Schulden zur Eindämmung des Neoliberalismus

Seite 2: Ruinöser Wettbewerb

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Einerseits werden dem Fiskus beträchtliche Summen entzogen, andererseits müssen staatliche Vorleistungen erbracht werden. Der finanzielle Druck nimmt zu, sodass Regierungen sich noch eifriger um Privatinvestoren und den Verbleib von Großsteuerzahlern bemühen, um die gewachsenen Belastungen zu stemmen. Um Finanzlöcher zu stopfen, veräußern sie öffentliches Eigentum, wodurch sie Einnahmequellen verlieren und auf teure private Dienste angewiesen sind. Auf Dauer lassen sich Steuerausfälle und höhere Ausgaben nur dadurch kompensieren, dass der Rest der Bevölkerung stärker zur Kasse gebeten wird und gesellschaftliche Leistungen reduziert werden.

Wenn Kapitalgesellschaften bei der Suche nach optimalen Produktionsstandorten politische Entscheidungsträger quasi erpressen, sehen sie sich selbst durch die Konkurrenz getrieben. Indessen befinden sie sich gegenüber den Staaten in einer starken Position, weil ein weltweites Überangebot an Fertigungsplätzen für nahezu alle produktiven Tätigkeiten besteht. Zuweilen lohnt sich auch ein direkter Einkauf bei Billigproduzenten anstelle eigener Produktion. Allein ein kräftiges Wachstum der globalen Endnachfrage könnte das Investitionsinteresse so weit anheben, dass sich die Kapazitäten an verfügbaren Standorten und Arbeitskräften großenteils absorbieren lassen.

Die wachsende Ungleichheit erweist sich jedoch als entscheidende Bremse. Die Umverteilung von Arm zu Reich begünstigt jene Privathaushalte, die ihren Konsum bereits zuvor maximal befriedigen konnten. Ihre zusätzlichen Einkünfte wirken kaum nachfragefördernd, vielmehr wandern sie in die Anlagesphäre ab. Auf der anderen Seite stehen nicht nur Staaten und Kommunen unter dem Druck ruinösen Wettbewerbs, sondern auch die Bezieher geringer und mittlerer Einkommen. Rationalisierung der Arbeitsabläufe, Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer und Outsourcing schröpfen Lohnabhängige wie auch Kleinunternehmer und Teile des Mittelstands.

Regierungen sind zunehmend vom Wohlwollen der Wirtschaftselite abhängig. Bei wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen besteht häufig kein Unterschied, ob Politiker wegen Korruption oder als selbst Vermögende aus Eigeninteresse handeln oder ob sie sich wider Willen externen Sachzwängen unterwerfen. Es existieren dennoch Spielräume, die Letztere im Interesse der Mehrheit der Bürger zu nutzen bemüht sind. Diese sind meistens nicht nur gering, sondern auch mit vielen Hindernissen gespickt. Wird eine kritische Schwelle überschritten, sind Störaktionen der Kapitalseite zu erwarten, wodurch die politische Handlungsfähigkeit weiter eingeschränkt wird. Den politischen Führungen verbleiben zwei zentrale Optionen: zum einen die Inkaufnahme schlechterer Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung, zum anderen die wachsende Finanzierung der Staatsausgaben durch Schulden. Die erste Alternative hat vielerorts zu vermehrten Protestaktionen geführt. Nationalistische und fundamentalistische Kräfte, aber auch linke Oppositionsbewegungen, konnten Anhänger und Stimmen gewinnen, während die etablierten Parteien Wahlschlappen erlitten. Durch Beschreiten des zweiten Wegs haben sich die Staatsschulden weltweit erhöht.

Mittels einer weiteren Alternative, der Steigerung des Exports, konnten zwar einige Nationen ihre Schuldenquote senken. Dies wurde allerdings durch Abwälzen der eigenen Finanzsorgen auf die Handelspartner erreicht. So mussten in der EU-Peripherie Betriebe schließen, deren Fabrikate nicht mit Importwaren aus Deutschland konkurrieren konnten. Indem die Bürger Arbeitseinkünfte und der Fiskus Steuereinahmen verloren, wurde der vorhandene Finanzdruck nochmals verstärkt. Es sollte nicht verwundern, dass Forderungen nach nationaler Abschottung in den betroffenen Ländern an Popularität gewonnen haben.

Politiker unter wachsendem Druck

Je nach Weltregion hat der Neoliberalismus unterschiedliche Auswirkungen. In Industriestaaten sind es Leistungsdruck, Zwang zu höherer Flexibilität, Prekarisierung, Sozialabbau und Qualitätsminderung infolge Privatisierung. In ärmeren Ländern werden subsistenzwirtschaftliche Strukturen zerstört, lokale Produktionsweisen verdrängt, Monokulturen errichtet und Landgrapping praktiziert. Die Menschen werden in die wachsenden Slumgürtel der Großstädte getrieben, wo sie angesichts mangelnder Beschäftigungsmöglichkeiten extremer Ausbeutung ausgeliefert sind.

