Schweden in der zweiten Welle
"Die Situation ist sehr ernst", sagte Karin Tegmark Wisell vom schwedischen Gesundheitsamt schon am Donnerstag. Die "Allgemeinen Ratschläge" wurden verschärft
Die Zahlen lassen nicht wirklich hoffen: Am Freitag vermeldete das schwedische Gesundheitsamt mit 4.697 Fällen einen Rekordwert an Neuinfektionen. Es verstarben 20 Personen an oder mit dem Virus SARS-CoV-2, am Mittwoch waren es noch 28. Dazu ist zu sagen, dass das Gesundheitsamt Wochenstatistiken publiziert, jedoch ein Vertreter mündlich von Dienstag bis Freitag die aktuellen Zahlen auf einer Pressekonferenz bekannt gibt. Am Dienstag sind es die Zahlen ab vorigen Freitag gerechnet. Mittwoch, Donnerstag und Freitag werden die Zahlen präsentiert, die innerhalb eines Tages erhoben wurden.
Ebenfalls am Mittwoch gab das Amt strengere Empfehlungen für drei Regionen bekannt, am Donnerstag für zwei weitere. Insgesamt sind über sieben Millionen der zehn Millionen Einwohner von den angeratenen Einschränkungen betroffen.
So sollten keine Freunde mehr eingeladen werden und der Kontakt sollte sich auf den Familienkreis beschränken; wenn möglich ist Homeoffice vorzuziehen; das Einkaufen wird auf Lebensmittel beschränkt. Diese "Allgemeinen Ratschläge" waren bereits vor einer Woche erstmals in fünf Regionen erteilt worden, darunter die besonders betroffene Region Stockholm.
Derzeit sind 6.022 Tote zu beklagen und 146.461 Infektionsfälle. Zwar vermeiden die Gesundheitsbehörden sowie die rotgrüne Minderheitsregierung den Ausdruck "Zweite Welle", die Medien aber sprechen nun offen davon. Und Anders Tegnell, der Staatsepidemiologe, ein Mann mit stets bedächtigem Auftreten, dem die Schwedinnen und Schweden weiterhin ein hohes Vertrauen zukommen lassen, gesteht ein, dass der "Corona-Herbst in eine andere Richtung geht, als ich gedacht habe". Nun sei das ganze Land betroffen.
Schweden auch kein Alternativmodell mehr?
Noch im frühen Herbst konnte das Land im Norden Europas mit einem eher moderaten Zuwachs an Fallzahlen und geringen Todeszahlen beeindrucken. Der schwedische Sonderweg schien darum in vielen Ländern angesichts der dort anwachsenden zweiten Welle als die bessere Alternative.
Zur Erinnerung: Im Frühjahr vermied Schweden Aufsehen erregend einen Lockdown. Geschäfte, Restaurants und Schulen, ausgenommen die Oberstufe, blieben offen. Somit erlebte die Wirtschaft keine entsprechenden Einbrüche wie Länder mit einer konsequenten Abriegelung.
Und konsequent folgte und folgt die rotgrüne Minderheitsregierung dem Rat des Gesundheitsamtes. Als Kritikpunkt galten die im Vergleich mit den skandinavischen Nachbarn hohen Todesraten und das Versagen des Sozialstaats, die betreuten, alten Menschen zu schützen. Knapp die Hälfte der Covid-19-Opfer starben in Altersheimen, ein Viertel wurde beim Pflegedienst zu Hause betreut.
Damals fehlte es an Tests für das Personal, das zu einem großen Teil aus unterbezahlten Migranten besteht, die in ihren beengten Wohnverhältnissen besonders anfällig für das Virus sind.
Neue Ausbrüche in Altersheimen, Empfehlungen nicht beachtet
Nun werden wieder allerorten Ausbrüche in Altersheimen vermeldet. Seitens der Ärzteschaft gibt es Beschwerden, dass das Personal nicht umfangreich genug getestet wird, verwiesen wird auf das positive Beispiel Finnland. Gleichzeitig mehren sich Berichte, dass das Personal die Sicherheitsbestimmungen nicht einhält.
