Sehnsucht nach Härte
Zurück zur Strenge, Teil 1
Ein Treffen im engeren Kreis, die ganze Aufmerksamkeit gehört dem Zweijährigen, der wohlerzogen bei Tische sitzt und Beeren mit Schlagsahne in sich hineinlöffelt. "Gute Schule", meint anerkennend die Mutter eines anderen Kindes, eine Lehrerin, bekannt für ihre Strenge. "Nicht ganz", antwortet darauf der Vater, "der hat sich das nur abgeschaut. Ich halte mich da an den Satz meines Arztes, der Vater von sechs Kindern ist. Nach vier Kindern habe er es mit der Erziehung gelassen, hat er mir einmal gesagt, 'Die machen das dann von alleine. Weniger ist da besser.'" Niemand lacht, auch kein Schmunzeln, ein etwas konsternierter Ausdruck im Gesicht der Lehrerin, ein verlegenes, kurzes Höflichkeitslächeln ihres Mannes, dann ein kräftiger Einwand vom Pensionär am Tisch, Großvater von zwei Enkeln: "Unsinn. Kinder brauchen Führung, wenn nötig, muss man ihnen sogar situationsbedingt den Willen brechen, auch wenn's weh tut. Denn Sie wissen nicht, was sie tun, wir schon."
Erziehung, so scheint es, ist eine Sache, die hierzulande nicht ernst genug genommen werden kann. Leicht dahingesagtes ist da offensichtlich fehl am Platz. Man brauche sich nur die Zustände an den Schulen (Beispiel Rütlischule) anzuschauen, verwahrloste Jugendliche in Fußgängerzonen, in S-Bahnen, an Bahnhöfen, mittags bei den Talk-Shows im Unterschichtenfernsehen und schließlich die PISA-Ergebnisse und man sehe schon, wohin das führe, das mangelnde Engagement bei der Erziehung, die Furcht davor, dem Nachwuchs Grenzen zu stecken und das Defizit an Disziplin, so die grobe Richtung von Argumenten, die nicht nur von Altvorderen sondern auch von Jüngeren geäußert werden.
Im September lieferte eine Erziehungsserie in der Bildzeitung dazugehörige Erkenntnisse von einer Autorität auf dem Gebiet des Erziehungswesens: Tipps zur "richtigen Erziehung" von "Deutschlands strengstem Lehrer", dem ehemaligen Leiter der Internatsschule Schloss Salem, Bernhard Bueb. Mit Zitaten, die der "Spaßgeneration" wie deren ungeliebten Vorgängern, den sogenannten Alt-68ern, nicht gut gefallen dürften: Ziel der Erziehung sei, war dort u.a. zu lesen, die richtigen Voraussetzungen für eine Befähigung zur Arbeit zu schaffen, genauer: "Verzicht auf Freizeit, auf Genuss, auf Ausruhen, auf Müßiggang, auf Unterhaltung, Verzicht, also auf alles, was Spaß macht."
Nun weiß man, dass sich die Bild-Zeitung an einem Zielpublikum orientiert, dem man komplexe Sachverhalte in einfacher, kurzer Form präsentiert. Ein Interview mit Bueb zum selben Thema, das einige Tage darauf im Spiegel erschien, trug einen weniger apodiktischen Titel: "Disziplin ist das Tor zum Glück", war ausführlicher und fügte der strengen Pädagogik Nuancen hinzu, welche die Forderung nach mehr Disziplin in einem schon weniger kruden Licht zeigten. Beide Artikel waren offensichtlich Teil einer Öffentlichkeitskampagne zu seinem jüngst erschienenen Buch „Lob der Disziplin“, das auch beim philosophischen Fernsehquartett gut ankam.
Das Pendel schlage jetzt einfach auf die andere Seite aus, war in der Runde um den Philosophen Sloterdijk zu hören. Nach der anti-autoritären Schlagseite sei jetzt ein deutlicher Trend zur anderen Seite, zu Disziplin und Autorität zu verzeichnen. Kein Ausschlag der a priori zu verurteilen sei, da einerseits im Buch deutlich zu spüren sei, mit welcher Liebe der Pädogoge zu Werk ginge und er nichts damit am Hut hätte, woran sich Kritiker bei Erwähnungen von Sekundärtugenden gerne festbeißen würden - der Verwandschaft zum Gedankengut des Nationalsozialismus.
Andrerseits stecke in diesem Trend ein beachtenswertes neues Phänomen, das auf veränderte gesellschaftliche Werte und deren Einbettung verweise. Disziplin werde in dieser Pädagogik nämlich dialogisch gedacht, kein simples Oktroyieren von Werten, sondern eine Vermittlung über ein Zwiegespräch, das seine großen philosophischen Vorläufer in der Pädagogik habe. Diese Einbindung in den Dialog zeige zum anderen auch, dass die Zeit für das Paradigma des Einzelgängers zuende sei. Werte ließen sich jetzt nicht mehr, wie etwa im Existentialismus, der nach dem Ende des 2. Weltkrieges seinen Höhepunkt feierte und als Reaktion auf furchtbare Kollektiverfahrungen zu verstehen sei, alleine auf Selbstverantwortung und die Freiheit des Einzelnen gründen. Sie verlangten im Selbstverständnis der heutigen Gesellschaften vielmehr die interaktive, dialogische Bestätigung und Auseinandersetzung.
