Schwedens Corona-Weg: Wer zu spät kommt

7-Tage-Inzidenz - Schweden sticht als einziges Land heraus mit über 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner. Bild: RKI

Schweden hat so viele Neuinfizierte, dass deutschen Urlaubern nach der Rückkehr Quarantäne droht. Was steckt dahinter?

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Mit mehr als 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen leuchtet Schweden gerade knallrot auf der Karte der RKI als einziges Land in Europa. Diese "Obergrenze" wurde von Bund und Ländern festgelegt, um situationsabhängig auf die Infektionslage in Reiseländern reagieren zu können. Und mehrere Bundesländer, darunter Bayern und Niedersachsen, haben bereits reagiert. Wer die offenen Grenzen Schwedens für einen frühen Urlaub genutzt hat, dem steht nun möglicherweise eine unvorhergesehene Zwangspause im Anschluss bevor. Für die nordischen Nachbarländer sind die schwedischen Infektionszahlen so abschreckend, dass eine innernordische Grenzöffnung daran scheiterte. Schweden können aktuell weder nach Finnland, Norwegen oder Dänemark einreisen, es sei denn, sie können wichtige Gründe anführen.

Am Mittwoch, 10. Juni, wurden so viele neue Fälle verzeichnet wie noch nie zuvor: 1487 Neuinfizierte in einem Land von gut 10 Millionen Einwohnern. Im Land selbst wird der deutliche Anstieg der Infektionskurve allerdings nicht dramatisch gesehen, denn Staatsepidemiologe Anders Tegnell und seine Kollegen der übergeordneten Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten) haben dafür eine Erklärung: Es werden zunehmend mehr Menschen getestet.

In der Statistik, die auf den Pressekonferenzen präsentiert wird, werden inzwischen drei Quellen positiver Diagnosen unterschieden: schwer Erkrankte, die im Krankenhaus behandelt werden müssen und schon immer getestet wurden, Personal im Gesundheitssektor sowie neu Menschen mit Erkältungssymptomen, die die Gesundheitszentren aufsuchen. Früher galt für diese, sie mögen zuhause bleiben, sich auskurieren und das medizinische Personal erst dann kontaktieren, wenn sie wirklich ärztliche Hilfe brauchen.

Die Ausweitung der Testkapazitäten war schon lange von der Regierung in Auftrag gegeben worden. Das Ziel: Jeder mit Symptomen sollte sich testen lassen können. Bereits Mitte Mai wollte Sozialministerin Lena Hallengren 100.000 Tests die Woche sehen. Das schwedische Gesundheitssystem wird jedoch von den 21 Regionen organisiert, die Umsetzung dauerte. In der 23. Woche, also vom 1. bis 7. Juni, wurden erstmals 49.000 geschafft. Der neue Block der Getesteten aus den Gesundheitszentren macht dabei einen großen Teil des Anstiegs aus, während die Krankenhauspatienten und Pflegepersonal ihr Level halten. Bleibt das so, wäre dies trotz der schlechten Zahlen eine gute Nachricht: Die Statistik würde sich damit nur der realen Situation annähern.

Für diese These spricht auch, dass die Zahl der schwer Erkrankten in den Intensivstationen weiter sinkt, wenn auch nur noch langsam. Schweden hatte landesweit ursprünglich nur 528 Intensivbetten. Um den erwarteten Bedarf zu decken, wurden die Kapazitäten zeitweise auf das Doppelte ausgebaut, andere Aktivitäten dafür zurückgefahren. In den schlimmsten Wochen im April benötigten allein die Covid-19-Patienten mehr Intensivbetten als normalerweise vorhanden sind. Inzwischen sind landesweit etwas weniger als 300 Covid-19-Kranke auf der Intensivstation. Der Rückgang ist vor allem in den an heftigsten betroffenen Regionen Stockholm und Sörmland deutlich. Andere Gebiete waren ohnehin viel weniger betroffen. Die zusätzlichen Intensivkapazitäten werden nun langsam zurückgebaut. Das Feldlazarett in der Stockholmer Messe, das nicht mitgezählt und auch nie in Betrieb genommen wurde, wird nun abgebaut.

Für diese These könnte auch sprechen, dass die Zahl der Covid-19-Todesopfer sinkt - wenn auch sehr langsam im Vergleich zu den meisten Ländern, die massivere Maßnahmen ergriffen haben. Das verschafft Schweden nun die zweifelhaften Spitzenplätze im internationalen Vergleich. Im April gab es Tage mit mehr als 100 Covid-19-Toten und im Nachhinein eine deutlich sichtbare Übersterblichkeit. Nun vermeldet die Statistikbehörde, die Sterblichkeit nähere sich wieder den Durchschnittswerten. In der Statistik von Folkhälsomyndigheten, die nach dem Sterbedatum geführt wird, liegt der Durchschnitt aktuell bei 37 Covid-19-Todesopfern pro Tag.

Ende des politischen Burgfriedens, aber keine Vorteile für die Opposition

Corona war in der jüngsten Debatte der Parteivorsitzenden ein heißes Thema. Der politische Burgfrieden während der Krise löst sich gerade auf. Die schleppende Umsetzung der Testkapazitäten wird der sozialdemokratisch-grünen Minderheitsregierung um die Ohren gehauen.

