Schutz der Biodiversität: Die Illusion einer Lösung
"Durchbruch" beim COP15: 193 Nationen haben sich in Montreal auf ein Abkommen geeinigt. Es enthält hochgesteckte Ziele – sonst nichts. Was kann die zwischenstaatliche Umweltschutz-Diplomatie, außer Zerstörung in geregelte Bahnen lenken?
"Wir. Haben. Ein. Abkommen." So feierte die EU-Kommission das Verhandlungsergebnis, das spät in der Nacht zum 20. Dezember verkündet wurde. "Geschafft, nur 4 Stunden geschlafen, aber glücklich!", twitterte die Bundesumweltministerin Steffi Lemke.
Der Vertrag sei ein "historischer Moment", "ein Meilenstein für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen weltweit", schrieb die Ministerin.
Regierungsvertreter, Wissenschaftler und NGO-Delegierte zeigten sich zufrieden, manche sprachen sogar von einem "Durchbruch".
Was fehlt
Der neue Vertrag definiert insgesamt 23 Ziele. 30 Prozent der Meere und der Landfläche sollen Naturschutzgebiet werden, umweltschädliche Subventionen sinken, die Ausbreitung invasiver Arten gebremst und der Einsatz von Pestiziden und gefährlichen Chemikalien gesenkt werden. Aber der Vertragstext enthält keine Bestimmungen für Kontrollen oder Sanktionen, auch keine messbaren Kriterien, um Erfolg oder Misserfolg zu beurteilen.
Darauf angesprochen verteidigte die Bundesumweltministerin das Abkommen mit dem Hinweis, zum ersten Mal seien darin "konkrete Zahlen" enthalten. Sollten die Vertragsstaaten ihre gemeinsame Absichtserklärung aber nicht erreichen, bleibt dies folgenlos. Papier ist geduldig. Tatsächlich kann von einem Erfolg in Montreal nur sprechen, wer sich hauptsächlich in der Parallelwelt der internationalen Umweltschutz-Diplomatie aufhält.
Nach dem Gipfeltreffen ist vor dem Gipfeltreffen
Die jahrelangen Verhandlungen und die institutionalisierte Begleitforschung beschäftigen Wissenschaftler, Diplomaten und Funktionäre staatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Nach dem Gipfeltreffen ist vor dem Gipfeltreffen, dazwischen gibt es einiges zu tun. In dieser Sphäre wird um Formulierungen gerungen und "ehrgeizige Ziele" als Sieg gefeiert, als seien sie ein Selbstzweck.
In Wirklichkeit gibt es keinen Grund, warum es den neuen 23 Zielen von Montreal aus dem Jahr 2022 anders ergeben soll als den alten 20 Zielen von Aichi aus dem Jahr 2010: Sie wurden ausnahmslos verfehlt.
Die deutschen Vertreter der Umweltforschung, die aus Kanada zurückkehren, ziehen ein zwiespältiges Fazit. So spricht Katrin Böhning-Gaese, die Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, von einem "überraschend großen Erfolg", betont aber gleichzeitig, dass es keine konkreten Festlegungen gibt:
Viele Formulierungen sind schwammig, viele der Indikatoren qualitativ und damit nicht messbar. Ein Nicht-Erreichen der Ziele ist nicht mit Sanktionen belegt. Das Abkommen hat keine scharfen Zähne.
Katrin Böhning-Gaese
Auch die Ökosystemforscherin Almut Arneth vom Karlsruher Institut für Technologie beklagt die schwammigen Formulierungen und das Fehlen quantifizierter Schritte. "Dies macht die ohnehin nicht einfache Umsetzung noch um einiges unwahrscheinlicher."
Immerhin ein kleiner Moment
Immerhin sei sie erleichtert, dass überhaupt ein Vertrag zustande gekommen ist. "Das war zu Beginn des Treffens durchaus nicht klar."
Die Umweltrechtlerin Sabine Schlacke von der Universität Greifswald wiederum betont, es sei "bedauerlicherweise nur vereinzelt gelungen, quantifizierte Ziele festzulegen", aber dennoch würden die Ziele von Montreal "auch ohne völkerrechtliche Bindungskraft eine Signalwirkung für die Weltgemeinschaft entfalten und faktisch den Handlungsdruck auf die Staatengemeinschaft erhöhen."
Im Vorfeld der Weltnaturkonferenz in Montreal hieß es oft, der Artenschutz brauche einen "Paris-Moment". Auf der 21. Klimakonferenz in Paris verpflichteten sich die Staaten, ihre nationalen Beiträge zum Klimaschutz festzulegen.
Verbindliche Vorgaben, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken, enthält das Abkommen von Paris nicht. Dennoch wird die COP21 als politischer Erfolg gehandelt, weil die Vertragsstaaten wenigstens regelmäßig über ihre klimapolitischen Maßnahmen berichten müssen.
Die Messlatte für Erfolg oder Misserfolg der internationalen Umweltschutzdiplomatie hängt also ziemlich tief. "Leider muss man darauf verweisen, dass im Jahr 2022 – sieben Jahre nach der Pariser Klima-COP in 2015 – die menschlichen CO2-Emissionen munter weiter ansteigen", sagt Almut Arneth.
Von daher hilft auch ein "Paris-Moment" nicht viel weiter, wenn dann nicht gehandelt wird.
Uneinige Staatengemeinschaft
Dass die Verhandlungen auf der COP15 schwierig werden würden, stand von vornherein fest. Die UN-Konferenzen bestehen aus zwei Teilen: den Vorverhandlungen, in denen Positionen und Formulierungen abgestimmt werden, und dem sogenannten High-Level-Segment, bei dem die angereisten Regierungsvertreter zustimmen oder ablehnen.