Es gehe für junge Menschen nicht mehr darum, seinen Weg alleine zu finden, die Freiheit bestimme sich jetzt im Austausch und in der Kommunikation mit anderen. Während man das Erziehungsmodell nach '68 mit dem Bild einer Lotusblüte (Safranski) umschreibt, die man ins Wasser legt, so dass sie von alleine aufblüht, tendiert man jetzt wieder zu anderen botanischen Bildern, die der Zucht näherstehen, wobei unbehagliche Konnotationen durch das Dialogische gemildert bzw. entfernt werden sollen. Das sei an sich nichts Schlechtes und auf der Höhe der Zeit.
Die Anhänger des Trends "Zurück zur Disziplin" haben gute Referenzen im Gepäck: Das oft zitierte Beispiel von Grundschülern in St.Pauli, die einige Wochen lang für ein Tanzstück unter der strengen Führung englischer Choreographen probten, erstaunliche Resultate feierten und Spaß an der Sache hatten. Und natürlich eine ganze Reihe von Künstlern, Wissenschaftlern, Sportlern und anderen erfolgreichen Menschen, die es ohne Disziplin nicht geschafft hätten.
Schon klar: Es geht nicht ohne Disziplin, nicht in der Kindererziehung und nicht im Erwachsenenleben. Was einer Frau entgegenhalten, deren Mann gerade gestorben ist, die sagt, sie schaffe es nur mit einer großen Portion Selbstdisziplin? Und dass es Kinder, die in festen Strukturen und mit Regeln aufwachsen, leichter haben als andere, muss auch nicht eigens erwähnt werden. Doch was den Disziplin-Trend in der Kindererziehung betrifft, stellen sich einige Fragen. Es geht bei den Gesprächen über die richtige Erziehung meist nicht um Disziplin alleine. Die Autorität gehört auch dazu, selbst wenn sie nicht immer erwähnt wird. Bueb setzt auf die „vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin“:
Wenn Bueb anfängt, Disziplin und Gehorsam zu predigen, riecht es zuweilen nach Pulverqualm im Generationenkrieg.
Reinhard Kahl
Wird Autorität jetzt neu aufgeladen? Folgt man Bueb oder dem eingangs erwähnten Großvater so zeigt sich das Bild eines pädagogischen Eifers, das beim Eigenwillen des Kindes massiv eingreift kraft einer Autorität, die sich quasi herrschermäßig über das Kind stellt. Ist das jetzt wieder nötig, um ein Kind zu fördern?
Es gibt andere Konzepte, die ebenfalls Erfolg haben. Nach einer Untersuchung, die im amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde, lieferten zwölfjährige Montessouri-Schüler im Vergleich mit einer gleichaltrigen Kontrollgruppe "kreativere Aufsätze mit vergleichsweise fortgeschrittenem Satzkonstruktionen ab" (vgl. Phantasievoller und sozialer).
In der Rechtschreibung unterschieden sich die Gruppen nicht. Schriftliche Aussagen ließen erkennen, "dass sie einen ausgeprägteren Gemeinschaftssinn entwickelt hatten" (Süddeutsche Zeitung, 2/3.Oktober). Schon am Ende der Kindergartenzeit hatten Montessouri-Zöglinge bessere Noten beim Lesen und Rechnen, sie waren überlegen im sozialen Umgang mit Gleichaltrigen und reagierten positiver in kritischen Situationen im Vergleich zu Kindern, die keine derartige Erziehung genossen haben. Der Ansatz der Montessouri-Erziehung liegt in der Entwicklung und Förderung des eigenen Willens und in der Berücksichtigung der individuellen Wünsche der Kinder.
Ob man nun die pädagogischen Grundlagen der Montessouri-Erziehung teilt, sei dahingestellt, sie wirft aber ein Licht auf das anmaßende Moment der rigiden Verfechter der Rückkehr von Disziplin und Autorität: Wissen Erwachsene tatsächlich prinzipiell besser über das Wohl ihrer Kinder Bescheid als die Kinder selbst? Entspringt das Loblied der Disziplin nicht auch einer tief verunsicherten Gesellschaft, deren erwachsene Mitglieder orientierungslos sind und sich selbst nicht mehr vertrauen?
Davon abgesehen gibt diese Diskussion, wie sie in manchen Medien geführt wird, sich den Anschein, als ob es keine sozialen Unterschiede gebe. Es gibt große Unterschiede in den materiellen Bedingungen und im Bildungsstandard von Familien, die das Aufwachsen und die Erziehung der Kinder prägen. Die Rückkehr von Disziplin und Autorität als neu entdeckter Königsweg um die Zukunftschancen aller Kinder wesentlich zu verbessern?
Teil 2: Mit mehr Drill in eine bessere Gesellschaft?