Kritik an Versäumnissen der Vergangenheit greift allerdings nur bedingt. Zum einen haben die Oppositionsparteien den bisherigen Kurs mitgetragen. Zum anderen sind gerade in den schwer betroffenen Gebieten wie Stockholm die bürgerlichen Oppositionsparteien an der Macht und damit sowohl für die Krankenversorgung als auch für die Altenpflege zuständig. Jonas Sjöstedt, Vorsitzender der Linkspartei (Vänsterpartiet), nutzte die Gunst der Stunde, um darauf hinzuweisen, dass die hohe Zahl der Toten in den Altersheimen nicht zuletzt eine Folge der Kürzungen der vergangenen Jahre und der schlechten Arbeitsbedingungen dort sei.

Ob es nun die hohen Opferzahlen sind oder die verschlossenen Wege ins Ausland, die das Misstrauen gesät haben: Das Vertrauen der Schweden in die Regierung liegt nur noch bei 49 Prozent. Das zeigt die wöchentliche Umfrage im Auftrag der Bereitschaftbehörde (MSB). Die "politische Opposition" kommt dabei noch schlechter weg (26 Prozent). Die Behörde Folkhälsomyndigheten kommt noch auf 67 Prozent. Und nur noch 57 Prozent finden Schwedens Maßnahmen richtig ausgewogen zwischen den Interessen.

Was der Palme-Mord und die Corona-Krise gemeinsam haben

Seit der Pressekonferenz zum Palme-Mord ist Corona allerdings vorübergehend zum Nebenthema geworden. Die von Staatsanwalt Krister Petersson präsentierte Lösung war für die meisten unbefriedigend und muss erst einmal medial verarbeitet werden. Ob man nun an den "Skandiamann" Stig Engström als Täter glaubt oder nicht: Fakt ist, dass die Polizei ihm zu Beginn der Ermittlungen nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet hat. Und es ist nicht möglich, dies nachzuholen, denn er ist verstorben und mögliche Beweismittel sind längst verschwunden.

Damit gibt es durchaus eine Parallele zu Corona: Damals wie heute sind die Versäumnisse in der Anfangszeit durch nichts wieder gut zu machen. Als mehrere Länder Mitte März in den Lockdown gingen, gab es in Schweden die Empfehlung, zuhause zu bleiben, wenn man sich krank fühlte. Ab 19. März hieß es, man möge überlegen, ob eine Reise wirklich notwendig sei. Ende März gab es erst Auflagen für die Gastronomie und ein Versammlungsverbot von mehr als 50 Personen. Da waren die 115 schon infiziert, die am 8. April starben, und vermutlich auch die 115, die am 15. April starben, den beiden tödlichsten Tagen der gesamten Phase. Erst danach ging die Kurve langsam abwärts. Stand am 11. Juni: 4814 Covid-19-Tote.

Selbstkritik gab es diesbezüglich vor kurzem sogar von Anders Tegnell im Interview mit Sveriges Radio . Dort äußerte er, man hätte auch in Schweden bereits zu Anfang mehr Maßnahmen gegen das Coronavirus ergreifen müssen. Hätte man damals gewusst, was man heute über das Virus wisse, wäre man wohl auf einem "Mittelweg" zwischen den damaligen schwedischen Maßnahmen und einem Lockdown wie in vielen anderen Ländern gelandet. Es seien zu viele zu früh gestorben.

Das schwedischsprachige finnische Fernsehen (Svenska Yle) fragte ihn daraufhin, was Schweden richtig gemacht habe. Es sei richtig gewesen, die Schulen nicht zu schließen, so Tegnell. Dies hätte extrem negative Folgen für die Kinder gehabt. In einer Zusammenstellung der Behörde zum Thema Kinder und Schulen kommt man zu dem Schluss, dass Lehrer nicht häufiger krank geworden seien als andere Berufsgruppen auch. Deshalb geht man davon aus, dass Schulen keine große Rolle in der Verbreitung des Virus spielen. Epidemiologin Carina King und andere kritisieren allerdings, dass man die Gelegenheit nicht genutzt habe, um die Übertragungswege mit und zwischen Kindern besser zu erforschen. Nun ist die Chance vorbei: In Schweden beginnen die Sommerferien.

Handelt es sich bei den vielen nun erfassten Covid-19 Fällen tatsächlich um solche, die bisher nur nicht erfasst wurden, weil sie nicht krank genug waren, lässt sich nur erahnen, wie umfangreich die Virusverbreitung im April gewesen sein muss. Die umfassende Test-Strategie, die nun verspätet Fahrt aufnimmt, könnte helfen, das Virus besser einzudämmen. Nachdem die akute Belastung gesunken ist, haben die ersten Regionen auch wieder damit begonnen, Infektionsketten nachzuverfolgen. Allerdings konnten bei einer Umfrage des schwedischen Fernsehens nur fünf Regionen zusichern, dass sich tatsächlich jeder testen lassen könne, der wolle - und vier davon haben weniger als eine halbe Million Einwohner. Stockholm erklärte, man wisse nicht, wann dieses Ziel erreicht werden könne.

Passend zu den Sommerferien ist es nun aber auch Schweden wieder erlaubt, mit gutem Gewissen zumindest im eigenen Land zu reisen. Bis dahin galt die Empfehlung, man möge sich nur im Umkreis von zwei Autostunden um den Wohnort aufhalten, um das Virus nicht in andere Landesteile zu schleppen. Alle anderen Empfehlungen wie "Abstand halten" und "Menschenmengen meiden" seien weiterhin in Kraft, erinnern die Behördenvertreter. Die Lage sei weiterhin ernst.

Wie die Virusgefahr immer wieder unterschätzt wird, zeigt gerade ein Ausbruch auf der kleinen Insel Vrångö im Göteborger Skärgården: 100 Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, hat Symptome bekommen. Inzwischen läuft ein Massentest. Die Fälle lassen sich auf ein Chortreffen zurückführen.

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