Seiltanz auf der Schnittstelle
Andrew Bujalskis Film "Computer Chess" ist eine Hommage an künstliche und natürliche Intelligenz gleichermaßen
Wir nannten ihn Michi, um ihn von dem anderen Michael in unserer Schulklasse zu unterscheiden. Nach der Schule blieben wir noch lange in Kontakt und teilten sogar eine Weile die Wohnung. So war ich ganz in der Nähe, als Michi um 1978 herum vom digitalen Blitz getroffen wurde.
Ich konnte die Wucht des Einschlags spüren, ohne selbst davon mitgerissen zu werden. Michi, der die Schule kurz vorm Abitur abgebrochen hatte, hatte vom Arbeitsamt das Angebot einer Umschulung zum Datenverarbeitungskaufmann bekommen und fuhr voll darauf ab. Er kaufte sich einen PET 2001, den ersten Personal Computer, der gerade erst auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas vorgestellt worden war, und programmierte drauf los.
Im Zimmer neben ihm hörte ich ständig den wuchtigen Fernschreiber rattern, mit dem er rätselhafte Zahlenkolonnen ausdruckte und die Wände damit tapezierte. Längst hatte er höhere Programmiersprachen wie Basic hinter sich gelassen und arbeitete auf der Ebene der Maschinensprache, drang immer tiefer in das System ein. "Es ist, als würde ich gleichzeitig die Gleise legen, über die ich unter Volldampf mit einer Lokomotive fahre", sagte er einmal und seine Augen funkelten.
Wie Michi ist es zu dieser Zeit vielen ergangen. Ich musste an ihn denken, als ich jetzt Computer Chess sah, einen Film von Andrew Bujalski, der diese wichtige Phase der Computergeschichte aufgreift. Die digitale Datenverarbeitung verließ den abgeschotteten Bereich der Großforschungseinrichtungen und wurde auf einmal allgemein zugänglich.
Bis dahin hatte man noch seine vorbereiteten Lochkarten im Rechenzentrum abgeben müssen, um dann irgendwann später einen Stapel Ausdrucke mit den Ergebnissen abzuholen. Doch jetzt konnte sich jeder selbst an die Tastatur setzen und das grenzenlose Universum erforschen, das sich aus den unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten von 0 und 1 ergab. Die menschliche Intelligenz hatte einen ernsthaften Herausforderer bekommen - der sich rasch zu einem machtvollen Spiegel ihrer selbst entwickeln sollte.
Turnier der Schachprogramme
Bujalskis Film spielt ein paar Jahre später. Irgendwann zu Beginn der 1980er-Jahre treffen sich irgendwo in einem entlegenen Hotel die Teilnehmer eines Computerschachturniers, um die von ihnen entwickelten Programme gegeneinander antreten zu lassen und über Algorithmen und künstliche Intelligenz zu diskutieren.
Es wirkt anfangs wie eine Dokumentation, als hätte jemand 30 Jahre altes Filmmaterial gefunden. Wie die Leute ihre Stellungnahmen in die Kamera sprechen, wie sie bei der Podiumsdiskussion zum Auftakt der Veranstaltung miteinander umgehen - das scheint alles vollkommen authentisch, zudem mit unruhiger Hand gefilmt, wie von einem Amateur halt.
Nach und nach wird dann aber deutlich, dass da ein Regisseur seine formende Hand im Spiel hatte. Immer intimer werden die von der Kamera eingefangenen Situationen. Bujalski inszeniert das Turnier der Schachprogramme als mentalen Balanceakt auf der Schnittstelle zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz, bei dem das Gleichgewicht nicht leicht zu halten ist und manch einer ins Straucheln kommt.
Das ist witzig, wenn Informatiker darüber rätseln, ob die Züge der von ihnen entwickelten Schachprogramme nun genial oder vollkommen bescheuert sind. Es ist quälend, wenn ein schüchterner Student auf Teilnehmer einer Psychogruppe trifft, die im gleichen Hotel auf völlig andere Weise den menschlichen Geist erkunden und den jungen Nerd zum Sex verführen wollen. Es ist rührend, wenn dieser offenbar ungewöhnlich begabte Wissenschaftler vorsichtig Kontakt mit der einzigen weiblichen Teilnehmerin des Turniers aufnimmt, um gemeinsam ein Experiment durchzuführen.
Welches ist die optimale Menge Whisky, um die Kreativität zu fördern, ohne das logische Denken einzuschränken?
Und der Film ist voller treffender Dialoge. Ständig umkreisen die Protagonisten das Mysterium des menschlichen Geistes, der im Computer plötzlich ein ganz neues Werkzeug der Selbsterkenntnis gefunden hat. Welches ist die optimale Menge Whisky, um die Kreativität zu fördern, ohne das logische Denken einzuschränken? Wie verhalten sich gute zu schlechten Verbindungen im Gehirn? Warum zieht der Computer seinen Turm auf das Feld vor der gegnerischen Dame, statt sie zu schlagen?
Bujalski gilt als führender Vertreter des "Mumblecore", einer Stilrichtung, die mit sehr kleinen Produktionsbudgets, improvisierten Dialogen und vielen Laienschauspielern arbeitet. Seinen Charakteren kommt er damit so nahe, wie es einem Big-Budget-Blockbuster kaum möglich wäre. Zum Abspann lässt Bujalski eine Frau mit Cowboyhut und Gitarre eine "Ode an die Künstliche Intelligenz" singen. Doch sein Film ist zugleich auch eine Ode an die menschliche Intelligenz und die Kraft der Fantasie - verwirrend, inspirierend, beglückend.
Zu Michi habe ich den Kontakt vor einigen Jahren verloren. Er ist kommentarlos abgetaucht, unauffindbar. Eine Spätfolge der digitalen Turbulenzen? Michi, wenn du das hier liest, melde dich bitte. Wir sollten mal wieder ins Kino gehen.