Schulterschluss mit Putin

Vieles wird anders im Kontext der Terrorismusbekämpfung

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Der russische Präsident Wladimir Putin spielt für die Nato eine wichtige Rolle in der globalen Koalition gegen den Terrorismus und nutzt die Gunst der Stunde, um den Tschetschenien-Krieg als Antiterror-Kampf zu verkaufen. Dabei trifft er bei EU und Nato auf offene Ohren.

Der russische Präsident Wladimir Putin sucht dieser Tage historische Auftritte. Als erster russischer Präsident sprach er am 25. September vor dem Deutschen Bundestag - in fließendem Deutsch. Am 3. Oktober besuchte er als erstes russisches Staatsoberhaupt das Nato-Hauptquartier in Brüssel. Und wo er hinkommt, scheint er den Ton anzugeben. Das Nato-Treffen etwa wollte Generalsekretär Robertson zwar lieber an einem neutralen Ort stattfinden lassen, doch dann wurde ihm von Russlands Außenminister Iwanow überraschend beschieden, dass der russische Präsident in die Zentrale des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses kommen werde. Robertson willigte ein, schließlich ist die Nato derzeit auf die Unterstützung Russlands angewiesen.

Viel hat sich verändert seit Präsident Putin Reisen nicht mehr unternehmen muss, um Finanzmittel für die marode russische Wirtschaft an Land zu ziehen, sondern sicher sein kann, dass er als Partner für die internationale Allianz gegen den Terrorismus umworben wird. Und Putin nutzt die Gelegenheit: Wenn der Westen wirkliche Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terror wolle, dann müsse er auch gemeinsam an der Front kämpfen, mit der Russland zu tun habe, forderte er vor dem Deutschen Bundestag. Religiöse Fanatiker hätten die Macht in der russischen Teilrepublik an sich gerissen und das Volk zur Geisel genommen. Putin erklärt seine Solidarität mit dem Vorgehen der USA und rechtfertigt dabei wie schon so oft den eigenen Krieg in Tschetschenien als Kampf gegen fundamentalistische Terroristen.

Schon vor seiner Abreise hatte er erklärt, dass Russland damit bislang allein auf weiter Flur gestanden und als einziges Land dem internationalen Terror Widerstand geleistet habe. Bis zum 11. September hatte er dafür im Westen allerdings nur herbe Kritik geerntet. Doch seit den Anschlägen in New York rückt die Welt zusammen und so übt Kanzler Gerhard Schröder beim Putin-Besuch ein weiteres Mal den Schulterschluss. Vor der Presse erklärt er, dass er ein Umdenken mit Blick auf Tschetschenien für notwendig halte und die Völkergemeinschaft zu einer "differenzierteren Bewertung" des Konflikts kommen müsse. So viel Zuspruch erstaunte sogar die Presse in Russland und die renommierte Wirtschaftszeitung Kommersant Daily kommentierte ironisch: "Bundestagspräsident Thierse begann damit, dass er sagte, Russland weiß besser als andere, welche Gefahr die islamischen Terroristen darstellen. (...) Und wie oft haben wir denen das schon gesagt! Jetzt ist es endlich angekommen."

Präsident Putin sichert den USA und der Nato seine Hilfe zu, doch umsonst ist eben nichts zu haben. Russland wird die Militäraktion der Amerikaner durch die Mitarbeit seines Geheimdienstes unterstützten, den Luftraum für humanitäre Flüge öffnen und die gegen die Taliban kämpfende Nordallianz mit zusätzlichen Waffen versorgen. Doch im Gegenzug will er verhandeln: Auf dem Tisch liegt u. a. das Thema eines Eintritts Russlands in die Nato sowie die geplante Raketenabwehr der USA. Bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union kann Putin mit Gas- und Öllieferungen an den Westen zocken. Denn die EU befürchtet, dass eine kriegerischer Auseinandersetzungen im Mittleren Osten eine neue Ölkrise mit sich bringen könnte. Russland soll die Länder der EU dann vor einer Preisexplosion und Energieengpässen bewahren. Moskau fordert dafür Kompromisse bei der bevorstehenden EU-Osterweiterung.