Obwohl tendenzielle Verarmung und Erosion der Mittelschicht allmählich von statten gehen, bleiben sie auf Dauer nicht unbemerkt. Gleichgeschalteten und entpolitisierten Medien gelingt es nur begrenzt, von Problemen abzulenken, die Lage zu beschönigen und individuelle Rückschläge wie Jobverlust persönlichem Versagen zuzuschreiben. Wenn sich Unzufriedenheit ausbreitet, geht es nicht allein um materielle Einschnitte. Gleichwohl leiden Bürger unter Leistungsängsten, Zukunftssorgen und geschwächtem sozialen Zusammenhalt.

Proteststimmung artikuliert sich nicht nur in Straßenaktionen und beim Wahlverhalten, sondern auch in Gestalt zunehmender Auswanderung. Seit der Wende Anfang der 90er Jahre hat jeder sechste Este, jeder fünfte Bulgare und jeder vierte Lette sein Land verlassen. Noch größer wäre der Zustrom aus Afrika, gäbe es keine Hürden für die Immigration. Allein aus Nigeria würden mit 74 Prozent der Volljährigen bis zu 100 Millionen Menschen sofort nach Europa oder Nordamerika umsiedeln.

Auf vergleichbaren Widerstand stoßen Versuche, die Finanzmittel für ökologische Zwecke zu kürzen. Schon jetzt sehen sich die Regierenden dem Vorwurf ausgesetzt, nicht genügend zur Abwehr von Klimaerwärmung, Umweltbelastungen und Zerstörung der Artenvielfalt zu unternehmen. Mit ähnlich lautstarker Kritik wird auf das Ansetzen des Rotstifts für Bereiche wie Bildung, öffentlichen Verkehr und Gesundheit reagiert.

Bei Ausgaben für Verteidigung und innere Sicherheit ist es die Elite selbst, die sich gegen Sparmaßnahmen sträubt. Eine Aufstockung der Mittel gilt als unverzichtbar, um soziale Unruhen, Aufstände und nationale Alleingänge abzuwehren. Damit wachsendem Widerstand begegnet werden kann, werden Gesetze zur "Zivilverteidigung" wie der Patriot Act verabschiedet und wird das Völkerrecht zunehmend ausgehöhlt. Dennoch sind Regierungen allgemein bemüht, gewaltsame Konfrontationen zu vermeiden, da die Kontrolle leicht entgleiten kann. Zudem verbleibt noch ein Mittel, um die durch neoliberale Zwänge hervorgerufenen Belastungen zu kompensieren: die öffentliche Verschuldung.

Kapitalmarktkredite nur bei ausreichender Bonität

Verfügt ein Wirtschaftsakteur über ausreichende Bonität, kann er Finanzierungsprobleme durch Kreditaufnahme lösen. Um die Mittel für Tilgung und Zinsen aufbringen zu können, muss er entweder seine Ausgaben zu einem späteren Zeitpunkt reduzieren oder zusätzliche Einkünfte erzielen. Der erste Fall betrifft Konsumkredite an Privathaushalte, der zweite Unternehmenskredite für Investitionen, die höhere Erträge ermöglichen, aus denen der Schuldendienst finanziert wird.

Staaten und Kommunen verwenden Kreditmittel sowohl für konsumtive als auch für investive Zwecke. Dient die Schuldenaufnahme der Finanzierung öffentlicher Leistungen, müssen diese wie im Fall der Konsumentenkredite später eingeschränkt werden, um die Schulden bedienen zu können. Soweit eine entsprechende Belastung der Bürger nicht politisch durchsetzbar ist, bleibt als einzige Alternative die Neuverschuldung auf jeweils höherem Niveau.

Wenn öffentliche Investitionen etwa in die Infrastruktur, für Forschungszwecke oder als finanzielle Anreize für die Privatwirtschaft getätigt werden, dann werden Wachstum und zusätzliche Steuereinnahmen angestrebt. Ob der Einsatz der Kreditbeträge letztlich rentabel war, lässt sich kaum ermitteln. Eine Amortisierung ist auch nicht zwingend, da öffentliche Haushalte im Gegensatz zu Unternehmen keinem Ertragsdruck unterliegen. Mitunter gelingt es angesichts vergleichbarer Anstrengungen anderer Länder nicht einmal, den Status quo zu erhalten.

Die Fremdfinanzierung von Staaten erfolgt durch Emission von Anleihen, die auf dem Kapitalmarkt angeboten werden. Deren Käufer sind reiche Privathaushalte, institutionelle Anleger, Fonds und andere Finanzakteure. Da mit zunehmender Verschuldung die Fähigkeit zur Tilgung abnimmt, sinkt die Bonität des Kreditnehmers, sodass höhere Zinsen zu entrichten sind. Ohne diesen Risikoaufschlag würden Anleger die Anleihen meiden. Kräftig wachsende Schulden sind außerdem ein Signal für bevorstehende Zinsanhebungen, was eingepreist werden muss, um Käufer zu gewinnen.

Dem scheint der Tatbestand zu widersprechen, dass Staaten mit vergleichsweise hoher Bonität ihre Schuldentitel aktuell zu Negativzinsen absetzen können. Neben Zentralbanken sind die Käufer überwiegend Rentenversicherungen und andere institutionelle Anleger, die zu deren Erwerb gesetzlich verpflichtet sind. Da die entstehenden Einnahmeausfälle auf längere Sicht den Sozialkassen zur Last fallen, werden Stimmen lauter, die eine Lockerung der Regeln fordern. Mehrere skandinavische Pensionsfonds haben diesen Schritt bereits vollzogen.