Sherlock Holmes mit Persönlichkeitsstörung
Es passiert alles nur in seinem Kopf: Die vielen Gesichter des "Dr. House"
"House M.D." ist anders. Diese Arztserie ist gar keine, und ihr Protagonist Dr. Greg House (gespielt vom britischen Komiker Hugh Laurie) ist seinem vermeintlichen Vorbild, Dr. Cox aus "Scrubs", höchstens oberflächlich so ähnlich, wie es dessen Autoren gerne behaupten. Stattdessen gibt House den Meisterdetektiv unter den Medizinern, der Folge für Folge in bester Hercule-Poirot-Manier alle Interpretationsmöglichkeiten der jeweiligen Symptome durchspielt - und ist dabei noch viel mehr der literarischen Tradition Sherlock Holmes' als dem gemütlichen Agatha Christie-Belgier verpflichtet. House zelebriert den Sieg über die Krankheit in ungehemmtem Wissenschaftsoptimismus, seit Kurzem in der vierten Staffel auf RTL und in der fünften Runde auf dem US-Sender Fox.
Die Andersartigkeit der Serie ergibt sich bereits nach wenigen Folgen aus der Plot-Struktur. Diese ist (fast) immer gleich: In der Pre-Credit-Sequenz sieht man die Erkrankung eines Episoden-Gaststars (ein Stilmittel, dessen ständige Wiederholung in späteren Folgen zum Beispiel dadurch ironisch gebrochen wird, dass nicht die Hauptfigur der Sequenz erkrankt, sondern irgendein Komparse sich als Patient der Episode entpuppt), es folgt die übliche Renitenz von House, den "Fall" anzunehmen, und schließlich - nach einer Reihe von Fehldiagnosen, während der sich der Zustand des Patienten stetig verschlechtert - des Rätsels Lösung in Form einer House'schen Epiphanie, und die Rettung des Patienten. Kaum einmal stirbt ein Patient (und wenn, dann nur, weil es ohnehin von Anfang an keine Hoffnung für ihn gab). Selbst langjährig Behinderte lernen hier das Laufen. "House", das ist ganz offensichtlich, steht in der wissenschaftsoptimistischen Tradition eines Sherlock Holmes. Die unumstößliche Überzeugung, dass es für jedes Rätsel - durch logische Deduktion - eine Lösung gibt, treibt House bis zur Obsession. Und es ist genau dieses sichere Vertrauen, das man als Zuschauer dem Episodenplot entgegenbringen kann, welches überhaupt ermöglicht, sich auf die detaillierte Figurenzeichnung und die subtil angelegten Subtexte zu konzentrieren.
Obwohl "House" aber auf billige Cliffhanger verzichtet, verbindet die reziprok-reflexive Rahmenerzählung, in dessen Verlauf das Innenleben und die Vorgeschichte aller Figuren aufgedeckt wird, die Anti-Arztserie mit der Robinsonade "Lost". Nur dass das Aufdecken der Hintergründe weniger vordergründiger Effekt als vielmehr hauptsächlicher Motor der Serie ist. "House" scheint sich nicht vorwärts zu entwickeln, sondern lediglich zu entfalten, und in dieser Tendenz ist die ästhetisch hoch stilisierte und in einigen Elementen beinahe surreal anmutende Serie geradezu naturalistisch: "House" dreht sich nie um ein "Wie geht es weiter", sondern immer um das "Was macht er als nächstes". Und die unverhohlen zentrale Rolle, die der Titelheld der Serie einnimmt, ist wohl beispiellos.
Sie geht sogar so weit, dass sich alle Nebenfiguren - sowohl der ersten drei als auch der vierten Staffel - als externalisierte Persönlichkeitsteile des Protagonisten verstehen lassen, so wenig ist ihre Interaktion mit der Welt außerhalb von Houses direktem Dunstkreis. Natürlich: Cameron, Chase und Foreman erledigen für House die Labor- und generelle Drecksarbeit, doch ist das - wie Kritiker gerne anmerken - eigentlich keine würdige Aufgabe für einen Mediziner in einer prestigeträchtigen Anstellung. Ihr eigentlicher Zweck - sowohl diegetisch als auch exegetisch - ist lediglich der Dialog mit dem Protagonisten. Ebenso wie die Figur House seine Assistenten eigentlich nur braucht, "to bounce ideas off of them", erfüllen sie auch für die Serie "House" den Zweck von reinen Dialogpartnern - was keineswegs bedeutet, dass der Zuschauer es hier mit eindimensionalen Figuren zu tun hat. Dennoch, die reine Zweckmäßigkeit dieser drei Charaktere reflektieren sich die Autoren der Serie in einer Folge der dritten Staffel: Hier bekommt es House an Bord eines Flugzeugs mit einem Patienten zu tun, ohne seine Assistenten, und prompt ernennt er drei beliebige Fluggäste zu seinen Gesprächspartnern, und bittet sie, die typischen Reaktionen von Cameron, Chase und Foreman nachzuspielen. "House" spielt an dieser Stelle weit mehr als nur mit der augenzwinkernden Selbstreferenz, die Serie stellt sogar das eigene Konzept in Frage, den ganzen Plot ausschließlich aus der Charakterisierung und Erforschung des Figurenarsenals zu bilden. Die Vorhersehbarkeit - weil sie eben inzwischen ausreichend ausformuliert sind - deutet sich in dieser Folge bereits an, und die logische Konsequenz zum Ende der dritten Staffel ist klar: Der komplette Austausch des Beraterteams.
