Sicherheit über alles

In Frankreich wurde das neue Antiterrorgesetz verabschiedet, weitere sicherheitspolitische Gesetze und Regelungen für Ausländer werden im Kontext der jüngsten Unruhen in den Vorstädten vorbereitet, bei denen Migranten aber keine große Rolle spielten

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"Zurück in die 70er Jahre!", lautet das Motto. Nein, Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy (50) möchte nicht die Hippy-Szene wiederbeleben oder lange Haare wieder in Mode kommen las-sen. Der Law-and-Order-Politiker denkt vielmehr an eine Reaktivierung der so genannten loi anti-casseurs (ungefähr: Antichaoten-Gesetz), die im Jahr 1970 durch die damalige gaullistische Regierung verabschiedet worden war, um den linken Demonstrationen im Gefolge des Mai 68 ein Ende zu bereiten. Der Gesetzestext sah das Prinzip der so genannten „kollektiven Verantwortung“ vor, das ziemlich wenig mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun hat: Kam es am Rande von Demonstrationen zu Sachschaden oder Rangeleien mit der Polizei, so konnte jeder Teilnehmer dafür zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden, ohne dass ihm eine individuelle Tatbeteiligung nachgewiesen zu werden brauchte. Das Gesetz wurde 1981, nach dem Regierungsantritt der Sozialisten, abgeschafft.

Am Dienstag dieser Woche zitiert die Tageszeitung Libération Minister Sarkozy mit den Worten, eine Neuauflage „im Zusammenhang mit der Vorstadtgewalt“ sei in Vorbereitung: „Die Debatte verdient es, vor das Parlament getragen zu werden." Bei einer Mehrheit von 60 Prozent für die konservative Rechte in der Nationalversammlung (dem Mehrheitswahlrecht sei Dank!) und von 80 Prozent im Senat bestünden am Ausgang einer solchen Debatten wenig Zweifel.

Neue Antiterror-Gesetzgebung

Auf einer anderen Ebene wurde bereits am selben Dienstag für mehr Sicherheit aus staatlicher Perspektive gesorgt. „In einem Klima des Konsenses“ zwischen den großen staatstragenden Parteien, so lautet der Tenor sämtlicher Medienberichte, wurden am Abend die Bestimmungen des neuen Antiterrorismus-Gesetzes in erster Lesung durch die Nationalversammlung angenommen. 373 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP und der halboppositionellen christdemokratischen UDF stimmten dafür, die sozialdemokratischen Abgeordneten enthielten sich der Stimme. 27 Parlamentarier der Grünen und der KP votierten dagegen.

Die herausragendste Bestimmung des neuen „antiterroristischen“ Arsenals bildet die Verpflichtung für die Server und Betreiber von Internetcafés, alle Verbindungsdaten im Internet über ein Jahr hinweg aufzubewahren. Die Ermittlungsbehörden sollen freien Zugang zu diesen Daten erhalten. Dadurch soll eine eventuelle Benutzung des Internet oder der Mailkommunikation zu terroristischen Zwecken aufgespürt werden können. Gleichzeitig tut sich dabei eine Goldgrube für die Datensammelwut der Sicherheitsapparate auf.

Diese Passage des Antiterrorismus-Gesetzes hatte erhebliche Bedenken bei der nationalen Datenschutzbehörde CNIL (Commission nationale informatique et libertés) hervorgerufen. Der Conseil d’Etat - das oberste französische Verwaltungsgericht, das im Vorfeld der Verabschiedung eines Gesetzes bezüglich seiner Rechtskonformität zu Rate gezogen werden kann – hatte ihm allerdings seinerseits Unbedenklichkeit bescheinigt. Anwaltsvereinigungen und Bürgerrechtsorganisationen wie die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH) waren gegenteiliger Auffassung.

Ansonsten sieht das künftige Gesetz, das noch vor Jahresende 2005 definitiv verabschiedet werden soll, die Ausweitung der Videoüberwachung in den öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen, aber auch an anderen öffentlich zugänglichen Stellen vor. Dabei beruft sich die Regierung auf die Erfahrungen von London nach den Attentaten vom 7. Juli. Dort hatte die Videoüberwachung zwar mitnichten zur Verhinderung der Bombenanschläge, wohl aber zur raschen Identifikation der Terroristen nach der Tat beitragen können. Ferner sieht die Gesetzesvorlage vor, dass die Luftfahrtgesellschaften und andere Transportfirmen im Eisenbahn- und Schiffsverkehr persönliche Daten über ihre Passagiere erheben und an die Polizeibehörden weitergeben sollen.