Kurz vor dem Eintreffen der Staatschefs in Montreal drohten die Verhandlungen, an der Finanzierungsfrage zu scheitern.
Seit der Klimakonferenz in Ägypten im November (COP27) entwickelt sich das Geld zu einem wesentlichen Streitpunkt. Dort ging es vor allem um die Höhe des Ausgleichsfonds für "Verlust und Zerstörung" durch die Folgen des Klimawandels (loss and damage).
Die Zahlungen sollen den Ländern zugutekommen, die am stärksten vom Klimawandel betroffenen sind. Nationen wie Bangladesch oder Pakistan fordern, dass insbesondere die Länder für Anpassungsmaßnahmen und Schäden bezahlen, die historisch für die gegenwärtige Kohlenstoff-Konzentration in der Atmosphäre und damit für den Klimawandel verantwortlich sind.
So nachvollziehbar diese Forderung ist, sie trägt nicht dazu bei, den weiteren Anstieg der Treibhausgase einzudämmen. Gelder werden umverteilt, aber die Klimakrise spitzt sich weiter zu.
Eine ähnliche Konstellation wiederholte sich in Montreal. Länder mit sehr artenreichen Naturräumen haben erkannt, dass diese natürlichen Ressourcen etwas wert sein könnten.
Interessengegensätze: Nicht mehr trennscharf zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden
Die subsaharischen Staaten Kamerun, Uganda und die Demokratische Republik Kongo (DRK), außerdem Indonesien und Brasilien, wollten auf der COP15 erreichen, dass ein eigener Fonds für Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität eingerichtet wird, zusätzlich zu der bestehenden Globalen Umweltfazilität der UN.
Damit konnten sie sich nicht durchsetzen. Während der letzten Verhandlungsnacht spielten sich unwürdige Szenen ab, als trotz Protest der zentralafrikanischen Regierungen von der chinesischen Verhandlungsführung eine Einigung verkündet wurde. Entsprechend der eingeübten Dramaturgie begannen die Teilnehmer zu applaudieren, der Widerstand Ugandas und der DRK wurde übergangen.
Ein Vertreter von Kamerun sprach daraufhin von "Betrug", ein Vertreter Ugandas von einem "Putsch". Sabine Schlacke von der Universität Greifswald sagt, "dass am Ende Unklarheit bestand, ob der Beschluss überhaupt ordnungsgemäß zustande gekommen ist".
Das Abkommen enthält zahlreiche Formelkompromissen, wichtige Streitpunkte wurden vertagt. "Ich hatte den Eindruck, dass alle Delegierten der COP15 müde von vier Jahren sehr zäher Verhandlungen sind", berichtet Yves Zinngrebe vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung.
"Es ging jetzt zum Schluss nur noch darum, ein Abkommen zu haben."
Es gebe "grundlegende Probleme auf internationaler Ebene", darunter "die fehlende Aufarbeitung kolonialer Beziehungen, die bei den Verhandlungen von Finanztransfers immer wieder aufflammen".
Die Grenzen und Interessengegensätze verlaufen dennoch nicht mehr trennscharf zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Länder mit starker Exportindustrie wie China oder Agrarexporteure wie Brasilien tragen erheblich zum Klimawandel und der schwindenden Biodiversität bei, aber sie gehören weiterhin zu den Empfängern von Finanzhilfen.
"Das kleinere Übel"
Von den ärmsten Länder dagegen, die vor allem Rohstoffe und einzelne Agrargüter exportieren, wird sozusagen erwartet, dass sie gleichzeitig den Weltmarkt beliefern und andererseits mit Umweltschutz-Maßnahmen die Ökosystemleistungen der Zukunft sichern.
Die Einigung von Montreal sieht vor, dass jährlich 30 Milliarden Dollar für den Schutz der Biodiversität an die Entwicklungsländer fließen. Die NGO-Szene hat sich mit aller Kraft dafür eingesetzt, diese Summe nach oben zu treiben.
Aber der Geldtransfer nutzt nichts, wenn er dysfunktionalen Regierungen und korrupten Behörden zugutekommt. Zahlreiche Naturschutzgebiete bestehen lediglich auf dem Papier. So treibt beispielsweise die Regierung der DRK Gas- und Ölbohrungen im Virunga-Nationalpark voran.
Die meisten Umweltschützer verteidigen die UN-Abkommen als alternativlos – das kleinere Übel gegenüber einer ungeregelten Aneignung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Eine nüchterne Bilanz zeigt allerdings, dass die bisherigen internationalen Verträge diese Zerstörung lediglich in geregelte Bahnen lenken.
Würden ohne die Verträge mehr Treibhausgase ausgestoßen, mehr Pestizide angewandt und größere Waldflächen abgeholzt? Zugespitzt gefragt: Ist die Umweltschutz-Diplomatie unter dem Dach der UN überhaupt Teil der Lösung oder vielmehr Teil des Problems?
Mittlerweile geht es auf der großen Bühne der Weltpolitik zu wie auf einem Bazar: Die Staaten schachern mit den natürlichen Ressourcen, als handle es sich sie ihr legitimes Eigentum. Die Regierungen treten gleichsam als Treuhänder der Biosphäre auf, damit des Lebensrechts der Menschheit, staatsrechtlich durchaus fragwürdig – niemand hat ihnen dazu ein Mandat erteilt.
Im Wandertheater der Gipfeltreffen wird eine tragische Farce aufgeführt oder auch eine lächerliche Tragödie. Das Stück hat eine nicht zu unterschätzende ideologische Nebenwirkung: Es nährt die Illusion, die sogenannte Staatengemeinschaft sei fähig, auf die ökologische Krise angemessen zu reagieren.