Skandal-Bericht über Nord-Stream-Anschläge: Mediale Grabenkämpfe

Themen des Tages: Die Wiedervereinigung von Lateinamerika. Die Zerstörung des ukrainischen Bachmut. Und eine Einordnung des jüngsten Berichts von Seymour Hersh.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Der ehemalige UN-Ökonom Heiner Flassbeck berichtet über die Öko-Subventionen der Biden-Regierung.

2. Es kursieren fragwürdige Vergleiche zum ukrainischen Bachmut.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Was ein Bericht von Seymour Hersh mit dem Unvermögen deutscher Journalisten zu tun hat.

Doch der Reihe nach.

Lula in Washington

Am heutigen Freitag besucht der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva das Weiße Haus und trifft dabei mit Präsident Joe Biden zusammen, schreibt heute Andre Pagliarini von unserem US-Partnerportal Responsible Statecraft. Es sei Lulas erste Reise in die nördliche Hemisphäre seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte am 1. Januar, als Lula seine dritte Amtszeit in Brasilien antrat.

Seine erste internationale Reise führte ihn ins benachbarte Argentinien zum Gipfeltreffen der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC). Die CELAC wurde 2010 als Gegengewicht zur von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten gegründet und umfasst 33 Länder, darunter Venezuela und Kuba.

Bachmut in Trümmern

Die Stadt Bachmut sei als äußerster Vorposten der ukrainischen Armee unter ständigen Angriffen der russischen Armee schon seit Monaten immer wieder in den Schlagzeilen, berichtet Telepolis-Autor Bernhard Gulka heute: "Von der einst mehr als 70.000 Einwohner zählenden Stadt ist nicht mehr viel übrig."

Die ukrainische Journalistin Victoria Chamaza, die die Stadt regelmäßig besucht, berichtete aktuell in der exilrussischen Onlinezeitung Meduza, so Gulka, und weiter:

Nur noch etwa 2.000 Bewohner harrten in der Stadt aus, 90 Prozent der Häuser seien beschädigt oder zerstört. Kampf und Zerstörung gingen 24 Stunden rund um die Uhr weiter. Chamaza vergleicht ihren aktuellen Eindruck von der Stadt selbst mit der Schilderung des Infernos von Mordor, das der Autor J. R. R. Tolkien in seinem Fantasy-Epos "Herr der Ringe" als Zentrale des Bösen beschreibt.

USA in Subventionslaune

Die größte Bedrohung, die Deutschland und Europa in Übersee ausgemacht haben, hört auf den Namen IRA (Inflation Reduction Act) und ist der ganze Stolz der Biden-Administration, schreibt heute der Ökonom und Telepolis-Kolumnist Heiner Flassbeck. Dabei gehe es keineswegs nur um die Verringerung der Inflation, in erster Linie gehe es um die Verringerung der Abhängigkeit der USA von ausländischen Importen.

China steht dabei zwar im Vordergrund, aber auch Europa ist keineswegs aus dem Schneider. Die jüngste gemeinsame Reise des deutschen und des französischen Wirtschaftsministers nach Washington zeigt, dass man den Schaden für Europa zu begrenzen versucht.

Heiner Flassbeck

Wie Telepolis mit dem Bericht von Seymour Hersh über die Nord-Stream-Anschläge umgeht

Es war der Aufreger der Woche: Der US-Enthüllungsjournalist Seymour Hersh veröffentlichte am Mittwoch auf der US-amerikanischen Onlineplattform Substack, die sich in den USA in den vergangenen Jahren zu einer verlagsunabhängigen Publikationsmöglichkeit entwickelt hat, einen ausführlichen Artikel mit einer aufsehenerregenden These: Die USA seien für den Anschlag auf die Nordstream-Pipelines im vergangenen Jahr verantwortlich.

