkeit, einen Schlag gegen die Sparpolitik der Westminster Parteien zu setzen. Die 45%, die für die Unabhängigkeit stimmten, haben für Labour nur noch den Begriff der "roten Tories" übrig. In Schottland arbeitet die Labour-Partei daran, diesen Ruf noch zu verstärken. Sie hat eine der verhasstesten Erfindungen der Konservativen aus der Thatcher Ära wieder aus der Versenkung geholt: die Poll Tax.
Diese Kopfsteuer wurde Ende der 1980er Jahre zunächst in Schottland und später in ganz Großbritannien ausgerollt. Jeder Einwohner sollte diese so genannte Gemeinschaftsabgabe zur Finanzierung kommunaler Dienstleistungen zahlen. Jeder sollte unabhängig vom Einkommen denselben Betrag zahlen.
Dagegen entwickelte sich zunächst in Schottland und später in ganz Großbritannien eine Revolte. 18 Millionen Menschen zahlten die Steuer nicht. Gerade unter den ärmsten Bevölkerungsschichten war die Nichtbezahlungskampagne am stärksten verwurzelt. Letztendlich musste Thatcher wegen der Bewegung gegen die Poll Tax ihr Amt niederlegen.
Bis heute ist eine unbekannte Zahl von Menschen in Großbritannien nicht im Wahlregister gemeldet um einer Strafverfolgung wegen der Nichtbezahlung der Kopfsteuer zu entgehen. Für das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland registrierten sich fast 100% aller Wahlberechtigten zur Wahl.
Jetzt wollen die schottischen Stadtverwaltungen die ausstehenden Steuergelder eintreiben. Das verkündete der Vorsitzende des schottischen Städtetages David O'Neill. Er hofft auf Einnahmen im Wert von 425 Millionen Pfund. O'Neill ist ein Politiker der Labour-Partei. Sein Vorstoß wird den Ruf der Labour Partei als "rote Tories" weiter ausbauen.
Die Scottish National Party weiß dies populistisch zu nutzen. Der schottische First Minister Alex Salmond versprach, die Eintreibung der Poll Tax gesetzlich zu verhindern. Dagegen protestierte umgehend die Konservative Partei, die dieses Versprechen als Aufruf zur Steuerhinterziehung brandmarkte. Das wird wiederum der SNP gefallen, weil den schottischen Wählern dadurch einmal mehr die Allianz zwischen Labour und den Konservativen unter die Nase gerieben wird.
Die SNP sieht sich als die große Gewinnerin des Unabhängigkeitsreferendums
Die SNP konnte von der Politisierung in der Bevölkerung mit am meisten profitieren. Zehntausende Menschen sind der Partei in den letzten Wochen beigetreten. Die Mitgliedschaft liegt bei 80.000, Tendenz steigend. Doch zwischen den Hoffnungen der neuen Mitglieder und der Realpolitik der Partei liegt ein tiefer Graben, der Potential für Konflikte birgt.
Denn auch wenn die SNP sich als soziale Kraft zu präsentieren versucht, ist sie doch in der Logik der Austeritätspolitik verhaftet. Das von der SNP zu verantwortende schottische Budget für das Jahr 2015/16 sieht Einsparungen in Höhe von 500 Millionen Pfund vor. Die SNP möchte sich so als eine Regierung präsentieren, die für einen schlanken und effizienten Staat steht.
Die SNP hat jetzt 11.000 Mitglieder in ihrer Gewerkschaftsgruppe. Viele dieser Gewerkschafter arbeiten für Stadtverwaltungen und öffentliche Dienstleistungen, die von den beschlossenen Einsparungen betroffen sein werden. Der schottische Gewerkschaftsbund TUC äußerte sich enttäuscht über das Budget. Am 18. Oktober findet in Glasgow, genau wie in London und Belfast, eine Großdemonstration gegen die Austeritätspolitik und für Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst statt. Dieses Thema wird bestimmendes Element schottischer und britischer Politik bleiben.
Derweil kann sich die SNP zurecht darüber aufregen, vom Westminster-Establishment an die Seitenlinie verdrängt zu werden. So will der Staatssender BBC die rechtspopulistische UKIP-Partei zukünftig als vierte politische Kraft nach Konservativen, Labour und Liberaldemokraten zu Fernsehdebatten einladen. Begründet wird das mit dem einen Parlamentssitz, den die Partei vor kurzem in Clacton erringen konnte. Der SNP, die bei den kommenden britischen Parlamentswahlen im Mai 2015 zur dominierenden Kraft in Schottland aufsteigen könnte, wird ein solcher Platz verwehrt.
Der SNP kann das sogar helfen. Je mehr sie ausgegrenzt wird, desto stärker werden die Zweifel jener, die gegen die Unabhängigkeit stimmten, weil sie den Versprechungen aus London geglaubt hatten. Doch auch die SNP tanzt auf einem Vulkan, dessen Temperament von den sozialen Verwerfungen in ganz Großbritannien bestimmt wird. Ihre langfristige Popularität steht und fällt damit, ob sie Trägerin der Vision eines sozial gerechten Schottlands sein kann. Das ist zweifelhaft.
Großbritannien ist nach dem Referendum endgültig in eine Ära der Instabilität eingetreten. Keine Partei kann eine stabile Mehrheit erringen. Die SNP hat derzeit sechs Abgeordnete in Westminster. Diese Zahl wird sich wahrscheinlich nach den Parlamentswahlen im Mai erhöhen. Die SNP Abgeordneten werden dann in ein Parlament einziehen, in dem neben Labour, Tory und liberaldemokratischen Vertretern auch Abgeordnete von UKIP und Grünen sitzen. Dann könnte die SNP zu einem Zünglein an der Waage werden.