Es ist die vierte Staffel, welche die Zentrierung auf ihre Hauptfigur schließlich auf die Spitze treiben wird: So wird im Bewerbungsspiel, das House veranstaltet, um ein neues Assistententeam zusammenzustellen, noch deutlicher, dass House in seinen Kollegen und Freunden ebenso Patienten - also Rätsel und Puzzles, die es zu lösen gilt - sieht. Und es ist die Vielzahl von Personen, die hier eingeführt und sogleich wieder ausgemustert werden, die zeigt, dass "House"s Nebenfiguren immer auch ein Teil von House sein oder werden müssen. Jeder Hauch von Selbständigkeit - Freundschaften untereinander, oder auch die Beziehung von Houses einzigem Freund Wilson zu einer Bewerberin - erstickt im Keim, und die Staffel mündet in ein furioses und delirierendes Doppelfolgen-Finale. Die völlige Zentrierung aller Nebenfiguren auf den Titelhelden geht sogar so weit, dass es plausibel wäre, sie alle als Produkt einer multiplen Persönlichkeit zu lesen, und die Serie als Arzt-Äquivalent von "Set this House in Order". Interaktion nach Außen findet nicht statt, oder ist höchstens von kurzer Dauer.
Dies trifft dabei auch für die Themenwelt der Show zu. So verlässt "House" nie sein Medizin-Setting, verzichtet komplett auf Rahmen- und Randhandlungen abseits des Krankenhauses, gestaltet sogar die umgebende virtuelle Medienwelt entsprechend: Natürlich ist House regelmäßiger Zuschauer einer fiktiven Krankenhaus-Soap, die damit das einzige mediale Umfeld des Szenarios bildet. House ist der obsessive Charakter, der nur noch in den Problemfeldern seiner Profession verkehrt, eben selbst seine Freizeit mit Arztserien gestaltet. Gleichzeitig charakterisiert ihn die Serie aber als vielseitig interessiert und begabt, sie zeigt ihn in den früheren Staffeln oft am Klavier, später dann entwickelt House ein ausgesprochenes Faible für elektrische Gitarren. Detektivischer Spürsinn und Musikalität ist eine Paarung, die diesen Charakter einmal mehr in die Nähe zum erklärten Serienvorbild Sherlock Holmes rückt. Neben den ganz offensichtlichen Merkmalen der ähnlichen Benennung seines Hauptfigurenpaares - Gregory House und James Wilson gegenüber Sherlock Holmes und John Watson - spielte Holmes stets Geige, und auch Arthur Conan Doyle ließ keine Gelegenheit aus, seinen Meisterdetektiv als Universalgenie zu zeichnen. Auch die dunklen Seiten teilen sich Detektiv und Arzt: Während Holmes in den Romanen dem Tabak, Morphium und Kokain frönte, ist House bekennend abhängig vom Schmerzmittel Vicodin, und erhebt seinen Medikamentenmissbrauch vom Laster zum nötigen Ausdruck seiner stets zelebrierten Exzentrik: "Vicodin helps me to function."
Ebenfalls analog zum großen detektivischen Vorbild schert House sich nicht sonderlich um Regeln und Gesetze: Mehr als einmal missachtet er Vorschriften oder belügt das Transplantationskomitee, um seinem Patienten, der dank irgendeines Risikofaktors eigentlich ein bestimmtes Organ nicht bekommen dürfte, eben doch noch zu helfen. Während sich House in solchen Szenen ganz klar gegen den Utilitarismus, der medizinische Verhaltens- und Behandlungskodizes dominiert, wendet, rechnet er an anderer Stelle die Leben von erkrankten Neugeborenen gegeneinander auf. Auch einer religiösen Moraldefinition verwehrt sich die Serie konsequent. Wenn sie ihren Protagonisten wiederholt als überzeugten - und beinahe militanten - Atheisten zeichnet, so nimmt sie ihm auch gleichzeitig höchst effizient die Möglichkeit, christliche Nächstenliebe als Motivation für sein Handeln angeben zu können. House ist niemand, der Arzt wurde, weil er Menschen helfen will - obwohl er Menschen helfen will. Eine Bindung findet für House immer nur durch Identifikation statt, wenn er in seinem Gegenüber ein Stück von sich selbst erkennen kann - hier beweisen die Autoren der Serie einmal mehr ihre Fähigkeit zur klugen Referenz, wenn sie die fragile Bindung zwischen House und Patient mit der emotionalen Involvierung eines Fernsehzuschauers in das Schicksal des Serienhelden gleichsetzen.
"House M.D." ist keine Serie, die in der direkten Nachfolge der großen amerikanischen Krankenhausserien wie "E.R." steht. Während sie das Spektakel und tränenreiche Drama feiern, ergeht sich "House" in ruhiger Wiederholung, und beraubt das Krankenhaus-Szenario somit äußerst wirkungsvoll seiner für den reinen Unterhaltungswert ausschlachtbaren Kapazität. Die Reduzierung auf die überschaubare und sternförmig angeordnete Figurenkonstellation eröffnet in jeder Verbindung die Möglichkeit für leise Subtexte ebenso wie sublime Diskurse, und reflektiert dabei stets auf mehreren Ebenen. Die minimalistischen Plots spiegeln sich immer mehrfach aneinander, und die Homogenität der einzelnen Episoden untereinander ist eine Meisterleistung für sich. Andere Serien würden entweder seichte Unterhaltung oder lautes Spektakel bieten, oder eben ihre umfassende Komplexität feiern. "House M.D." verquickt beides, gänzlich unangestrengt und äußerst zugänglich. "House M.D." ist anders.