Selfmade City?
Stadt und Urbanität vor neuen Herausforderungen
Was den Deutschen zu Silvester "Dinner for One", das ist den Russen die melancholische Komödie "Ironie des Schicksals", die seit den 70er Jahren alljährlich am Jahresende im nationalen Fernsehen gezeigt wird. Den Erfolg des Films, der den gleichförmigen Platten-Massenwohnungsbau in der UdSSR als Errungenschaft preist, erklärt sich wohl mit der darin versteckten, so unfreiwilligen wie lakonischen Systemkritik. Insbesondere, wenn die Kamera über ein weißgraues Häusermeer schwebt und Hunderte Hochhäuser mit einem Schwenk erfasst, und zugleich eine sanfte Stimme aus dem Off den Zuschauer anspricht:
Es gab Zeiten, da fühlte sich ein Mensch verloren und einsam, wenn er in eine fremde Stadt kam. Jetzt ist das ganz anders: Er kommt in eine beliebige, fremde Stadt und er fühlt sich wie zu Hause.
Wobei das mit dem "Zu-Hause-Fühlen" nicht mehr so einfach ist. Zumindest hierzulande. Die Ansprüche an die Qualität der gebauten Umwelt sind fraglos gestiegen. Vorbei die Zeit, da Zukunftspläne visionärer Art geschmiedet wurden, und sei es nur der Traum von ökologischer Nachhaltigkeit. Auf die Menschen kommt es an. Das gilt auch für die aktuellen Proteste. Sie richteten sich gegen den Abriss gewachsener Strukturen und die Errichtung städtebaulicher Großinvestitionen: Etwa gegen Schloss-Neubau, gegen "Mediaspree" oder gegen den Ausbau der "A 100" in Berlin. In Hamburg gegen die "geldgesteuerte Planungskultur" im historischen Gängeviertel. Und - natürlich - gegen "Stuttgart 21". Denn am Neckar scheint der Umgang mit dem Bahnhofsareal längst eine Art Schicksalsfrage zu sein.
Generell jedoch lässt sich konstatieren, dass es weniger um Bauen geht als vielmehr um Nichtbauen. Um Bewahren und Schützen. Kein Abriss, kein Neubau, höchstens behutsame Reparatur. Erwachsen ist das öffentliche Interesse am gebauten Umfeld übrigens aus dem Europäischen Jahr des Denkmals, das 1975 den Umschwung der Planungskultur einleitete. Es war eine Krisenzeit, zwischen "Club of Rome", Ölkrise und absehbaren Wachstumsgrenzen. Nicht von ungefähr, dass sich in solchen Umbruchsphasen Bürgerbewegungen für das eigene Lebensumfeld, die Stadt und ihre Bauten starkmachen und einen kritischen, verantwortlichen Umgang mit Ressourcen einfordern.
Folgerichtig wurde (eine bestimmte Art von) Partizipation zum formalen Bestandteil der Bauleitplanverfahren. Und ist es nur scheinbar paradox, dass die 70er Jahre als hohe Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalismus, zugleich aber als Dekade des Bewahrens gelten. Dem liegt vielmehr eine gewisse Logik zugrunde. Nachdem Alexander Mitscherlich sehr folgenreich die "Unwirtlichkeit der Städte" konstatiert hatte, kam den Denkmalen eine neue gesellschaftliche Bedeutung zu: Sie wurden gleichsam zu Trägern emanzipatorischer Postulate gegen eben diese Unwirtlichkeit.
Bürgerbewegungen setzten sich erfolgreich gegen Abbruch und Auskernung von Altbauten zur Wehr und bekämpften den fortschreitenden "autogerechten" Kahlschlag der Innenstädte. Gründerzeit und Historismus wurden wieder entdeckt, ihre Wohnbauten neu geschätzt. Zugleich prägte Aldo Rossi mit seinem Rekurs auf die "europäische Stadt" und der Bedeutung von "monumenti" als "primäre Elemente" der Stadt eine ganze Generation von Architekten.
Forderung nach demokratischer Teilhabe am Lebensraum Stadt
Zwar war dies zunächst eine durchaus einflussreiche Bewegung, aber sie verschliff sich mehr und mehr - und verpuffte irgendwann ganz. In den letzten Jahren freilich ist das Interesse der Menschen an dem, was ihre Stadt und ihre Umgebung betrifft, hoch wie schon lange nicht mehr. Nicht immer artikuliert es sich allerdings zu den dafür von der Planung vorgesehenen Zeiten. Zudem wird sukzessive offenbar, dass es dort, wo sich Angebot und Nachfrage als treibende Kräfte der Stadtentwicklung etabliert haben, um die lokale Demokratie schlecht bestellt ist.