Währenddessen gehen in Tschetschenien - zwei Jahre nach dem Beginn des zweiten Krieges - die Kämpfe ungehindert weiter und es gibt eigentlich keinen objektiven Grund, das Vorgehen Russlands plötzlich anders zu bewerten. Noch im Juli hatte die Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen bei den militärischen Auseinandersetzungen beklagt. Auch zusammen mit der EU hatte Deutschland die Vorgehensweise Russlands in der Kaukasus-Republik bislang scharf verurteilt. Selbst wenn man Russland den Erhalt seiner territorialen Integrität zu Gute hält, so stehen die eingesetzten brutalen Mittel in keinem Verhältnis: Denn der Krieg trifft vor allem die Zivilbevölkerung, mit willkürlichen Bombardierung von Städten, Krankenhäusern, Marktplätzen und Flüchtlingskonvois. Seitens vor Ort tätiger Hilfsorganisationen stehen Vorwürfe wie ethnische Säuberung, Hinrichtung von Zivilisten, die Schrecken der Filtrationslager sowie systematische Plünderungen im Raum. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind in Tschetschenien bisher 40 000 Zivilisten ums Leben gekommen, zirka 400 000 Menschen sind auf der Flucht.

Auch das Argument der Abwehr islamistischer Terroranschläge, bei dem schon 1999 Bin-Ladin-Verbindungen ins Spiel gebracht wurden, steht womöglich auf tönernen Füßen. Die russische Regierung hatte zwar als offizielle Begründung für den zweiten Militäreinsatz in der Kaukasus-Republik auch die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau, Bujnask und Wolgodonsk genannt. Dass aber tatsächlich tschetschenische Terroristen für die Attentate verantwortlich waren, konnte Moskau nie eindeutig beweisen. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder der Verdacht auf, dass die Drahtzieher auch im Umkreis der Oligarchen oder dem trüben Milieu der Geheimdienste zu finden sein könnten.

Soll die von Schröder geforderte "differenziertere Betrachtung des Tschetschenien-Kriegs" bedeuten, dass die Geschehnisse in der Kaukasus-Republik im Nachhinein mit Nachsicht zu bedenken sind, weil es sich dabei um Terrorismusbekämpfung handelte? Sind die Tschetschenen folglich nichts weiter als islamistische Terroristen?

Hier wären wichtige "Differenzierungen" angebracht. Bevor man zum weltweiten Kampf gegen den Terrorismus ansetzt, sollte man sich doch wenigstens auf breiter Ebene darüber verständigen, was Terroristen sind und was etwa Freiheitskämpfer. Einen ersten Impuls hat hier die UNO gegeben, wo dieses Defizit am 2. September in der Generalversammlung erstmals zur Sprache gebracht wurde.

Außerdem wäre auch zu klären, welchen Status militärische Mittel künftig haben sollen. Politische Konflikte mit dem Einmarsch von Truppen lösen, so wie Russland dies recht erfolglos in Tschetschenien vorgeführt hat? Bislang galt auch bei Bundeskanzler Schröder ganz im Einklang mit dem Völkerrecht, dass militärische Mittel allenfalls ultima ratio seien. Doch seit dem 11. September wächst die Bereitschaft, Soldaten an die Front zu schicken, in beängstigendem Maße. Nachdem Großbritannien und Frankreich mehr als bereitwillig Truppen zur Verfügung stellen, hält auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Kampf gegen den Terror den baldigen Einsatz von Bundeswehrsoldaten an Bord von Nato-Schiffen oder Aufklärungsflugzeugen (Awacs) für möglich.

Im Kampf gegen den Terrorismus rückt die Welt näher zusammen und so kann Russland auch auf ökonomischer Seite Erfolge verbuchen. Wie das Internet-Magazin moskau.ru meldete, hat Russland am 1. September mit dem Irak Verträge im Wert von 40 Millionen Dollar über mehrere Jahre geschlossen. Im Rahmen des UN-Programms "Öl gegen Waren" will Russland Autos und Lastwagen in den Irak liefern. Am folgenden Tag unterzeichneten der iranische Verteidigungsminister Ali Schamhani und sein russischer Amtskollege Iwanow in Moskau einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit, über dessen Inhalt allerdings keine Details bekannt wurden. Doch da die USA und die Nato schon in der Vergangenheit mehrfach gegen den Verkauf sensibler Raketentechnik an den Iran protestiert hatten, lobten Iwanow und Ali Schamhani unisono die jeweiligen Anstrengungen der Gegenseite im Kampf gegen den Terrorismus und den Drogenschmuggel, dessen Quelle Afghanistan sei.