Weniger umstritten war die Anhebung der Strafdrohungen für die Mitglieder von terroristischen Vereinigungen von 10 auf 20 Jahre und für ihre Anführer von 20 auf 30 Jahre. Diese Bestimmungen können zwar insofern Bedenken hervorrufen, als es sich um ein Organisationsdelikt handelt, das keine individuelle Tatverantwortung über die Tatsache der Mitgliedschaft hinaus erfordert. Sie riefen aber insofern weniger starke Bedenken hervor, als die Beobachter in der Regel an Gruppen denken, die durch Bombenanschläge und andere „blinde“ Gewalt gegen Zivilisten agieren. Kritikwürdiger aus Sicht der linken und liberaler Kritiker wiederum erschien die Anhebung der Höchstdauer des polizeilichen Gewahrsams – ohne Einschaltung eines Untersuchungsrichters – von vier auf sechs Tage, sofern „eine terroristische Aktion unmittelbar bevor steht“, wie der Gesetzestext formuliert. Auf Grundlage einer Prognose für die nahe Zukunft könnten so die Spielräume für polizeiliche Ermittlungen, die – zumindest im ersten Zeitraum - keiner Justizkontrolle unterliegen, ausgeweitet werden.

Strafverfolgungen nach den Unruhen vom November

Noch erlaubt die geltende Gesetzgebung es nicht, nach dem Muster einer kollektiven Strafbarkeit durchzugreifen, die allem Anschein nach wieder in der Gesetzgebung verankert werden soll. Vieles deutet aber darauf hin, dass die insgesamt 3.000 Personen, die während der dreiwöchigen Unruhen in den französischen Banlieues im November festgenommen wurden, oft recht wahllos herausgegriffen worden sind.

Auch in öffentlichen Radiosendern wie France Info sprechen Berichte davon, man habe einfach alle Umstehenden mitgenommen und erst hinterher, im Polizeigewahrsam, zwischen „mutmaßlichen Straftätern“ und Anderen sortiert. Dies hängt sicherlich auch mit der Polizeitaktik während der Unruhen zusammen. Damals wurde Innenminister Nicolas Sarkozy – glaubt man der Wochenzeitung Le Canard enchaîné vom 9. November – durch die Angst geplagt, es könne zu einer „neuen Affäre Malik Oussekine“ kommen. Der Student dieses Namens war im Dezember 1986, am Rande einer Demonstration von Oberschülern und Studenten, durch Polizisten zu Tode geprügelt worden. Daraufhin waren die Proteste gegen den damaligen Innenminister Charles Pasqua und den seinerzeitigen Premier – einen gewissen Jacques Chirac – erst recht aufgeflammt, nachdem es ein offenkundig unschuldiges Opfer gegeben hatte.

Um Tote bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und Jugendlichen, die auf seiner politischen Karriere hätten lasten können, zu vermeiden, hatte Sarkozy den ihm unterstellten Polizeieinheiten eine entsprechende Strategie verordnet: Direkte Konfrontationen sollten möglichst vermieden werden, stattdessen sollten bei Vorfällen – brennenden Autos, Anzünden von Gebäuden – im Nachhinein die mutmaßlich Beteiligten eingesammelt werden. Deshalb auch kam es zu verhältnismäßig wenigen Straßenkämpfen zwischen Ordnungskräften und Jugendlichen, jedenfalls außerhalb von Clichy-sous-Bois, dem Ausgangsort der Unruhen. Kleine Gruppen von jungen Leuten handelten stattdessen nach dem hit-and-run-Prinzip, und die Polizei ihrerseits nach der Devise, dass an bestimmten Orten am besten alle verdächtig Aussehenden hinterher einzusammeln seien.

Die folgenden Anklagen stützen sich oftmals auf fragwürdige oder vage Aussagen von Polizeizeugen, ohne weitere Beweismittel. 729 Volljährige wurden in Schnellverfahren dem Strafrichter vorgeführt, weitere 577 Jüngere erschienen vor dem Jugendrichter. Nach einer Zählung der Boulevardzeitung Le Parisien waren bis Mitte voriger Woche bereits 422 Volljährige rechtskräftig verurteilt, oft in Blitzprozessen. In vier Fünfteln der Fälle handelt es sich um Haftstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung. Justizminister Pascal Clément gibt an, systematisch von dem ihn unterstehenden Staatsanwälten Urteile ohne Bewährung verlangt zu haben.

Die Zusammensetzung der Angeklagten und Verurteilten widerlegt dabei einige vorgefasste Urteile und Behauptungen. So stimmt die während der Unruhen durch Sarkozy und den nationalen Polizeidirektor Michel Gaudin aufgestellte Behauptung, „80 Prozent“ der Teilnehmer seien vorbestraft – weshalb man es mit „kriminellen Strukturen“ zu tun habe – offenkundig nicht. Die Staatsanwälte der Pariser Trabantenstädte Bobigny und Créteil, wo allein über ein Drittel der Prozess stattfanden, geben den Anteil der Vorbestraften mit nur 15 Prozent bei den Volljährigen an. Unter den Minderjährigen ist ein etwas größerer Anteil (25 Prozent) „polizeibekannt“ – aber oft als Opfer in Misshandlungsprozessen, so berichtet ein Jugendrichter in Libération. Wie Staatsanwalt François Molets in Bobigny erklärt, sprechen die bisherigen Erkenntnisse aus den Prozessen im Übrigen gegen jede Organisierung der Unruhen, weder durch Islamisten noch durch „Mafiagruppen“, wie vielfach behauptet worden war:

Fast alle Verurteilten haben unmittelbar an ihrem Wohnort gezündelt. Die Wohnorte und die Örtlichkeiten, wo die jungen Straftäter aufgegriffen wurden, liegen dicht beieinander. In je-nen Stadtteilen, wo es verfestigte Strukturen – organisierte Kriminelle oder Islamisten – gibt, ist es im Übrigen während der Riots zumeist ruhig geblieben“.