Dass das Besuchsverbot seit Oktober wieder aufgehoben worden ist, kann auch einer der Gründe für die steigenden Infektionsraten in den Altersheimen sein, wenn auch viele Kommunen die Angehörigen nachdrücklich darum bitten, weiterhin von Besuchen ihrer Angehörigen abzusehen.
Doch die Empfehlungen greifen eben nicht bei allen. Vor allem die jüngeren Schweden nehmen die Abstandsregeln nicht ernst. Derzeit ist jeder vierte, der positiv getestet wird, zwischen 20 und 29 Jahre alt.
Auch die Aufforderung an die betroffenen Regionen, das Shoppen zu unterlassen, wird nicht ernst genommen, zumindest in Stockholm. Das bekannte Einkaufszentrum "Kista Galleria" verzeichnet sogar aktuell einen Zuwachs an Besuchern; Aufnahmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT zeigen zumeist unmaskierte Kunden. Dies ist eine weitere Besonderheit des schwedischen Sonderwegs – die Weiterführung des Maskenverzichts.
Anders Tegnell lehnt sie weitgehend ab, da sie ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln würden. Erst Ende Mai wurden sie widerwillig für die Altersheime vom Gesundheitsamt empfohlen. Die Behörde in Stockholm forderte bei steigenden Fallzahlen im September lieber dazu auf, den öffentlichen Nahverkehr zu vermeiden, als vorzuschlagen, Mund und Nase zu bedecken.
Dabei ist die Hauptstadt weiterhin Corona-Hotspot. Innerhalb von vier Tagen, von Freitag bis Montag, wurden im Raum Stockholm 3.317 Personen positiv getestet, eine Verdopplung zum vergleichbaren Zeitraum in der vergangenen Woche.
Eine weitere Herausforderung wird die anstehende Alpinskisaison darstellen, die im schwedischen Fjäll bereits Mitte November startet. Schon im Oktober wurden zehn Prozent mehr Buchungen vermerkt als im Vorjahr. Es ist also mit Gedränge zu rechnen.
Ski-Saison läuft wieder an
Im März machte Schweden Schlagzeilen, da dort die Skisaison weiterlief, auch das "Afterski"-Treiben, obwohl das österreichische Ischgl als Virenschleuder bereits seit Anfang März bekannt war. Der börsennotierte Konzern "Skistar" beendete erst kurz vor Ostern auf eigenen Entschluss seinen Betrieb in den drei wichtigsten Skiorten des Landes. Wohl um nicht ein zweites Ischgl zu verantworten.
In dieser Saison will "Skistar" alles richtig machen, man verspricht sichere Ferien. Das Unternehmen stellt Lifte, Hotels, Skibusse und weitere Wintersport-Einrichtungen in den populären Orten Sälen, Åre und Vemdalen, hat also somit eine gewisse "Gesamtverantwortung". In den Gondeln und in den "Wärmestuben" dürfen sich weniger Menschen aufhalten, die Personenbeschränkung in den Skibussen richtet sich nach den aktuellen Bestimmungen des schwedischen Nahverkehrs.
Skistar organisiert zwar kein "Afterski", jedoch soll das Saufen nach der Piste in Absprache mit den Lokalen diese Saison kontrollierter über die Bühne gehen. "Schwingen und Abhängen" heißt die Losung. So sollen die Gäste beim Trinken sitzen und nicht herumtollen.
Von den lokalen Ärzten kommen jedoch Warnsignale, wenn auch noch keine direkte Kritik geäußert wird. Sofia Leje, Chefin der Ambulanz in Are, erklärte etwas umständlich, dass sie auf verschiedene Szenarien vorbereitet sei. Anders Nystedt, Internist der Region Norbotten, fürchtet den Einfluss des Alkohols. Bei allen Empfehlungen komme es "auf die Entscheidung des Individuums an".