Schwarmdenken und Massenintelligenz

Führt das Zusammenspiel vieler einzelner Denkprozesse zu einer Steigerung der Leistung?

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Normalerweise schreibt man der Masse geringere Intelligenz zu als dem Individuum - ganz nach dem Grundsatz: Eine Kette kann nur so stark sein wie das schwächste Glied. Als Argument dafür dienen die Massenmedien. Wollen Verleger hohe Auflagen von Zeitschriften oder Büchern erreichen, dann senken sie das Niveau. Streben Fernsehredakteure hohe Zuschauerzahlen an, dann ziehen sie sich ins "Triviale" zurück. Und selbst für die Demokratie trifft es zu: Geht es nach den Wünschen von vielen, so meint man, dann regiert das Mittelmaß.

Fast könnte man es für eine feststehende Regel halten: Das Zusammenwirken vieler Denkprozesse und Entscheidungen führt letztlich nur zum Durchschnitt, alles Besondere geht unweigerlich verloren. Aber muß das so sein?

Ich selbst wurde auf das Problem aufmerksam, als es um den vernünftigen Gebrauch einer Abstimmautomatik ging. Eine solche war im neu errichteten Planetarium im "Forum der Technik" in München eingebaut. An ihren Sitzen finden die Besucher zwei Knöpfe, mit denen sie sich für oder gegen etwas entscheiden können. In ähnlichen Situationen, beispielsweise bei Massenveranstaltungen, nennt man das "Mitwirkung des Publikums". Aber ist diese Art der Aktion für den einzelnen unbefriedigend. Die Wahl führt zwar zu einem Ergebnis, doch alle Beteiligten haben den Eindruck, daß ihr eigener Beitrag zu vernachlässigen und somit unmaßgeblich sei. Ich suchte damals nach einer anderen Art der Anwendung, womöglich nach einem Fall, bei dem das gemeinsame Denken und Handeln von vielen zu einem besseren Ergebnis führen könnte, als es ein Einzelner zustande bringen könnte. Und es fiel mir tatsächlich eine Möglichkeit ein, genauer sogar eine ganze Kategorie von Aufgaben, die für diese Absicht geradezu geschaffen zu sein scheinen.

Angenommen, es geht darum, ein Fahrzeug durch ein mit vielen Hindernissen bestücktes Gelände zu lenken. Eine solche Aufgabe kann unter Umständen durch eine Automatik gelöst werden, aber was geschieht, wenn diese ausfällt? Normalerweise würde dann der Kapitän das Steuer übernehmen und seine der Automatik unterlegenen Fähigkeiten so gut es eben geht einsetzen. In dieser Situation bietet sich aber noch eine andere Möglichkeit an; die Steuerung könnte nämlich auch durch die Gesamtheit der Teilnehmer erfolgen, und zwar dadurch, daß diese den Weg des Fahrzeugs durch Impulse nach rechts oder nach links dirigieren. Das Ergebnis des Zusammenwirkens müßte auf jeden Fall besser sein als das Resultat eines einzelnen, und zwar deshalb, weil alle extremen Auslenkungen, die zu Zusammenstößen führen würden, herausgemittelt werden. Durch das Eingreifen von vielen ergibt sich also eine geglättete und zur Umfahrung der Hindernisse optimierte Kurve.

Das Ganze war im Rahmen eines Erlebnistheaters geplant, für eine simulierte Weltraumfahrt - ein Abenteuer, in das sich die Besucher einbezogen fühlen sollen. Diese Veranstaltung ist immer noch in der Planung, und so hatte ich bisher keine Gelegenheit, meine These zu beweisen. Ich war aber davon überzeugt, daß sich auf diese Weise sogar bei einer vergleichbaren Aufgabe im Ernstfall ein besseres Resultat erzielen ließe als mit einem einzelnen Steuermann. Diese Idee liegt so nahe, daß gewiß auch andere darauf kommen können, und in der Zwischenzeit ist das auch geschehen.

Gelegenheit zur Realisation einer solchen Idee hatte der Computergrafik-Pionier Loren Carpenter, den ich vor Jahren im Computertrick-Laboratorium von George Lucas kennenlernte, und zwar gerade in dem Moment, als er zum ersten Mal fraktale Geometrie zur Darstellung von simulierten Gebirgen verwendete. Inzwischen hat er sich anderen Dingen zugewandt, und das, worum es nun geht, ist eine Art digitales Pingpong, allen jenen, die sich schon früh mit Computerspielen beschäftigten, wohlbekannt: Ein Ball bewegt sich auf dem Bildschirm hin und her, und zwar so, daß er an den Seitenwänden von einem Balken - vereinfachtes Abbild eines Schlägers - zurückgeworfen wird. Auf diese Weise spielen zwei Personen gegeneinander, und jener verliert einen Punkt, der mit seinem Schläger den Ball verfehlt.

Bei der großen Computergrafik-Messe SIGGRAPH in Las Vegas vor einigen Jahren spielte Loren Carpenter dieses Spiel mit 5000 Besuchern. Jeder von ihnen bekam einen Stab mit einer roten und grünen Seite. Er konnte ihn hochheben, und ein computergesteuertes optisches System stellte fest, wieviel rote oder grüne Signale auf diese Weise gegeben wurden. Loren Carpenter teilte das Publikum in zwei Gruppen, die er gegeneinander das digitale Pingpong spielen ließ. Das Ergebnis war überraschend, denn es funktionierte besser als gedacht. Als die Geschwindigkeit des Balls vergrößert wurde, paßten sich die Teilnehmer innerhalb von Sekunden dem schnelleren Tempo an und spielten besser, als das einzelne Akteure gekonnt hätten. Das Unwahrscheinliche war eingetreten: Die Intelligenzleistungen der Masse hatten sich summiert und zu einem Ganzen geführt, das fähiger war als die einzelnen Teile.

