Schutzheiliger des Lebenswerten?
Stadt auf Augenhöhe. Werk und Wirkung des dänischen Impulsgebers Jan Gehl - Teil 2
Stadt auf Augenhöhe - Teil 1: Leben zwischen Häusern
Wer nach praktikablen urbanen Zukunftsrezepten sucht, findet in den Arbeiten von Jan Gehl umfangreiches Anschauungsmaterial. Denn die Frage danach, wie die Stadt als Lebensraum zeitgemäß zu verstehen und in ihrer Gestalt zu fassen sei, erweist sich hier als eine prägende Konstante.
Paradoxer Weise hat Gehl freilich seit jeher eine profunde Skepsis gegenüber Architektur in Form gebracht: indem er sie als Prozess praktiziert, der auf genauen Fragen und Beobachtungen beruht. Das ist schon deshalb erwähnenswert, weil Planer und Entwerfer noch immer dankbar für das sind, was hierzulande "Sachzwang" genannt wird. Sie berufen sich auf den Sachzwang, weil es ihnen schwerfällt, mit - Achtung, jetzt wird"s philosophisch! - mit bedingter Willensfreiheit zu leben. Diese Freiheit basiert auf der Erkenntnis, dass ein notorischer Mangel an ausreichender Begründung besteht, die bestimmen würde, eine bestimmte Handlungsmöglichkeit und keine andere zu wählen. Dem Sachzwang und den Umständen zu gehorchen ist da doch viel einfacher. Das wiederum ist freilich nichts, mit dem Jan Gehl sich abfinden könnte.
Es nimmt nicht Wunder, dass Alltagsmobilität für ihn eine zentrale Kategorie darstellt. Dass Beschleunigung in der Industriegesellschaft mit ökonomischem Fortschritt, mit technischer Modernisierung und räumlicher Unabhängigkeit gleichgesetzt wird, dass sie einen Wert darstellt: Das will er nicht gelten lassen. Die technisch-ökonomische Rationalität, die Zeit und Raum als Ressourcen betrachtet, deren effiziente Bewirtschaftung durch Verkehrstechnik gewährleistet wird: Sie ist ihm ein Graus. Er sagt, und da geben ihm zahlreiche Untersuchungen Recht, dass die durch Motorisierung und Ausbau der Straßennetze erhöhte individuelle Beweglichkeit kaum zur Einsparung von Reisezeit und zu größeren Freiheitsspielräumen geführt hat, sondern zur Ausdehnung der Entfernungen zwischen den verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens.
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Mobilität entsteht durch die Notwendigkeit, alltägliche Aktivitäten im Raum zu koordinieren. Der Mobilität von älteren Menschen in der Stadt - aber auch von Kindern - steht die Fortbewegung in beschleunigten Verkehrsmitteln diametral entgegen. Ihren Bedürfnissen nach Bewegungsfreiheit und nach Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum käme eher eine Entschleunigung entgegen. Zumal die Bequemlichkeit für Reisende sich nicht über die Geschwindigkeit des Verkehrsmittels definiert, sondern über die Reisezeit "von Tür zu Tür". Das Paradigma der "Beschleunigung" trägt leider nicht der tatsächlichen Vielfalt städtischer Mobilitätsbedürfnisse Rechnung. Sie wirkt sogar kontraproduktiv, weil die Haltestelledichte und die Erschließung der Fläche rapide abnimmt.
