Scotland, the Brave
Das Referendum und die soziale Komponente in der europäischen Politik
Man kann nur begeistert sein, wenn man die Abstimmung in Schottland im Referendum über eine schottische Unabhängigkeit sieht. Es hat die Wähler an die Urnen getrieben und über Monate dafür gesorgt, die Grundfragen der schottischen Nation diskutiert zu sehen.
Das Ergebnis des Referendums ist eindeutig und weitreichend. Egal, ob man für oder gegen eine schottische Unabhängigkeit gestimmt hat, alle haben für mehr Rechte für Schottland im Vereinigten Königreich gestimmt, zu der sich alle Parteien in London feierlich verpflichtet haben. Es wird die entscheidende Frage an den britischen Premierminister Cameron sein, ob er nicht vor Jahren durch sein Beharren auf "für oder gegen das Vereinigte Königreich" diese Zuspitzung der Entscheidungsfindung alleine in seiner harschen Haltung gegen den schottischen Premierminister Salmond zu verantworten hat?
Die schottischen Wähler haben gestern den Spieß herumgedreht. London muss jetzt liefern, was es zugesagt hatte. Die Schotten werden es einfordern - und dabei sieht sich London jetzt einer geschlossenen Front aus Schottland gegenüber. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die weitreichenden Zusicherungen Londons an Schottland, um ein Votum zugunsten der Unabhängigkeit zu verhindern, rein taktischer Natur gewesen sind. Schottland wird jetzt genau hinschauen.
Das schottische Votum hat gewaltige Lehren für uns parat. Die Diskussion über ein "ja oder nein" zur schottischen Unabhängigkeit hat deutlich gemacht, wie sehr in Schottland eine Diskussion geführt worden ist, die eigentlich von uns allen bestritten werden müsste. In welchem Maße beugen wir uns dem Modell eines halb-feudalen Regierungssystems, wie es für das politische System in London mit seinen Steuerungselementen aus der Finanzzentrale "City of London" bestimmend ist - oder sind wir weiter der parlamentarischen Demokratie verpflichtet, für die Menschen in Schottland gekämpft haben?
Nichts war für einen Kontinentaleuropäer überraschender als diese Fragestellung. Macht sie doch deutlich, dass wir alle bei London weniger deutlich hinsehen, als wir es eigentlich machen müssten, sollten wir selbst uns nicht auf Dauer in einer von der Bundeskanzlerin propagierten "marktkonformen Demokratie" nach Londoner Muster wiederfinden.
Gleich, wie die Schotten abgestimmt haben. Schottland steht eigentlich wie ein Mann für die soziale Komponente in der europäischen Politik. Nichts hat die Menschen in Schottland mehr umgetrieben, als die immer größer werdende soziale Ungleichheit auf der Insel. Im Vereinigten Königreich werden die sozialen Brüche auf Dauer weitergehen - und das schottische Votum vom Donnerstag wird dazu beitragen, die Auseinandersetzung darüber auf der ganzen Insel zu führen.
Es muss überhaupt nicht betont werden, wie sehr uns das alle betrifft, weil das zu einem Zeitpunkt, an dem die soziale Komponente der europäischen Politik des Philosophie des schrankenlosen Kapitalismus nach dem Modell des "Transatlantischen Freihandelsabkommens" geopfert werden soll, das gesamteuropäische Kernproblem ist. Nach dem Siegeszug des "shareholder value" wäre so ein Freihandelsabkommen der nächste Fischzug gegen ein prosperierendes Europa.
Schottland stellte im Vereinigten Königreich traditionell die Soldaten, die für den britischen Militarismus und Imperialismus als erste an fremde Fronten geschickt wurden. Doch da bewegt sich etwas. Schottland hat mit seinen Selbständigkeitsbestrebungen ein deutliches Signal gegen diese Form von Außenhandeln durch London gesetzt - unabhängig davon, wie lange die britischen Atom-U-Boote noch in den bequemen schottischen Gewässern vor Anker liegen können.
Die Diskussion über die schottische Unabhängigkeit hat seit dem Syrien-Abenteuer, bei dem die USA, Frankreich und Großbritannien am Anfang des syrischen Bürgerkrieges standen, dazu geführt, dass Cameron das Unterhaus in London fürchten und von kriegerischen Abenteuern aus innenpolitischen Gründen Abstand nehmen musste. Es wäre für uns alle besser, wenn in dieser Frage London wegen der Beschäftigung mit schottischen Angelegenheiten gleichsam lahmgelegt werden sollte. Auch das ist ein Ergebnis des Referendums in Schottland.
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