Sechs Monate Ukraine-Krieg: Eine verheerende humanitäre Bilanz
Vor allem Frauen und Kinder sind vom Ukraine-Krieg schwer betroffen. Viele von ihnen sind vertrieben worden und auf der Flucht. Bild: manhhai / CC BY 2.0
Tausende Zivilisten tot, Millionen auf der Flucht, zerstörte Infrastruktur, Vergewaltigungen und Angst: Das ist die humanitäre Bilanz nach sechs Monaten Krieg in der Ukraine. Die UN sagt: Russland muss den sinnlosen Krieg beenden.
In der Ukraine wurden am Mittwoch mindestens 25 Menschen getötet und mehr als 30 weitere verletzt, als eine Explosion einen Bahnhof in der östlichen Stadt Tschaplyne erschütterte. Unter den Toten waren auch zwei Kinder. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte den Raketenangriff, erklärte jedoch, dass nur ukrainische Soldaten getötet worden seien.
Der Angriff ereignete sich zu einem Zeitpunkt, an dem die Ukraine 31 Jahre Unabhängigkeit seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion feierte und öffentliche Versammlungen unter Hinweis auf die Gefahr russischer Angriffe auf zivile Ziele absagte.
Gleichzeitig kam der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen, um den Krieg in der Ukraine sechs Monate nach dem russischen Einmarsch zu diskutieren. UN-Generalsekretär António Guterres forderte ein Ende des "sinnlosen Krieges" Russlands.
Während dieser verheerenden Zeit wurden Tausende von Zivilisten getötet und verletzt, darunter Hunderte von Kindern, und unzählige andere haben ihre Familienmitglieder, Freunde und Angehörige verloren. Die Welt hat schwere Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht erlebt, für die kaum jemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Und Millionen von Ukrainern haben ihr Zuhause und ihr Hab und Gut verloren und wurden zu Binnenvertriebenen oder Flüchtlingen.
Das sind die konkreten Zahlen: Vom 24. Februar 2022, dem Beginn des bewaffneten Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine, bis zum 21. August 2022 verzeichnete das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) 13.477 zivile Opfer in dem Land: 5.587 Tote und 7.890 Verletzte. Das OHCHR geht aber davon aus, dass die Zahl der zivilen Opfer deutlich höher ist als die Zahl, die die Vereinten Nationen bisher bestätigen konnten.
Zudem sind nach offiziellen Meldungen der jeweiligen Regierungen 10.000 getötete Soldaten auf ukrainischer Seite und die gleiche Zahl auf russischer Seite zu verzeichnen. Auch diese Angaben sind sehr wahrscheinlich viel zu niedrig angesetzt. Eine US-Untersuchung spricht sogar von 75.000 gefallenen bzw. verwundeten russischen Soldaten.
Die humanitäre Situation in der Ukraine hat sich im Verlauf des Krieges außerdem verschlechtert. Fast sieben Millionen Flüchtlinge werden in europäischen Ländern nun versorgt, während nach Angaben der International Organisation for Migration (IOM) rund acht Millionen Menschen innerhalb der Ukraine vertrieben worden sind. Davon sind 90 Prozent Frauen und Kinder. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung hat schon bis zum 20. März ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen, die Hälfte aller Kinder in der Ukraine befindet sich auf der Flucht. Der Ukraine-Krieg löste die größte Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus.
Pramila Patten, UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, berichtet zugleich von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen im Zuge des Krieges, siehe den Telepolis-Beitrag vom 18. Juni. Stand 3. Juni sind danach bisher 124 Berichte über derartige Übergriffe von der UN überprüft worden, in 102 Fällen soll es sich bei den Tätern um russische Soldaten, in zwei weiteren Fällen um mit Russland verbundene Streitkräfte gehandelt haben. Aber, wie Patten betont, handele es sich dabei nur um "die Spitze des Eisbergs", denn über Vergewaltigungen werde vor allem in Kriegsgebieten "chronisch zu wenig berichtet".
Wir alle haben die Berichte über schreckliche Akte sexueller Gewalt gehört, Berichte über Gruppenvergewaltigungen, Vergewaltigungen vor Familienmitgliedern, sexuelle Übergriffe mit vorgehaltener Waffe, Frauen, die infolge von Vergewaltigungen schwanger geworden sind, sowie Berichte über Flüchtlingsfrauen und -kinder, die von Menschenhändlern und Sexualstraftätern ausgebeutet werden, die diese Unruhen nicht als Tragödie, sondern als Gelegenheit zum Missbrauch der Schwachen betrachten.
Patten fordert, dass die Täter nicht straffrei davonkommen dürften.