Die Stadtplanung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stand ganz im Zeichen der technisch-ökonomischen Effizienzkriterien. Die Stärkung der Städte als Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung richtete sich an zwei Leitlinien aus. Zum einen galt es, den Unternehmen in den Städten gute infrastrukturelle Rahmenbedingungen für ökonomische Aktivitäten zu schaffen. Zum anderen richtete sich die Aufmerksamkeit der Planer auf die Erschließung des Arbeitskräftereservoirs. Für beide Ziele, infrastrukturelle Ausstattung und Mobilität der Arbeitskräfte, stellte die Verkehrsplanung die wesentlichen Weichen. Und sie hat damit, peu á peu, ein eigenes Milieu hervorgebracht - mit eigenen, streng genormten Signalen und Zeichen. Sie bestimmen mit militärischer Rigorosität, wie wir unsere Rolle als Verkehrsteilnehmer im Stadtdrama zu spielen haben - damit wir niemanden gefährden, damit wir uns zurechtfinden. "In diesem System", sagt der Luzerner Kunsthistoriker René Berger, "erhält jedoch das motorisierte 'Ich' einen privilegierten Platz. Damit hört die Stadt auf, als das zu existieren, was sie jahrhundertelang war, nämlich als ein Wohnort für Menschen, ein Ort ständiger Beziehung zwischen ihren Bürgern. Sie wird ein Netzwerk von Bewegungen im Raum." Das wiederum geht zu Lasten einer alltäglichen Mobilität, gekennzeichnet durch die Verknüpfung von eher kurzen Wegen, die die unterschiedlichen Orte des Lebensalltags - Wohnung, Arbeitsplatz, Geschäfte, Schule, Kneipe, Sportstudio, Kino - zusammen führt. Die europäischen Städte bieten noch eine weitgehende räumliche Nähe dieser städtischen Grundfunktionen, die es zu erhalten und auszubauen gilt. Denn diese feinmaschige, lebenspraktische Funktionalität ist essentiell für die lebenswerte Stadt.
Als Leitsatz für die Stadtplanung verweist Gehl auf die Formel 8/80: Eine Stadt sollte so gebaut sein, dass sich darin Achtjährige und über 80-Jährige ebenso sicher wie der Rest der Bevölkerung bewegen können. Konkret bedeutet das unter anderem Gehsteige, die nicht vor der Kreuzung enden, sondern durch die Kreuzung gezogen werden, so dass für die Autos eine Schwelle entsteht: Fußgängerinnen verlassen daher niemals den Gehsteig, auch wenn sie eine Straße überqueren. "Außerdem entsteht so im Kreuzungsbereich ab und zu Platz für eine Parkbank oder einen Baum", sagt Gehl.
Mit dem Shared-Space-Projekt in der New Road, Brighton (England), oder dem Bank Street Parklet in Adelaide (Australien) illustriert Jan Gehl eben das. Doch hat er bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert den Hebel an diesem neuralgischem Punkt angesetzt - und war damit seiner Zeit weit voraus. Der Umbau Kopenhagens begann im November 1962, als auf seine Anregung die erste Straße der Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt wurde. Damals protestierten noch Ladenbesitzer, weil sie herbe Umsatzeinbußen fürchteten. Tatsächlich aber florierten ihre Geschäfte, sodass in den Jahren danach Dutzende weiterer Straßen und Plätze folgten, die Kopenhagen entweder komplett oder teilweise seinen Fußgängern und Radfahrern zurückgab; darunter die Strøget, den Leuchtturm unter Europas Fußgängerzonen. Die Stadt verbreiterte die Fußwege und schuf bis heute rund 1000 Kilometer Radwege in ihrem Großraum, von denen viele so breit sind, dass selbst die dort so populären Lastenfahrräder bequem zu zweit nebeneinander hergleiten können. Das brachte Kopenhagen den Ruf ein, die radfahrerfreundlichste Großstadt der Welt zu sein.
Jan Gehl ist kein Utopist. Aber er hat eine Vision. Er weiß um die Wirkungsmechanismen der Politik, und er weiß sich ihrer zu bedienen. Beredt legt er den Städten dar, dass Infrastrukturmaßnahmen wie Schulen, Universitäten, Bibliotheken und U-Bahn-Linien kräftig ins Geld gingen, während doch Fuß- und Radwege oder Plätze vergleichsweise preiswert zu haben seien. Zudem plädiert er für ein sukzessives Vorgehen: Jedes Jahr ein bisschen mehr tun, und jeder könne die Fortschritte sofort sehen und nutzen. So formulierte er eine Checkliste kleiner Veränderungen, die in der Summe Großes bewirken. Statt der blinkenden Ampel, die "zur schnellen Überquerung auffordert" (wie in New York City) lieber eine "höfliche Erinnerung" (wie in Kopenhagen). Statt dunklen Fußgängerunterführungen (wie einst in Zürich vor dem Bahnhof) lieber sonnenbeleuchtete "Zebrastreifen auf Straßenniveau." Mit dieser Abfolge von Trippelschritten vermag er auch auf Austerität setzende Politiker von Interventionen in den öffentlichen Raum zu überzeugen. Ein simples Prinzip bewirkt Wunder: "Je lebenswerter eine Stadt für die Menschen ist, umso besser ist sie für die Wirtschaft." Als sein Büro vor einiger Zeit den Auftrag bekam, in San Francisco die Market Street und andere Straßen in der Innenstadt attraktiver zu gestalten, entwickelten sie die Idee mit den "Parklets": Läden und Museen sponsern die bepflanzten Ruhezonen am Fahrbahnrand.
