Sind philosophische Duelle immer nur Scheingefechte?
Zwei neue Bücher irritieren sowohl Realisten als auch Konstruktivisten
Der Klagenfurter Philosoph Josef Mitterer ist ein Ketzer im System. Mit seinem neuen Buch "Die Flucht aus der Beliebigkeit" (Fischer 2001) nährt er im Titel zunächst - bewusst eine 'falsche' Fährte legend - die Hoffnung jener, die das wollen, was Mitterer für unerreichbar und unmöglich hält: einen Ausweg aus der Vielfalt und Kontingenz, den Weg, die deutigkeit, kurz: die Wahrheit.
Vom Feuilleton wird der Mann wohl nicht zuletzt aufgrund dieser und anderer Verwirrspiele nicht so recht verstanden. So attestiert etwa der gewöhnlich brilliante österreichische Essayist Franz Schuh dem Philosophen Mitterer eine "konstruktivistische Denkweise" ("Die Zeit" vom 8. 2. 2001). Doch Josef Mitterer schreibt schon im Vorwort (S. 9) seines Buches, dass er nur "von denen, die zwischen Konstruktivismus und Nondualismus keinen Unterschied sehen oder machen, als Konstruktivist eingestuft" wird. Mitterer will eigentlich kein Anhänger konstruierter Realitäten sein, denn: "Der Konstruktivismus ist eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit, der Realismus ist eine andere Antwort."
Schon dieser Satz wird all jenen Philosophen, die im erkenntnistheoretischen Spektrum eine Position besetzen und vertreten, kaum gefallen. Mitterer verärgert die Realisten wie die Relativisten, die Materialisten wie die Idealisten. Alle missfallen sie ihm, denn alle eint etwas: ein Spiel mit unhinterfragten Voraussetzungen, mit stillschweigenden Hintergrundannahmen, mit tacit knowledge, das den Diskurs über das angebliche Problem der Erkenntnis erst ermöglicht.
Auf Kriegsfuß mit dem Rest der Philosophie
"Wir reden über Dinge." - Einmal im Ernst: Wer würde diese Aussage ernsthaft bestreiten? Was könnte an diesem Satz anzuzweifeln sein? Welche Alternativen gibt es denn zu diesem scheinbar so klaren Basiskonsens unseres Redens und Denkens? Josef Mitterer sagt nun nicht, dass dieser Satz nicht stimme oder falsch sei, er entlarvt vielmehr lediglich, welche Folgen dieser Basiskonsens unseres Denkens für unsere Fragestellungen und Problemlösungsvorschläge hat. Und spätestens hier macht Mitterer tabula rasa, entzieht er uns den Boden unter den Füßen unseres gesicherten Argumentierens. Doch alles der Reihe nach: Der Satz "Wir reden über Dinge" enthält zumindest zwei Annahmen, die Mitterer als stillschweigende Voraussetzungen der abendländischen Philosophie outet:
1. Es 'gibt' eine nicht hintergehbare Unterscheidung zwischen dem Reden über Dinge und den Dingen, über die geredet wird, also: zwischen Sprache und Welt, zwischen Beschreibung und Objekt.
2. Unser Reden, unsere Sprache, unsere Beschreibungen sind auf Objekte gerichtet, unser Denken ist durch einen immerwährenden Objekt- und Weltbezug gekennzeichnet. Es scheint einfach nicht anders zu gehen.
Für beide Basisannahmen zitiert Mitterer zahlreiche Gewährsleute aus der Philosophie: Quine, Searle, Habermas und viele andere denken so und nicht anders. Und nun kommt Mitterers Initialzündung: Alle Positionen im erkenntnistheoretischen Spektrum, so der Philosoph, arbeiten mit diesen beiden Annahmen. Der Realist, der behauptet, dass die Wirklichkeit in der Sprache abgebildet werde, ist dem Dualismus genauso verfallen wie der Konstruktivist, der postuliert, die Sprache konstruiere erst die Wirklichkeit. Die Frage, wie sich die Dualismen zueinander verhalten, wird von den erkenntnistheoretischen Positionen völlig unterschiedlich beantwortet, aber dass diese Unterscheidungen elementar und nötig sind, steht außer Frage.
Josef Mitterer legt in seiner Rundumkritik unseres internalisierten Denkens noch ein Häuflein nach, wenn er uns darauf hinweist, dass wir den Dualismus häufig als Argumentationstechnik verwenden, um Recht zu haben, um den Wahrheits-Anspruch zu erheben. Wir sagen dann, etwas sei "tatsächlich", "in Wirklichkeit" oder "in der Tat" so und nicht anders, wie jemand anderer (fälschlicherweise) meinte.
