Schweden: Gesundheitsamt als Sekte?
Oder als Leithammel der Herde? Wissenschaftler kritisieren den "Sonderweg"
Björn Olsen, Professor für Infektionskrankheiten an der Universität Uppsala, kritisierte in der aktuellen Ausgabe der "Sommererzählung" in Sveriges Radio nicht nur das Gesundheitsamt und die nach seiner Ansicht mangelnden Maßnahmen in der Covid-19 Pandemie. Er sieht auch "Sektierertum" bei der Behörde am Werk.
Der 61-Jährige, der auch als Oberarzt an der Universitätsklinik Uppsala wirkt, gehört zu den 22 Wissenschaftlern, die sich von Anfang an gegen den Sonderweg des Landes stemmten, das einen Lockdown im Frühjahr vermieden hatte.
In der populären Sendung kritisiert der Mediziner den Staatsepidemiologen Anders Tegnell wegen dessen "Verharmlosungen" zu Beginn der Pandemie. Tegnell, Beamter des Gesundheitsamtes, habe einen größeren Fokus darauf gelegt, die Bevölkerung zu beruhigen, als Maßnahmen einzuleiten.
Zu den "verbotenen Wörtern" des Gesundheitsamtes gehörten demnach "Mundschutz" sowie "Ansteckung ohne Symptome" - so dass sich SARS-CoV-2 rasch in Schweden verbreiten konnte und heute eine elf Mal höhere Todesquote pro Million Einwohner wie das Nachbarland Norwegen verursachte, wie Olsen mit eindringlicher Stimme erzählt.
"Charakter einer Sekte mit einem Tunnelblick"
Diese Vorhaltungen sind bekannt, der Mediziner spricht jedoch auch eine "religiösen Ebene" an. Das Gesundheitsamt habe den Charakter einer Sekte mit einem "Tunnelblick" angenommen, so Björn Olsen. Auch beklagt er "Gruppendenken" beim schwedischen Weg - der die Theorie der "Herdenimmunität" befürwortet. Vielleicht eine Anspielung, dass der Begriff "Herde" auch auf das Verhalten in Bezug auf den Führungsanspruch des Gesundheitsamts passt.
Die Aussage Tegnells in der Sommererzählung im Juni, "die ganze Welt sei verrückt geworden", da sie die Öffentlichkeit abriegelten, sei nach Olsen ein Zeichen des Sektierertums, bei dem Schweden als einzig global "klar denkendes Land" übrig bliebe.
Über die Aussagen von Tegnell und anderer Experten der Behörde würden die Medien nicht wirklich kritisch berichten, sondern ordneten sich als "Konvertiten" der Behörde unter - dies sei ein "tödlicher Cocktail" für Schweden gewesen.
Viele Medien und bekannte Leitartikler hätten kritische Fragen ausgeschlossen. Der Mediziner fragt sich, was an schwedischen Journalistenschule eigentlich gelehrt werde.
Weiterhin erfährt das Gesundheitsamt in Schweden einen Rückhalt von 65 Prozent in der Bevölkerung, den Höhepunkt des Vertrauens erfuhr die Behörde mit über 70 Prozent im April.
In dieser Zeit wurden die 22 Wissenschaftler, die sich auch kritisch gegenüber ausländischen Medien geäußert hatten, in den Sozialen Medien und mittels Mails am heftigsten attackiert.
Sie seien "Verräter", "Alarmisten", "Pfuscher", "Hobbyepidemiologen" und wären auf Forschungsgelder aus. Andere Mediziner hätten ihnen gegenüber ihren Abscheu geäußert. Die Frage nach den richtigen Maßnahmen gegen die Epidemie habe Schweden gespalten, der Riss sei durch das Fachkollegium, aber auch durch viele Familien gegangen.
Nun sei der "Chor des Hasses" verstummt, da die Infektionszahlen nicht zurückgegangen seien, ein Beleg dafür, dass Olsen und die anderen Expertinnen und Experten von Anfang an Recht gehabt hätten.
In dem Land mit rund zehn Millionen Einwohnern wurden 79.494 Infektionsfälle gemeldet, es starben bislang 5702 Personen an Covid-19. Die Hälfte der Toten sind Bewohner der schwedischen Altersheime.
Jan Helin, Programmdirektor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT, wies die Kritik am Dienstag zurück - es habe auch kritische Stimmen im Sender gegeben. Dem Gesundheitsamt sei jedoch viel Raum überlassen worden, da es als offizieller Ratgeber der Regierung wirkte. Stefan Löfven, Ministerpräsident der rotgrünen Minderheitsregierung, hatte sich bislang an den Empfehlungen der Behörde orientiert.
Tegnell, bekannt und populär für sein beruhigendes und unspektakuläres Auftreten, ist weiterhin überzeugt, dass man heute noch nicht sagen könne, was richtig oder falsch gemacht wurde und ob "gewisse Maßnahmen einen Unterschied gemacht hätten".
Bei der Präsentation der jüngsten Zahlen am Dienstag zeigte er sich besorgt über den aktuellen Anstieg der gemeldeten Infektionen weltweit, doch "Schweden geht entgegen dem Trend." Das Reisen werde sich für Schweden bald normalisieren.
Aber immer noch halten viele Länder ihre Grenzen für Schweden dicht - was von den Experten des Gesundheitsamtes nicht nachvollzogen wird, da Schweden ja bereits eine erhöhte Immunität erreicht haben soll, die Hauptstadt sogar die viel besprochene Herdenimmunität.
Maskenpflicht etwa für öffentliche Verkehrsmittel einzuführen, wie es Olsen fordert, lehnt Tegnell weiterhin als unnötig ab.