Zukunft für die Ukraine sieht düster aus
Viele Menschen in der Ukraine leiden zudem unter den ständigen russischen Bombardierungen. So erklärte Oksana Dutchak, Soziologin und Mitherausgeberin des ukranischen Magazins Commons, gegenüber dem US-Programm Democracy Now:
Ich persönlich bin aus verschiedenen Gründen weggegangen, aber natürlich auch aus Angst um mein Leben und das meiner Kinder, und weil ich nicht unter dem ständigen Druck der Angst leben kann, den man mit den täglichen Beschüssen und den täglichen Sirenen und Warnungen über die Möglichkeit eines Angriffs hat.
Dazu kommen schwere Vorwürfe wie im Fall der ukrainischen Stadt Buschta, dass russische Truppen Kriegsverbrechen begangen haben. Währenddessen fliehen russische Dissidenten, die gegen den Angriffskrieg Russlands opponieren, ihr Land, nachdem sie Opfer von gewaltsamen Razzien geworden sind.
In einem Bericht von Amnesty International heißt es auch, dass die ukrainischen Streitkräfte das Leben von Zivilisten gefährden, indem sie in bewohnten Wohngebieten, darunter auch in Schulen und Krankenhäusern, Stützpunkte errichten und Waffensysteme einsetzen. Nach Ansicht von Amnesty verstoßen solche Kampftaktiken gegen das humanitäre Völkerrecht. Der Bericht löste eine wütende Reaktion von Präsident Wolodymyr Selenskyj aus.
Aggressionen gegen unseren Staat sind nicht provoziert, invasiv und, offen gesagt, terroristisch. Und wenn jemand einen Bericht erstellt, in dem das Opfer und der Angreifer angeblich in gewisser Weise identisch sind, wenn einige Daten über das Opfer analysiert werden, während etwas, was der Angreifer zu dieser Zeit getan hat, ignoriert wird, dann kann dies nicht toleriert werden.
In einer Erklärung sagte Amnesty International:
Dass sich das ukrainische Militär in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet es nicht davon, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren.
Die Leiterin des ukrainischen Zweigs von Amnesty, Oksana Pokalchuk, ist aufgrund des Berichts bereits zurückgetreten. Mehrere Kollegen sind diesem Beispiel gefolgt, darunter der Mitbegründer von Amnesty Schweden und nicht weniger als achtzig Mitglieder von Amnesty Norwegen. Amnesty hält weiter an den Befunden der Untersuchung fest, hat aber eine Überprüfung eingeleitet.
Die Schäden für die Ukraine und die Infrastruktur sind im „Nebel des Krieges“ nur schwer abzuschätzen. Aber wie Rajan Menon von der Columbia University in einem Artikel auf Telepolis sagt:
Wie wir alle nur zu gut wissen, sind viele Städte des Landes schwer beschädigt oder liegen in Trümmern, einschließlich der Häuser und Wohnhäuser der Menschen, der Krankenhäuser, auf die sie sich einst verließen, wenn sie krank waren, der Schulen, in die sie ihre Kinder schickten, und der Geschäfte, in denen sie Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse kauften. Sogar Kirchen wurden getroffen.
Die Versorgungslage wird zunehmend prekär. So schildert Susanne Aigner auf Telepolis, wie die Belieferung mit Lebensmitteln ein Problem wird und Bauern verzweifelt versuchen, trotz Mangel an Saatgut und Treibstoff sowie den anhaltenden Bombardierungen, die Produktion aufrechtzuerhalten.
Die Zukunft für die Ukraine sieht düster aus, sollte der Krieg weiter gehen. Der britische Guardian verweist darauf, dass bei weitem nicht genug Geld für den Wiederaufbau vorhanden sei – und viele Häuser nordöstlich und nordwestlich von Kiew sind auch fünf Monate nach dem Abzug der Russen noch immer zerstört. Die verzweifelten Bewohner leben oft in Garagen oder provisorischen Gebäuden vor Ort.
Binnenvertriebene müssen oft in Schulen oder Kindergärten wohnen, also in provisorischen Unterkünften, in denen die Menschen nur schwer über einen längeren Zeitraum bleiben können. In der Ukraine klafft aufgrund des Krieges ein Haushaltsloch von fünf Milliarden Dollar pro Monat; Hilfe und Wiederaufbau werden ein Vielfaches davon kosten.
Es sollte daher vor allem aus humanitärer Perspektive oberste Priorität sein, auf eine diplomatische Lösung zur Beruhigung und Beendigung des Kriegs zu drängen. Doch bisher ist das leider von keiner Seite in Sicht.