Mit dem Rückzug der öffentlichen Hand verlagern sich Macht und Entscheidungsbefugnisse von den politisch legitimierten Organen hin zu privaten Unternehmen, global agierenden Investoren und partikularen Interessengruppen. Und so nimmt es nicht wunder, wenn sich vielerorts - etwa unter dem Motto "Recht auf Stadt" - Bewohner und Bürger zusammenschließen, um ihrer Forderung nach demokratischer Teilhabe an politischen Entscheidungen, die das Leben aller in der Kommune betreffen, Nachdruck zu verleihen.
Eine konkrete Artikulation dessen stellt das Urban Gardening dar. Eine derzeit sehr populäre, "ökologische" Interventionsform, die die kleinbäuerliche Wirtschaft und Kultur wiederentdeckt hat, ohne sich aufs Land zurückziehen zu wollen. Urbane Landwirtschaft ist hier der Ausgangspunkt einer Suche nach dem "besseren Leben" in der Stadt, das nicht auf der Ausbeutung von Tieren, Böden und Menschen in der sogenannten Dritten Welt beruht, sondern mit saisonalen und regionalen Qualitäten experimentiert und die lebendigen Beziehungen und Netzwerke zwischen Menschen und Natur intensivieren will - und zwar weit jenseits des monetären Gewinns.
Was könnte man daraus lernen? Ohne die Bewegung des Urban Gardening überbewerten zu wollen: Immerhin fordert sie zu einer neuen Lesart von Stadt auf. Die in den letzten Jahren in vielen großen Städten entstandenen Gemeinschaftsgärten, Kiezgärten, Interkulturellen Gärten und Nachbarschaftsgärten zielen mit dem Garten als Medium zugleich auch direkt auf die Stadt als Lebensraum und senden visuelle Vorstellungen von Urbanität, die das Auge zunächst irritieren. Der Gemüseanbau in ausgedienten Bäckerkisten und umgebauten Europaletten auf dem stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof oder am Kreuzberger U-Bahnhof Moritzplatz, an der Hamburger Großen Freiheit in St. Pauli oder unter dem Münchener Olympiaturm hinterfragt - mehr oder weniger subtil - unser Bild von der res publica.
Zu den wesentlichen Adressaten gehören dabei die Planer, aber auch die Stadtverwaltung, die man bei der Gestaltung des öffentlichen Raums darauf aufmerksam machen will, dass die Stadt kein Container für noch mehr Autobahnen und Shopping-Malls ist, sondern ein Lebensraum für alle, in dem auch über die Grundlagen der Existenz debattiert werden sollte. Die politischen Formen der Generation Garten zeichnen sich weniger durch Forderungskataloge als durch Performanz, durch punktuelle und symbolische Interventionen im öffentlichen Raum aus. (Auch das sog. Urban Knitting darf man als ein Beispiel dafür lesen.)
In Teilen der Fachwelt werden solche Entwicklungen durchaus goutiert. Nicht zu Unrecht resultiert daraus die These, dass die temporäre Nutzung das Gegenteil des Masterplans sei: Sie geht vom Kontext und vom aktuellen Zustand statt von einem fernen Ziel aus, sie versucht Bestehendes zu verwenden, statt alles neu zu erfinden, sie kümmert sich um die kleinen Orte und kurzen Zeiträume sowie die Zustände zu verschiedenen Zeitpunkten. Darin artikuliert sich durchaus ein alternatives Stadtplanungsverständnis: Statt die Entwicklung der Verwaltung und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen die Zwischennutzer ein Aneignen der Stadt zu erproben. Eine Do-it-yourself-Mentalität tritt an die Stelle des bloßen Konsum von Stadtgesellschaft und Stadtraum.
So weit, so gut. Folgt daraus, dass es heute eines neuen Verständnisses von Stadtentwicklung bedarf, bei dem Zwischennutzungen und urbane Nischen nicht als Versagen staatlicher Steuerung begriffen werden, sondern als Gewinn an Lebensqualität? Als Angebot für vielfältige Interpretationen der Stadt als Lebensraum?