Was da zunächst spielerisch beginnt, hat Konsequenzen, die weit bedeutender sind, als man zunächst ahnen möchte. Der amerikanische Autor Kevin Kelly, Chefredakteur der Zeitschrift "WIRED", hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, das unter dem Namen Das Ende der Kontrolle in deutsch erscheint. Kelly berichtet über Carpenters Versuche, die mit dem digitalen Pingpong nicht zu Ende waren, sondern zu anspruchsvolleren Aufgaben übergingen. Davon ausgehend entwickelt Kelly seine These, die das Verhalten von Massen, insbesondere im Hinblick auf Intelligenzleistungen, zur Basis hat.

Daß sich hier etwas andeutet, das große Möglichkeiten bietet, die wir sicher noch nicht ganz verstehen, geht ja auch schon aus dem Schwarmverhalten von Tieren hervor. Bekannt ist etwa der Ameisenstaat, der in seiner Gesamtheit so etwas wie ein intelligentes Verhalten zeigt, das die Fähigkeiten der einzelnen Tiere weit übersteigt. Wir kennen auch den Vogelschwarm, der eine übergeordnete Ganzheit bildet und sich von außen gesehen wie ein denkendes, wahrnehmende, reagierendes und entscheidendes Wesen verhält. Interessant in diesem Zusammenhang auch die Versuche, ein solches Schwarmverhalten zu programmieren. Die ersten Schritte in diese Richtung ging Susan Amkraut, die ich vor mehr als 15 Jahren im Computergrafik-Laboratorium von Charles Czuri an der Ohio-State-University traf. Sie arbeitete - gemeinsam mit Michael Girard - an einer Animationssequenz, die dann später unter dem Titel "Eurhythmy" mehrere Medienkunstpreise bekam. In diesem Computerfilm sollte ein Vogelschwarm aus einem Turm aufflattern, und Susan Amkraut schrieb damals ein Programm für das Bewegungsverhalten der Vögel, in dem so etwas wie eine anziehende Kraft vorgesehen war, die den Schwarm zusammenhielt, und eine abstoßende Kraft, die den Zusammenstoß der Tiere verhinderte. Dasselbe Problem ergab sich beim Science-Fiction-Film "Batman's Rückkehr", in dem ein Haufen von Fledermäusen aus Höhlenä"ngen ausschwärmt.

Wie Kevin Kelly berichtet, hat sich der Computerwissenschaftler Craig Reynolds eingehend mit der Theorie des Schwarmverhaltens beschäftigt und für die Bewegung Algorithmen angegeben. Genau genommen kann aber das, was im Schwarm geschieht, nichts anderes als durch die Überlagerung der Bewegungen einzelner Tiere zustandekomme, und dahinter zeichnen sich allgemeinere theoretische Probleme ab, beispielsweise die Frage, wann und unter welchen Umständen das Zusammenwirken zur oft beobachteten Nivellierung und wann zu gesteigerten Fähigkeiten führt. Offenbar gibt es einige Vorteile, die das Verhalten im Schwarm mit sich bringt, beispielsweise die Möglichkeit der Anpassung, der Entwicklung und der Permanenz. Nicht zu übersehen sind natürlich auch negative Effekte, unter anderem die Unvorhersagbarkeit, das Fehlen einer Zielausrichtung und die hohe Redundanz - viele müssen dasselbe machen, um etwas zu erreichen. Solche Gebilde sind unbestimmt und unberechenbar. Nichtsdestoweniger gibt es viele Entwicklungen, die genau durch das Schwarmverhalten bestimmt sind.

Nachdem man erst einmal darauf aufmerksam geworden ist, findet man Systeme, deren Verhalten durch im einzelnen nicht mehr überschaubare Wechselwirkungen geprägt sind, an vielen unerwarteten Stellen. So scheint sich herauszustellen, daß auch das menschliche Gehirn nach diesem Prinzip funktioniert - und damit deuten sich erstmalig Erklärungen dafür an, wieso an Denkvorgängen viele Nervenzentren beteiligt sind und dabei - offenbar ohne koordinierende Instanz - ein für den ganzen Organismus nützliches Resultat erzielt wird. Selbst für praktische Zwecke steht die Massenintelligenz bereits zur Diskussion: In einer in diesen Tagen erscheinenden Arbeit beschreiben Gottfried Mayer-Kress, University of Illinois, und Cathleen Barczys, University of California at Berkeley, auf die Möglichkeit hin, das Prinzip des 'Globalen Gehirns' für das Krisenmanagement einzusetzen.

Darf man wirklich darauf hoffen, daß zur Intelligenz des menschlichen Individuums und zur Maschinenintelligenz der Computer noch eine weitere Intelligenzform kommt, mit der sich Probleme bewältigen lassen, die bisher als unlösbar galten? Bisher vermag das niemand mit Sicherheit zu sagen, doch ist es in diesem Zusammenhang um so interessanter, die Entwicklung des Internet zu verfolgen - denn es erweist sich als typisches Beispiel für eine nicht kontrollierbare Massenintelligenz.

Kevin Kelly: Die Zukunft der Kontrolle Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle. Bollmann Verlag, Mannheim, 1997, 550 S., DM 58.-