Schweden: Eine feministische Winz- und Lokalpartei zieht ins Europaparlament
Grüne und Schwedendemokraten sind die Gewinner
Es erinnert an das berühmte gallische Dorf mit seinen beiden starken Kerlen. Nur, dass dieser Ort in Schweden liegt und die starke Person eine 1948 geborene Frau ist. Der Ort ist Simrishamn, ein historisches Städtchen mit 6.500 Einwohnern und Hauptort der gleichnamigen Großgemeinde mit 19.000 Einwohnern an der Südostküste, wo zahllose Künstler leben. Bei den Kommunalwahlen von 2010 gewann vier von insgesamt 49 Sitzen eine politische Gruppierung, die nirgends sonst in Schweden in einem Parlament vertreten ist. Eine Winz- und Lokalpartei - die plötzlich ins Europaparlament einzieht.
Solche Entwicklung verdankt sich vor allem der starken Frau, der Protagonistin dieser Gruppierung. Gudrun Schyman heißt sie, eine Ausnahmeerscheinung in der schwedischen Politik, die auf eine turbulente politische Karriere zurückblicken kann. Sie begann in den siebziger Jahren im maoistischen Marxist-Leninistika Kampförbundet för Sveriges kommunistiska parti (m-l) (MLK), ab 1977 wirkte sie in der Vänsterpartiet Kommunisterna (VPK). 1988 wurde Schyman in den Reichstag gewählt. Nachdem sich die Partei 1990 von ihrer hergebrachten Orientierung verabschiedet und in Vänsterpartiet umbenannt hatte, wurde Schyman 1993 zur Parteivorsitzenden gewählt.
Unter ihrer Ägide gewann die Partei Zulauf, vor allem, weil Schyman unkonventionell agiert und spricht. Sie entsorgte kommunistische Konzepte und führte feministische Positionen ein. 2002 las sie auf einem Parteikongress vor allem ihren selbstgerechten Genossen die Leviten: Normen, Strukturen und Muster hinter der Unterdrückung von Frauen seien stets dieselben und wiederholten sich im Afghanistan der Taliban ebenso wie in Schweden. Sie ging offen mit ihrer eigenen Alkoholabhängigkeit um und suchte den Reichstag zur alkoholfreien Zone zu machen.
2004 regte sie im Reichstag an, landesweit die finanziellen Kosten von Männergewalt gegen Frauen zu erfassen und einen staatlichen Fonds für Schutzmaßnahmen für Frauen zu errichten - flugs sprachen die Medien von einer "Männersteuer". In einer spektakulären Aktion verbrannte sie 2010 genau 100.000 Schwedische Kronen in Hundert-Kronen-Noten - als Protest gegen die Ungleichbezahlung von Frauen und Männern.
Nach einer Steueraffäre trat Schyman 2003 vom Parteivorsitz zurück, 2004 verließ sie die Partei, 2005 war sie dann Mitbegründerin der Feministiskt initiativ (FI, auch F!), die bei den Reichstagswahlen 2006 unter anderem von Jane Fonda unterstützt wurde. Doch ihr einziger Erfolg war bisher der Einzug in das Kommunalparlament von Simrishamn, dem Wohnort von Schyman, mit 8,9 Prozent der Stimmen. Dank ihrer spezifischen Mischung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit hat die winzige FI indes zunehmend Beachtung erzielen können.
Ihr Mini-Budget von etwa 500.000 Kronen (entspricht etwa 55.000 Euro) für das Wahljahr 2014, darunter eine Spende vom Abba-Gründer Benny Andersson, zwingt zu ungewöhnlichen Maßnahmen: Wenn ein Ort und mindestens 25 Teilnehmer garantiert sind, kommt Schyman gratis zu einer politischen House Party - 250 gab es in den vergangenen Monaten. Der Beitritt zur FI kann per SMS erfolgen. Solch unideologischer und pragmatischer Ansatz erweist sich vor allem für junge, gut ausgebildete Großstadtfrauen als attraktiv.
Dass die FI am Sonntag mehr als 188.000 von knapp 3,6 Millionen abgegebenen Stimmen erhielt und mit dem Anteil von 5,3 Prozent einen Sitz im Europaparlament erhält, ist von übergeordneter Bedeutung. Der erste Grund liegt auf der Hand: Auch beim Gleichstellungsvorreiter Schweden bestehen Benachteiligungen, Einschränkungen und Repressionen von Frauen fort, was angesichts fortschrittlicher Regeln und Gesetze gerne übersehen oder in den Hintergrund gedrängt wird.