Denn diese hatten natürlich kein Interesse daran, die Polizei in die entsprechenden Quartiere zu locken. Der ursprünglich in einigen Medien, wie der Boulevardzeitung France Soir und dem recht-saußen stehenden Wochenmagazin Valeurs actuelles, aufgestellten Mutmaßung, islamistische Gruppen hätten im Hintergrund die Unruhen organisiert, fehlt offenkundig jede Grundlage. Inzwischen wurde diese Behauptung auch durch den Chef des Inlandsgeheimdienst DST (Direction de surveil-lance du territoire), Pierre de Bousquet, im Interview mit Valeurs actuelles vom 18. November klar dementiert:

Ich kann Ihnen mit Bestimmtheit sagen, dass wir zu keinem Zeitpunkt eine Beteiligung religiöser Fundamentalisten an diesen Störungen der Ordnung bemerkt haben. (...) Man muss sich davor hüten, die aktuellen Unruhen durch ein konfessionelles Raster zu interpretieren.

In ähnlicher Weise äußerte sich der Leiter der Renseignements Généraux, der Staatsschutz-abteilung der französischen Polizei.Die Verurteilungsstatistiken widerlegen ferner auch die Annahme, dass es allein oder hauptsächlich Immigranten(kinder) gewesen seien, die an den Riots beteiligt waren. Im Großraum Paris waren es zwar überwiegend Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation – aber nicht überall sieht es so aus. Am Gericht der nordfranzösischen Regionalhauptstadt Lille waren, einem ausführlichen Bericht in Libération vom 18. November zufolge, mindestens zwei Drittel der Angeklagten „weiß“ und trugen französische oder flämische Familiennamen.

Die höchste Strafe im Zusammenhang mit den Riots wurde gegen einen jungen Mann aus dem nordfranzösischen Arras verhängt, der mit Namen Jérémy Van Gendt heißt und aus einer – wenn man so möchte – Einwandererfamilie aus dem unmittelbar benachbarten Belgien stammt. Er wurde, obwohl nicht vorbestraft, weil er ein Möbellager in Brand setzte (ohne Gefahr von Personenschaden), zu weit überdurchschnittlichen vier Jahren ohne Bewährung verdonnert.

Offenkundig wird jedenfalls einmal mehr, dass die Riots mitnichten ein „ethnisches“, sondern ein soziales Problem ausdrückten. So sind zwar im Großraum Einwandererfamilien weit überdurchschnittlich von den sozialen Krisenphänomenen – wie Zerrüttung der Familien, Gettoisierungstendenzen und Jugendgewalt – betroffen, da die Migranten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als „Puffer auf dem Arbeitsmarkt“ (so eine 1999 publizierte Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts CSERC) benutzt wurden. Das bedeutet, dass sie zeitlich als Erste von Massenentlassungen und einer Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse getroffen wurden, um die französischen Arbeitskräfte noch ein paar Jahre länger schützen zu können. Im nordfranzösischen Ex-Industrierevier beispielsweise stellen sich die Verhältnisse aber anders dar, da hier noch im späten 20. Jahrhundert ein geschlossenes Arbeitermilieu – das aus „Weißen“ und Einwanderern aus den früheren Kolonien gleichermaßen bestand – existierte, dessen Angehörige, unabhängig von ihrer Herkunft, in die soziale Krise abrutschten. Dies machte sich dann auch bei den jüngsten Jugendunruhen bemerkbar.

Verschärfung der Ausländergesetze

Seitens der konservativen Politik bevorzugt man jedoch eindeutig eher eine „ethnisierende“ Interpretation der Unruhen und ihrer Konfliktursachen. In diesem Zusammenhang wird nunmehr eine erneute Verschärfung der Ausländergesetzgebung angestrebt. Bereits am 16. November hatte der Vorsitzende der UMP-Parlamentsfraktion, Bernard Accoyer, als Antwort auf die Unruhen angeregt, das bestehende Recht auf Familienzusammenführung für (legal in Frankreich) lebende Immigranten auf den Prüfstand zu stellen.