Nach Mitterer ist nichts mehr so, wie es war
Josef Mitterer hat mit seinen 160 Thesen der abendländischen Philosophie den bislang wohl schmerzlichsten Tritt in den Hintern versetzt. Wer Mitterer gelesen hat, der kann nicht mehr so weiterreden, denken und argumentieren, wie er es bisher getan hat. Sprachphilosophisch noch stringenter und präziser als Wittgensteins Traktat, noch kühner und kritischer als Nietzsche oder Feyerabend entlarvt Mitterer die Duelle der Philosophie als Scheingefechte. Ein Buch, das entweder als ketzerisches Werk in den Untergrund verbannt werden wird oder einen nachhaltigen Einfluss auf den Mainstream unseres Denkens erst entfalten wird, vergleichbar mit einer kopernikanischen Wende. Nach Josef Mitterer lässt sich über die Welt nur mehr sagen, dass sich nichts über sie sagen lässt: und wehe dem, der letzteres sagt! - "Die Flucht aus der Beliebigkeit" ist Pflichtlektüre für all jene, die Irritation nicht als destruktiv empfinden, für Menschen auf der Suche nach Halt und Sicherheit sei vor dem Buch nachdrücklich gewarnt.
Vom Konstruktivismus zum Nondualismus
Die 'eine Hälfte', gegen die Mitterer anschreibt, hat der Hamburger Journalist und Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen in dem Interview-Band "Abschied vom Absoluten" (soeben erschienen) versammelt: die Väter des (vormals 'Radikalen') Konstruktivismus, die 'Konstruktivisten der ersten Generation', wie es mittlerweile heißt: Prägende Denker wie Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Humberto R. Maturana, Paul Watzlawick, Siegfried J. Schmidt, Gerhard Roth und Helm Stierlin. Wer aber meint, dies sei schon wieder ein x-beliebiger Sammelband zum Konstruktivismus, der wird bei der Lektüre bald eines Besseren belehrt: Pörksen, dessen innovativer und kritischer Fragestil schon bei dem Heinz-von-Foerster-Interview-Band "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" aufgefallen ist, gelingt es in mehreren Interviews, auch die Kritik am konstruktivistischen Denken einzubringen und somit den Diskurs kreativ voranzutreiben. Bei weitem nicht alle Denker in dem Band sind nämlich orthodoxe Konstruktivisten: Der Hirnforscher Gerhard Roth geht im Gespräch ebenso auf Distanz wie der Neurophänomenologe Francisco J. Varela. Und es ist auch letzterer, der im Interview mit Pörksen eine Position äußert, wie sie dem Nondualismus von Josef Mitterer gar nicht so unähnlich ist:
Es geht um eine Ko-Konstruktion von Subjekt und Objekt, welche die tradierte logische Geographie einer klaren Trennung von Erkennendem und Erkanntem, Innen- und Außenwelt hinter sich lässt: Da steht nicht, wie dies Konstruktivisten nahe legen, auf der einen Seite ein Subjekt, das sich seine Wirklichkeit auf die von ihm gewünschte Weise konstruiert. Und da existiert keineswegs, wie dies Realisten glauben, auf der anderen Seite ein Objekt, das determiniert, was im Organismus vor sich geht. Meine Auffassung ist, dass sich Subjekt und Objekt gegenseitig bestimmen und bedingen, dass der Erkennende und das Erkannte in wechselseitiger Abhängigkeit entstehen (...).
Francisco J. Varela in Pörksen, S. 117 f.
Freilich verharrt auch Varela noch in einem Rest-Dualismus, wenn er von einer gegenseitigen Bestimmung von Subjekt und Objekt ausgeht. Legt man Mitterers Philosophie über dieses Zitat, werden also erneut Dualismen sichtbar. - Noch konsequenter ist da der Medienkulturphilosoph Siegfried J. Schmidt mit seiner im Interview skizzierten neuen "Geschichten- und Diskursphilosophie" (S. 170), die alle Dualismen als kulturell bedingte asymmetrische Unterscheidungen auffasst und auf jegliche duale Ontologie verzichten will. Bernhard Pörksen ist es mit dem Sammelband "Abschied vom Absoluten" auf höchst lesenswerte Weise gelungen, die selbstkritische Weiterentwicklung des Diskurses der 'Konstruktivisten erster Ordnung' nicht nur zu reflektieren, sondern auch durch geschicktes Fragen entscheidend voranzutreiben. Konturen einer dialogischen Wissenschaft und einer intellektuellen Gesprächskultur auf hohem Niveau werden sichtbar, die langfristig die Notwendigkeit eines Ausbaus des Konstruktivismus in Richtung eines Nondualismus aufzeigen. Einen Fortsetzungsband mit Denkern wie Josef Mitterer, Rodrigo Jokisch, David Loy, Giselher Guttmann und anderen Wissenschaftlern an der Schwelle von Nondualismus und Distinktionstheorie wünscht man sich schon jetzt. Titelvorschlag: "Die Flucht in die Beliebigkeit" ;-)
Mitterer, Josef (2001): Die Flucht aus der Beliebigkeit. Frankfurt am Main: Fischer, 128 Seiten (22,90 DM). Pörksen, Bernhard (2001): Abschied vom Absoluten. Gespräche zum Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 240 Seiten (39,80 DM).