Urbanismus ist eine kollektive Disziplin
Ganz so einfach ist die Sache nicht. Zwar mögen Urban Gardening und temporäre Aneignung den Bürgern durchaus die Chance bieten, sich aktiv an der Stadtgestaltung zu beteiligen. Zwar können ihre Wünsche, durch den nur zeitweiligen Charakter und die in der Regel geringen Investitionskosten der Projekte, vielleicht schnell und unbürokratisch umgesetzt werden. Andererseits aber droht dem demokratischen Prinzip der Partizipation in der Stadtplanung der Missbrauch als "Regieren durch Community". Dass viele "Raumpioniere" und andere Kreative mit solchen Strategien arbeiten, macht sie ja nicht sakrosankt. Zumal sie eine gewisse Gefahr in sich bergen: Dass die zu wenig gehört werden, die es am schwersten haben, eigene Interessen zu artikulieren oder für sie politische Repräsentanz einzufordern.
Der renommierte Ethnologe Wolfgang Kaschuba warf unlängst einen aufschlussreichen Blick hinter die hochkochenden Emotionen zum geplanten Teilabriss der East Side Gallery in Berlin:
Dieser Streifen zwischen Spree und East Side Gallery war früher ein Nicht-Ort, nicht begehbar, nicht einsehbar, nicht existent - außer für Grenzer, Schäferhunde und Flüchtlinge. Authentische Mauergeschichte findet sich hier keine mehr. Weshalb die ganze Aufregung? Weil das Spreeufer und mit ihm die East Side Gallery heute nicht nur ein historischer und symbolischer, sondern vor allem ein zutiefst moralischer Ort ist. Hier werden Stadtbilder und Stadtinteressen wie auf einer Bühne verhandelt. Denn hier kreuzen sich die stadtpolitischen Dynamiken. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie Mediaspree fordern ihr Recht auf Stadt ein, sie wollen planerisch mitbestimmen, städtische Räume sollen Lebensqualität garantieren. (...)
Das Spreeufer ist in diesem Abschnitt zu einem Spielplatz urbaner Interessen und Ideen geworden, zu einem strategischen Ort. Deshalb bilden sich hier so scharfe und scheinbar klare Frontstellungen heraus: Privatisierer gegen Verteidiger des öffentlichen Raums, Spekulanten gegen Kreative, Schickes gegen Szeniges. Natürlich werden dabei auch überzogene Klischees und Feindbilder ins Spiel gebracht. (…)
Dabei ist eine Entscheidung bereits gefallen: Gentrifiziert werden Spreeufer und East Side Gallery auf jeden Fall. Es ist nur noch nicht entschieden, ob ökonomisch oder eher symbolisch, ob durch ihre Zerstörer oder ihre Verteidiger.
Wolfgang Kaschuba
Es bleibt eine schier unüberbrückbare Ambivalenz. Privates Engagement mündet nicht zwangsläufig in einen "Bürgerlobbyismus 2.0". Das freiwillige und - zumindest seiner Rhetorik nach - gemeinwohlorientierte Agieren von Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen wäre jedenfalls differenziert zu betrachten, zumal diese in ganz verschiedenen Kontexten und in ganz unterschiedlichem Umfang zur Stadtentwicklung beitragen.
Die Leistungen, die zivilgesellschaftliche Akteure übernehmen, bestimmen diese jeweils selber und folgen damit zunächst nicht den Prioritäten der gewählten Repräsentanten oder der Planer, sondern ihren eigenen. Und doch sollte man daraus den Schluss ziehen, dass jene strategische Vorgangsweise in der Stadtplanung, wie man sie aus dem 20. Jahrhundert kennt, heute nicht mehr viel Sinn macht. Ihre Alternative liegt im Taktischen: Man muss Ziele formulieren und zu deren Umsetzung Partner suchen, die ähnliche oder zumindest teilweise kompatible Ziele haben.
Die Stichworte Beteiligung, Kooperation und private Initiative sind für die Stadtentwicklung im weitaus umfassenderen Sinne relevant, als es in Begriffen wie "Wutbürger" gefasst werden kann. In Analogie zum Fußball könnte man davon sprechen, dass die Stadt einem Spielfeld gleicht, auf dem nicht bloß die mit Nummern auf dem Rücken spielen. Auf diesem Feld gibt es Akteure, die treten, stoßen und ziehen; und es gibt Zuschauer, die mit Applaus, Pfeifen oder mit Schweigen Einfluss nehmen; es gibt Schiedsrichter, Berichterstatter, den Platzwart, Sponsoren des Vereins usw. Mit anderen Worten: Urbanismus ist eine kollektive Disziplin, in der jeder seine Rolle finden - und spielen - muss.
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