Am Dienstag dieser Woche stellten die führenden Regierungsmitglieder im Rahmen des, in dieser Legislaturperiode eingerichteten, „interministeriellen (ressortübergreifenden) Ausschusses zur Kontrolle der Einwanderung“ (CICI) neue Maßnahmen zur Verschärfung der Gesetzgebung gegenüber in Frankreich lebenden Ausländern vor.

So sollen mit Franzosen oder Französinnen verheiratete Ausländer/innen erst nach vier Jahren den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft beantragen können. Dieses Recht auf Übernahme der französischen Staatsangehörigkeit war dereinst automatisch gewesen, die konservative Rechte hatte es unter dem einstigen Innenminister Charles Pasqua mit einer Mindestfrist von zwei Jahren versehen. Diese Frist wird jetzt von zwei auf vier Jahre verlängert - wenn die Gesetzesvorschläge durch die Regierungspartei UMP umgesetzt werde. Seitens der Regierung ist bereits angekündigt, dass die entsprechenden Gesetzesbestimmungen noch im Laufe der ersten Jahreshälfte 2006 verabschiedet werden sollen.

Natürlich darf die Ehe nach diesen vier Jahren noch nicht in die Brüche gegangen sein, was staatsanwaltlich überprüft werden wird. Seit dem neuen Einwanderungsgesetz, das Innenminister Sarkozy im November 2002 verabschieden ließ, können die Staatsanwälte bereits „gemischte“ Heiraten zwischen französischen und nicht-französischen Staatsangehörigen überprüfen und vorab, falls in ihren Augen der Verdacht auf eine „Scheinehe“ besteht, hinauszögern. Doch parallel dazu stieg die Anzahl der „gemischten“ Eheschlüsse im Ausland an, die der französische Staat – kraft der Anerkennung der Gesetze anderer Staaten – bisher respektieren musste. Zukünftig soll den französischen Konsularbehörden im Ausland in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Kontrollfunktion zugesprochen werden. Der Konsul soll die zukünftigen Ehegatten „anhören“ und im Falle eines Zweifels seitens der französischen Behörden wird die Staatsanwaltschaft im west-französischen Nantes – wo viele ausländerpolizeiliche Funktionen behördlich konzentriert worden sind – Einspruch gegen die Anerkennung der Ehe auf französischem Boden erheben können. In diesem Falle kann nur ein durch die frisch Verheirateten erzwungener Entscheid eines französisches Richters dafür sorgen, dass ihre Ehe im Inland als rechtmäßig gilt.

Auch die Bedingungen für die Familienzusammenführung werden restriktiver ausgestaltet. Bisher konnte ein legal in Frankreich niedergelassener Einwanderer, sofern er bestimmte gesetzliche Bedingungen erfüllte - er muss etwa über hinreichenden Wohnraum und ein ausreichendes Einkommen zur Versorgung der Familienangehörigen verfügen – nach zwei Jahren den Ehepartner oder die Ehepartnerin sowie die gemeinsamen Kinder an seinen Wohnort nachziehen lassen. Diese Frist soll jetzt auf zwei Jahre verlängert werden. Premierminister Dominique de Villepin kündigte daneben an, „die Einhaltung des gesetzlichen Verbots der Polygamie“ solle durch die Behörden streng überprüft werden. Das ist ohnehin seit 15 Jahren der Fall, aber das Scheinproblem der Polygamie war während der jüngsten Unruhen durch konservative Spitzenpolitiker zur angeblichen Hauptursache der Riots hochstilisiert worden.

Schließlich sollen weiterhin ausländische Studierende in Frankreich aufgenommen werden. Das Land ist derzeit, mit rund 50.000 Studenten aus dem Ausland pro Jahr, nach den USA und Großbritannien, das drittgrößte Aufnahmeland für Akademiker im Zuge ihrer Ausbildung. Aber künftig soll noch stärker darauf geachtet werden, dass nur die Allerbesten kommen, die Elite. Die Kandidaten für ein Studium in Frankreich sollen bereits im Ausland, in sechs neu zu eröffnenden Zentren, nach Noten und „ihrem Projekt“ ausgewählt werden. Bisher erhielten Bewerber für eine Ausbildung an einer französischen Universität eine Chance in Frankreich, sofern sie durch die Hochschulen akzeptiert wurden. Wenn sie keine Erfolge in ihrem Studium vorweisen konnten, wurden ihre einjährigen Aufenthaltstitel nicht verlängert und sie selbst außer Landes gewiesen.

Als generelle Philosophie der künftigen Gesetze in diesem Bereich benannte Sarkozy am Dienstag in der Nationalversammlung den Gedanken: „Wir wollen jene nicht mehr, die man nirgendwo anders auf der Welt haben will.“. Also die Kategorie der Überflüssigen. Vor allem aber zog er am Nachmittag desselben Tages im Senat einen direkten Zusammenhang zu den jüngsten Ereignissen: Die illegale oder unkontrollierte Einwanderung „schafft eine zerrissene, gettoisierte Gesellschaft. Sie trägt so dazu bei, Hass und Gewalt auf unserem Staatsgebiet zu produzieren. Die Vorstadtgewalt, die wir einige Wochen lang erlebt haben, ist dafür eine traurige Illustration.“ Dabei zitiert die linksliberale Tageszeitung Libération vom Mittwoch einen Berater von Premierminister Dominique de Villepin mit den Worten:

Unter den Personen, die infolge dieser Ereignisse (der Unruhen) festgenommen worden sind, sind 7,5 Prozent Ausländer, und ein winziger Anteil von ihnen hat keine gültige Aufenthaltsgenehmigung.