Gewiss, spektakulär sind die wenigsten Produkte aus dem Büro Jan Gehl. Deren Wert liegt in ihrer Gebrauchsfertigkeit. Wenn es gut läuft - und das tut es bei ihm, aus der Ferne betrachtet, meistens -, dann lautet das Ergebnis seiner Bemühungen: "Wie wenn es schon immer so gewesen wäre". So lässt sich jenes Gestaltungsprinzip umschreiben, für das der Wiener Architekt Josef Frank einmal das originelle Lehnwort "Akzidentismus" (er)fand. Nicht der Baumeister bestimme den Gebrauch, sondern der Gebrauch die Architektur. Nur so lasse sich die unaufgeregte Alltäglichkeit des Lebens erreichen. Die gestalteten Dinge müssen dem Benutzer eben "zufallen". Das gilt auch für Jan Gehl. Gestaltung ist ihm nichts, was man auf dem Verordnungswege herstellen kann, indem man die äußerlichen Akzidenzien von Räumen und Gebäuden festlegt, die Fenstersprossen, Dachneigungen, Beläge, Farben und anderes mehr. Damit täuscht man nur darüber hinweg, dass das erlebte Ganze mehr ist als die Summe ihrer verordneten Teile. Erfolgversprechende Stadtgestaltung hingegen ist permanente Detailarbeit, ist ein sanftes Steuern von Prozessen, die am besten von selbst laufen, angetrieben von wirtschaftlichen Notwendigkeiten oder von echten gesellschaftlichen Veränderungen. Sie ist aber auch Überzeugungsarbeit; ist eine stete, im Einzelnen oft mühsame und konfliktreiche Begleitung von langwierigen Debatten. Dem widerspricht nicht, dass natürlich auch gezielt normsetzende Kraftakte im Stadtraum vonnöten sind. Dergleichen haben Gehl Architects 2008 zusammen mit Behnisch & Transsolar bei der Oslo Harbour Front Regeneration vorgenommen.
Sich mit dem lebensweltlichen Aspekt des Urbanen zu befassen; anzuerkennen, wie bedeutsam die Frage der diskriminierungsfreien Aufenthaltsqualität ist; darüber nachzudenken, wie das Potenzial der Straße als sozialer Raum gehoben, wie die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern gestärkt werden kann; ein Gespür zu vermitteln von sinnlichen Anreizen, die sich in Bodenbelägen wie in angrenzenden Gebäuden finden können: Das alles ist so anregend wie werthaltig. Jan Gehl macht in und mit seinem Werk plausibel, warum er als Ausgangspunkt und zentrale Komponente den öffentliche Raum der Straßen und Plätze fokussiert, also die Überlagerung von technischen Infrastruktur-Bausteinen einerseits und stadträumlichen Elementen andererseits. Gerade weil es ihn um konkrete Umsetzung zu tun ist, kann man nachvollziehen, dass er nicht gleich die große Keule der Revolution schwingt, dass er die Frage nach Machtverhältnissen und Konfliktpotenzialen nicht in den Vordergrund stellt.
Was er zu sagen hat, gleicht dennoch - oder gerade deshalb - einem Manifest. Und das richtet sich gegen die unbedachte Modernisierung der Städte, die Ideologien folgt, jedoch bei all den neuen Erkenntnissen über zeitgemäßes Wohnen die Bewohner vergisst. Architektur und Planung, das wird deutlich, haben nicht nur einen Auftrag, sondern auch Verantwortung. Und die muss auch eingelöst werden. Was Jan Gehl wie kein zweiter personifiziert.
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