Sodann hebt sich die FI erfrischend von der Eintönigkeit und Langweiligkeit der meisten anderen Parteien ab, wie sie auch in Deutschland vorherrscht. Wo die Debatten verflachen und die ewig gleichen Floskeln vorherrschen, wo Positionen vielfach ununterscheidbar sind, wo als Zukunft der Gesellschaft bloß die nächste Legislaturperiode gilt - da hat sich die FI mit ihren grundsätzlichen Forderungen nach einer humanen und sozialen Gesellschaft nicht nur profilieren, sondern als glaubhaft darstellen können. FI insistiert, dass vieles zu tun ist, und interpretiert Feminismus als Leitsatz: Echte Gleichberechtigung und Gleichstellung gelten nicht als "Frauenthema", sondern werden für alle gefordert, vor allem für eine jegliche Minderheit.
Ihre Spitzenkandidatin für den Europa-Wahlkampf war Soraya Post, die als Roma alle Schattenseiten der schwedischen Gesellschaft am eigenen Leibe erfahren hat und nun beim Europarat für die Rechte der Roma sowie als Expertin für Menschenrechte arbeitet. Klarer kann eine Gruppierung kaum gegen Diskriminierung, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus auftreten. Posts Wahl stellt einen echten und erfreulichen Kontrapunkt zu dem dar, was als "europaweiter Rechtsruck" firmiert. Kein Wunder, dass der meist gerufene Slogan bei der FI-Wahlparty lautete: "Raus mit den Rassisten, rein mit den Feministen!"
Auch in Schweden erfahren Rechtspopulisten spürbar Zulauf
Die unablässig Gefahren und Probleme der Einwanderung heraufbeschwörenden Sverigedemokraterna (SD, Schwedendemokraten) konnten ihre Stimmenzahl von 100.000 bei den EU-Wahlen 2009 auf nunmehr 345.000 steigern, dies entspricht 9,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie werden zwei der 20 Sitze Schwedens einnehmen. Noch hält sich Parteiführer Jimmie Åkesson von den Le Pens und Wilders fern - er will die Chancen seiner Partei bei den bevorstehenden Reichstagswahlen nicht gefährden.
Neben FI und SD erlebten diese Wahlen, bei denen die Beteiligung von 43,8 im Jahr 2009 auf 48,9 Prozent anstieg, einen weiteren klaren Gewinner. Die Miljöpartiet de gröna (MP, Grüne), fuhr erstaunliche 15,3 Prozent ein. Ihre Stimmenzahl wuchs von 330.000 auf knapp 541.000 - sie wird drei Sitze im EU-Parlament einnehmen. Damit, und das ist eine echte Sensation, ist MP stärker als die stärkste Regierungspartei. Ministerpräsident Fredrik Reinfeldts Moderaterna büßten 5,2 Prozent ein und endeten bei 13,6 Prozent. Auch ihr wichtigster Koalitionspartner, die Folkpartiet liberalerna (FP), verlor deutlich, ihr Anteil sank von 13,6 auf 10,0 Prozent. Die beiden kleineren Regierungsparteien vermochten leicht zuzulegen, die Centerpartiet auf 6,5, die Kristdemokraterna auf 6,0 Prozent.
Die Sozialdemokraten (Arbetarepartiet-Socialdemokraterna) stagnieren, sie erzielten 24,4 Prozent, die Linken (Vänsterpartiet) gewannen leicht und kamen auf 6,3 Prozent. Mit nur noch 2,2 Prozent scheiterte die Piratpartiet an der Vier-Prozent-Sperre. Legt man diese Ergebnisse zugrunde, würde eine "linke" Koalition aus oppositionellen Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Feministen mehr als 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen - während die regierende bürgerliche Koalition (Alliansen) bloß noch 36,1 Prozent aufzubieten vermag.
Es wird ein spannender Sommer werden, die Reichstagswahl am 14. September könnte einen Wechsel herbeiführen. In Schweden sind Minderheitsregierungen der Normalfall, Zusammenarbeit über Partei- und Blockgrenzen hinweg ist selbstverständlich. Viel spannender als die Frage von Mehrheiten ist also, ob die politische Diskussion wirklich belebt wird, ob echte Debatten über grundlegende Weichenstellungen aufkommen werden.
Aufgrund zahlloser Probleme etwa im Sozialbereich, bei den von kommerziellen Firmen betriebenen Schulen oder bei der nationalen Infrastruktur zeichnet sich in verschiedenen Meinungsumfragen ab, dass die Menschen mehrheitlich eine Haltung des Fortschritts durch Bewahrung einnehmen. Mehr als die Hälfte der Schweden ist gerne bereit, auch beträchtliche Steuern zu entrichten - sofern der Staat einen vernünftigen Sozial- und Gesundheitsbereich, gute Erziehung und Ausbildung als auch eine funktionierende Infrastruktur bereitstellt.