Anders ausgedrückt: 92,5 Prozent der Beteiligten sind Kinder der französischen Gesellschaft mit ihren Probleme, ob ihre Vorfahren nun aus der Auvergne oder aus Algerien eingewandert sein mögen.

Hochkonjunktur für die Ethnisierung sozialer Konfliktursachen

Die politische Atmosphäre nach den jüngsten Unruhen ist offenkundig günstig für die politische Rechte, um alle möglichen Vorhaben aus den Schubladen zu holen, von denen sie längst träumte. Exemplarisch kommt dies auf einem Titelblatt des konservativ-reaktionären Wochenmagazins Valeurs actuelles vom 25. November zum Ausdruck (diese Zeitschrift, die vor allem wirtschafts- und militärpolitische Themen behandelt, gehört dem Rüstungsfabrikanten und Medienmogul Serge Dassault; laut einer Leserumfrage vom vorigen Jahr wählen 65 Prozent ihrer Leser konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem). Vor dem Bild einstürzender Plattenbauten, die vor einigen Jahren im Zuge einer „Stadterneuerung" gesprengt wurden, liest man die Überschrift „Die Tabus werden niedergeschlagen.“ Dann werden diese Tabus genannt: „Einwanderung... Familienzusammenführung... Automatische Einbürgerung der zweiten und dritten Generation... Sozialleistungen... (...).“ Die politisch moderate Boulevardzeitung Le Parisien setzte vor dem Hintergrund dieser aktuellen Tendenzen auf den Titel ihrer Sonntagsausgabe vom 20. November die Schlagzeile: „Frankreich gleitet nach rechts“.

Tatsächlich wittert der vorantreibende Flügel der konservativen Rechten bei all diesen Themen nunmehr Morgenluft. So entbrannten ab Mitte November erneut Debatten über die alte Forderung, Eltern aus „sozial schwachen“ Familien die Kindergeld- und Sozialleistungen zu entziehen, wenn sie ihre Kinder nicht zu kontrollieren vermögen. Der Bürgermeister der Pariser Trabantenstadt Draveil, Georges Tron (UMP), beschloss bereits, solchen Familien kommunale Sozialleistungen zu streichen, deren Zöglinge für eine Beteiligung an den Unruhen verurteilt wurden. Diese Familien verlieren damit etwa die Beihilfe zur Zahlung von teuren Stromrechnungen oder die Unterstützung für den Besuch der Schulkantine, wovon nicht nur die verurteilten „Randalierer“, sondern auch ihre Brüder und Schwestern betroffen sein werden. Nach Angaben des Rathauses von Draveil sollen rund 10 dort ansässige Familien von diesem Beschluss betroffen sein.

Ein konservativer Hinterbänkler, Jean-Paul Garaud, legte Mitte November im Parlament einen Gesetzesvorschlag vor, der Einwandererkindern aus der zweiten und dritten Generation ihre französische Staatsbürgerschaft entziehen soll, falls sie an den Riots teilgenommen haben. Nachträgliche Entzüge der französischen Staatsangehörigkeit gab es zuletzt unter dem Vichy-Regime. Juristisch dürfte dies freilich schwer durchsetzbar sein.

Mehrere bürgerliche Spitzenpolitiker trugen gleichzeitig erheblich zu einer Ethnisierung, ja rassistischen Verzerrung in der Wahrnehmung der jüngsten Riots und ihrer gesellschaftlichen Ursachen bei. So sprach der Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium, Gérard Larcher, am 16. November davon, die Polygamie afrikanischer Familien (eine „gesellschaftsschädliche, asoziale Lebensweise“) sei eine Hauptursache für die Verwahrlosung von deren Kindern, und letztere wiederum einer der maßgeblichen Gründe für die Straßenunruhen. In ähnlichem Sinne äußerte sich der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der konservativen Regierungspartei UMP in der Nationalversammlung, Bernard Accoyer. Accoyer sprach sich am 16. November bei RTL zusätzlich dafür aus, die Bedingungen für den Familiennachzug von Einwandererfamilien „zu überdenken“.

Die Polygamie ist in Frankreich seit langem gesetzlich verboten, das Bestehen polygamer Familien wurde jedoch bis vor etwa 15 Jahren noch durch die französischen Behörden faktisch toleriert, solange die Eheschlüsse im Ausland vorgenommen worden war (im Namen der Anerkennung ausländischen Rechts). In den letzten 15 bis 20 Jahren haben sich jedoch die französische Gesetzgebung und das Vorgehen der Behörden verändert, und es wird nicht weiterhin Toleranz in diesen Belangen geübt. Nunmehr geht man auf juristischer Ebene davon aus, dass entsprechende polygame Heiraten, auch wenn sie im Ausland vorgenommen wurden, gegen grundlegende Bestimmungen französischen Rechts verstoßen und daher keine Anerkennung finden können.

Die Polygamie befindet sich auf dem Rückzug und soll nach amtlichen Schätzungen noch circa 20.000 Familien (besonders schwarzafrikanischer Herkunft) betreffen. Sie dürfte kaum geeignet sein, auch nur ansatzweise eine Erklärung für die Banlieue-Problematik zu liefern. Es dürfte erheblich mehr gebürtige Franzosen weißer Hautfarbe geben, die juristisch mit einer Dame verheiratet sind und faktisch mehrere schwängern, als im klassischen Sinne polygam lebende Einwanderer. Der französische Starkoch Paul Bocuse brüstet sich in einem längeren Interview mit dem konservativen Wochenmagazin L’Express (vom 17. 11.) selbst damit, sein ganzes Erwachsenenleben hindurch mit drei Frauen zusammen gelebt zu haben, seiner Gattin und zwei festen Geliebten – und der Mann wird in der Zeitschrift als toller Hecht behandelt, nicht als barbarischer Frauenunterdrücker. Aber wehe, wenn er Senegalese gewesen wäre.

Die aktuelle Agitation bürgerlicher Spitzenpolitiker war imÜübrigen sogar der rechten Boulevardzeitung France Soir zu viel, die ihre Titelseite vom 17. November übertitelte: „Polygamie, Unruhen: Die absurde Erklärung."

Das Strickmuster ist übrigens bereits alt: Schon als politische Reaktion auf die schweren Unruhen, die 1991 in der westlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Mantes-la-Jolie ausbrachen, nachdem zwei Jugendliche (bei einem Polizeieinsatz sowie im Gewahrsam auf der Polizeiwache) zu Tode gekommen waren, hatte damals Jacques Chirac vom angeblich so wichtigen Problem der Polygamie gesprochen. Gleichzeitig tat er, es war im Frühjahr 1991, seinen berühmt-berüchtigten Aussprach über „le bruit et l’odeur“ („den Lärm und den Gestank“), nämlich der Immigranten in den Sozialwohnungen. Seine Behauptung, es gebe in der Stadt Paris polygame Familien „mit 3 bis 4 Ehefrauen und um die 20 Kindern“, deren Mitglieder umgerechnet 7.500 Euro an Kindergeld kassierten und deshalb nicht arbeiteten, wurde jedoch bei anschließenden Untersuchungen als Falschbehauptung widerlegt. Die Pariser Stadtverwaltung, die damals dem Oberbürgemeister Chirac (1977 bis 95) unterstand und die von ihm mit einer Überprüfung beauftragt wurde, konnte einen einzigen Straßenkehrer finden, der zwei Ehefrauen hatte. Der allerdings erheblich weniger Familienunterstützung erhielt und keinesfalls vom Kindergeld leben konnte (wie Chirac wörtlich behauptet hatte), sondern sein Geld auf dem Pariser Asphalt verdiente.

Im Moment spielt Präsident Chirac, nach den Unruhen des Herbsts 2005, allerdings selbst nicht erneut diese Partitur vor, sondern gibt eher den „altersweisen“ und gütigen Papa der Nation, der um die „Integration aller Kinder der Nation“ bemüht ist. In den letzten 14 Tagen sprach Chirac von der Notwendigkeit, über Maßnahmen „positiver Diskriminierung“ zugunsten unterrepräsentierter Minderheit und namentlich über die Präsenz „sichtbarer Minderheiten“ (etwa von Schwarzen) im Fernsehen und anderen Medien nachzudenken. Den Part des rassistischen Einpeitschers und repressiven Wadenbeißers haben heute im bürgerlichen Lager Andere übernommen.

Von den Nachteilen der Polygamie und den Vorzügen der Sklaverei

Die berüchtigte reaktionäre Historikerin und „Sowjetunion- sowie Russland-Expertin“ Hé-lène Carrère d’Encausse, Sekretärin der altehrwürdigen Académie française auf Lebenszeit, ließ sich in ähnlicher Weise in russischen Medien aus. Im russischen Fernsehsender NTV erklärte sie:

Diese Leute kommen direkt aus afrikanischen Dörfern. Paris und andere Städte Europas sind aber keine afrikanischen Dörfer. (...) In einer Wohnung sind 3 oder 4 Ehefrauen und 25 Kinder. Sie sind derart überfüllt, dass es keine Wohnungen mehr sind, sondern Gott weiß was! Man versteht, dass diese Kinder auf der Straße herumlaufen.

In einem anderen Interview erklärte sie der Wochenzeitung „Moskowskie Nowosti“:

Wir haben (in Frankreich) Gesetze, die durch Stalin hätten erfunden werden können. Sie kommen ins Gefängnis, wenn Sie sagen, dass fünf Juden oder zehn Schwarze im Fernsehen sind. Die Leute können nicht ihre Meinung über die ethnischen Gruppen, über den Zweiten Weltkrieg und über viele andere Dinge ausdrücken. Man verurteilt Sie sofort für dieses Vergehen.

Der berüchtigte französische „Neue Philosoph“ Alain Finkielkraut, nie um groteske Vergleiche verlegen, behauptete im ganzseitigen Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro:

Es handelt sich nicht um eine Revolte gegen den Rassismus der Republik, sondern um ein gigantisches antirepublikanisches Pogrom.

Bisher hatte der Autor dieser Zeilen naiverweise angenommen, ein Pogrom bestehe in der Verfolgung von Menschen, nicht des Staates. In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz, das in ihrer Ausgabe vom 18. November publiziert wurde, ging Finkielkraut noch weiter. Dort sagte er unter anderem:

Das Problem ist, dass diese jugendlichen Randalierer fast alle Araber und Schwarze sowie mit einer islamischen Identität ausgestattet sind. (...) Heutzutage gibt man der Demagogie nach und ändert die Geschichtsschreibung bezüglich des Kolonialismus und der Sklaverei. Man stellt diese (Anm.: den Kolonialismus und die Sklaverei) so dar, als seien sie rein negative Erscheinungen gewesen. Anstatt zu sagen, dass das koloniale Projekt erziehen, den Wilden die Zivilisation bringen wollte. (...) Was hat Frankreich den Afrikaner getan? Nur Gutes.

Ferner führt Finkielkraut aus: "Wenn diese jungen Migranten meinen, man behandele sie in Frankreich schlecht, ihre wirtschaftliche Situation sei nicht gut: Wir halten sie hier nicht fest.“ Sollen sie doch nach drüben gehen!

Hätte der Mann ausnahmsweise geschwiegen, hätte man ihn – vielleicht – weiterhin für einen Philosophen halten können. Ansonsten kann man vernünftigeren Menschen als Finkielkraut nur raten, einmal den „Code Noir“ zu lesen, das „Schwarzen-Gesetzbuch“, das unter der Monarchie haarklein den französischen Sklavenhandel regelte, eine wirklich haarsträubende Lektüre. Die Sklaverei wurde in Frankreich erst 1848 abgeschafft.

„Positive Rolle des Kolonialismus“: Die regierende Rechte lässt nicht locker

Noch im Zusammenhang mit einem weiteren Gesetz haben Mitglieder der regierenden Konservativen das Gespenst der Vorstadtgewalt beschworen. Am Dienstag dieser Woche debattierte die französische Nationalversammlung auch über einen Antrag der Sozialdemokraten, der forderte, eine Passage in einem Gesetzestext vom 23. Februar 2005 nachträglich zu entschärfen.

Das damals verabschiedete Gesetz hat die Regelung der Interessen von ehemaligen Kolonialfranzosen und Teilnehmern an den Kolonialkriegen, sofern sie im Zuge der Entkolonialisierung geschädigt wurden, zum Gegenstand. Zunächst hatte die Vorlage kein größeres Aufsehen hervorgerufen, da sie eher rein materielle Entschädigungsfragen zu behandeln schien, die kaum zu Polemiken führten. Wie die Öffentlichkeit erst im Nachhinein bemerkte, hatten Teile der regierenden Konservativen – vor allem ihr kolonialnostalgischer Flügel – im Laufe der Parlamentsdebatte weitaus brisantere Bestimmungen im Nachhinein in den Text eingefügt.

Besonders umstritten war und ist der Artikel 4 des Gesetzes, der die Forscher und die Lehrer in ihrem Unterricht dazu verpflichtet, „den positiven Beitrag der französischen Anwesenheit in Übersee, insbesondere in Nordafrika, zu würdigen“. Diese „Anwesenheit“ in Nordafrika bezeichnet vor allem den französischen Siedlungskolonialismus in Algerien (von 1830 bis 1962), wo in der Schlussphase eine Million Europäer und acht bis neun Millionen Araber und Berber in einem konfessionnel überformten, brutalen Apartheidsystem lebten, unter dem sich die Rechtsstellung der Personen je nach ihrer Religionszugehörigkeit richtete. Dieses konfessionnelle Apartheidsystem räumte den Christen die vollen Staatsbürgerrechte ein, den algerischen Juden ab 1870 annähernd so viele Rechte, aber zwang hingegen den „musulmans d’Algérie“ einen weitgehend rechtlosen Status als „Eingeborene“ (indigènes) auf. Am Ende kamen im Kolonialkrieg von 1954 bis zur Unabhängigkeit des Landes, am 5. Juli 1962 anderthalb Millionen Algerier und – nach offiziellen französischen Zahlen – 30.000 Franzosen, unter ihnen über 27.000 Soldaten, um’s Leben. Allein schon dieses Zahlenverhältnis widerspiegelt die extreme Ungleichheit zwischen Kolonisierenden und Unterworfenen.

Knapp eine Million kolonialer Europäer, die so genannten Pieds Noirs („Schwarzfüße“, mutmaßlich so genannt, weil sie „die Füße in Afrika und den Kopf in Europa“ hatten), verließen ab 1962 das nordafrikanische Land. Dort blieben aber zunächst auch rund 200.000 Europäer freiwillig zurück, die keineswegs massakriert wurden, wie die Ausreisenden ihrerseits befürchteten. Ihre Zahl hat sich aber später, unter anderem aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme des unabhängigen Algerien, nach und nach verringert. Diese „Pieds Noirs“ leben heute vor allem in Südfrankreich, von Perpignan und Nizza, und bilden dort eine einflussreiche politische Lobby. Ihre Stimmen teilten sich traditionell vorwiegend zwischen der bürgerlichen Rechten und dem rechtsextremen Front National auf. In jüngerer Zeit ist allerdings erstmals eine Entideologisierung dieses Milieus und eine spürbare Entkrampfung im Verhältnis zu Algerien – wohin eine wachsende Zahl ehemaliger Algerienfranzosen seit kurzem reist – zu verzeichnen.

Den Hardlinern innerhalb dieses „Vertriebenenmilieus“, um deren Zustimmung Konservative und Rechtsextreme wetteifern, war zweifellos die Verabschiedung des Gesetzes vom 23. Februar mitsamt seinem Artikel 4 zugedacht. Um ihn gab es auch bereits zwischenstaatliche Spannungen im französisch-algerischen Verhältnis. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika kritisierte ihn am 8. Mai dieses Jahres (dem Jahrestag des Zehntausenden Algeriern vom 8. Mai 1945 in Sétif, Kherrata und Guelma) in scharfen Worten, und drohte mit einer Verschiebung der Unterzeichnung des umfassenden Freundschaftsvertrages, der zwischen beiden Ländern geplant ist.

Am gestrigen Dienstag weigerte sich die UMP-Mehrheit der Abgeordneten in der Nationalversammlung, den umstrittenen Artikel 4 des Gesetzes wieder abzuschaffen – auch wenn die konservativen Parlamentarier zugleich eifrig und entgegen dem Wortlaut versicherten, es könne sicherlich nicht darum gehen, „eine staatlich fixierte Geschichtsschreibung“ zu definieren. Dabei fiel auch das Argument, das der konservative Abgeordnete von Nizza – einer Hochburg der Pieds Noirs -, Lionnel Luca, so formulierte:

Dieses Gesetz abzuschaffen, ist unmöglich und undenkbar. Das würde die Glut wieder anheizen.

Damit meinte er, das Feuer der Unruhen, die er vor allem mit Immigrantenkindern in Zusammenhang bringt, werde wieder entzündet. Verschiedene Abgeordnete der Sozialdemokraten, der KP und der christdemokratischen UDF hatten das Argument allerdings genau umgekehrt benutzt: Ein Eingeständnis, der Kolonialismus habe für die ihm unterworfenen Bevölkerungen auch – und vor allem – negative Aspekte gehabt, setze „ein Zeichen der Beruhigung“.

Am Ende votierten 183 konservative Abgeordnete für Nichtbefassung mit dem sozialdemokratischen Antrag und damit gegen die Abschaffung des Artikels 4, und 94 Parlamentarier unterschiedlicher Couleur stimmten im gegenläufigen Sinne ab. Die linksliberale Tageszeitung Libération titelt am Mittwoch provozierend: „Y’a bon colonies“ (ungefähr: „Kolonien viel gut“), unter Anlehnung an eine frühere rassistische Werbung für ein Schokogetränk, in der eine Karikatur eines Afrikaners mit den Worten abgebildet ist „Y’a bon, Banania“. In einem Leitartikel unter der Überschrift „Dumm und frech“ ist zu lesen:

Die französische Kolonisierung war, genau wie jede andere auch, eine Mischung aus militärischer Aggressivität, brutaler wirtschaftlicher Expansion, religiösem Missionseifer, kriminellem Abenteurertum und dem Bestreben nach juristischer Normalisierung (des Kolonialverhältnisses). Die Herrschaft des Rechts und die Geltung der Menschenrechte schloss die Eingeborenen aus.

Über das Gesetz vom 23. Februar 2005 dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, da seit dem Frühjahr zahlreiche Lehrer und Wissenschaftler gegen die „Vorschriften in Sachen Forschung und Geschichtsschreibung“ Sturm laufen. Aber das Klima scheint derzeit günstig genug für die konservative Rechte, solcherlei Widerspruch von berufener Seite vorläufig zu ignorieren.