Die Reaktionen waren polarisiert: In Deutschland griffen alternative Medien Hershs Artikel sofort auf, darunter das konservative Portal Tichys Einblick. Die linken Nachdenkseiten veröffentlichten den Text in voller Länge. Mit leichter Verzögerung folgte dann eine Reaktionswelle der etablierten Medien, des Mainstreams. Von dieser Seite wurde der Artikel weitgehend ablehnend behandelt, teilweise diskreditiert, wie Telepolis-Autor Sebastian Köhler und unser Redakteur Thomas Pany berichten.

Auch bei Telepolis haben wir umgehend über den Umgang mit dem Artikel von Hersh, einem der renommiertesten investigativen Journalisten der USA, diskutiert. Am Mittwoch haben wir uns zunächst dagegen entschieden, den Artikel zu übernehmen oder gar zu übersetzen, da die Authentizität unklar war: Der Artikel war als erster und einziger Text auf Hershs Substack-Seite erschienen. Es hätte eine Fälschung sein können. Eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit dem Autor über unsere Partnerredaktionen in den USA führte zu keinem Erfolg.

Nachdem US-amerikanische und britische Medien die Echtheit des Artikels dann aber bestätigten und die Berichterstattung dort in Gang gekommen war, griffen auch wir das Thema auf. Eine Übersetzung und Veröffentlichung des gesamten Artikels wäre für Telepolis aber auch zu diesem Zeitpunkt nur nach Rücksprache mit dem Autor in Frage gekommen.

Denn in einem Absatz über den amtierenden Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg heißt es, dieser habe "seit dem Vietnamkrieg" für die CIA gearbeitet. Solche Vorwürfe gegen Personen müssen konkret belegt und gegebenenfalls nachgeprüft werden.

Fragwürdig erscheint die Aussage auch deshalb, weil Stoltenberg 1959 geboren wurde und der Vietnamkrieg spätestens 1975 endete. Die Frage ist also, auf welchen Zeitraum sich die Aussage bezieht und auf welche Informationen sich Hersh bezieht – all das hätte geklärt werden müssen.

Doch der Passus, den die linksliberale tageszeitung als Begründung anführte, warum sie den Artikel nicht veröffentlicht hätten, wenn sie ihn angeboten bekommen hätte (was aber nicht der Fall war), dient unserer Meinung zugleich nicht dafür, die zentrale Thesen des Berichts als unseriös zu bewerten.

Journalismus: Eine Quelle ist eine Quelle ist eine Quelle

Damit kommen wir zu den Reaktionen in den Leitmedien, also der selbsternannten Qualitätspresse. Dort wurde mehrfach an zentraler Stelle behauptet, Hersh würde sich nur auf eine Quelle berufen, was dem Beitrag die Seriosität nehme.

Hersh gibt an, seine Informationen von einem Whistleblower erhalten zu haben. Wie viele Whistleblower müssten sich dann bei Journalisten melden, damit diese die geleakte Informationen verwenden können, um nicht als unglaubwürdig zu erscheinen? Hier scheinen Vorverurteilung und der Wille zum politischen Framing gewirkt zu haben.

Ferner hat Hersh die grundlegenden Pflichten eines Journalisten erfüllt: Er konfrontierte das Weiße Haus und die CIA mit seinem Informationen und zitierte die Antworten

Asked for comment, Adrienne Watson, a White House spokesperson, said in an email, "This is false and complete fiction." Tammy Thorp, a spokesperson for the Central Intelligence Agency, similarly wrote: "This claim is completely and utterly false.

Seymour Hersh

Auch mehrere deutsche Mainstream-Medien führten diese Zitate an, ohne darauf hinzuweisen, dass sie aus dem Artikel selbst stammten. Sie verwendeten Hershs Arbeit sozusagen gegen ihn. So findet sich in einer redaktionell bearbeiteten Meldung der Deutschen Presse-Agentur im Nachrichtenmagazin Focus der Absatz aus Hershs Artikel paraphrasiert wieder:

Der 85-jährige Hersh (…) ist zuletzt aber auch immer wieder mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen. Die Quellenlage zu Nord Stream ist ungesichert, die USA und Norwegen haben den Bericht scharf zurückgewiesen. "Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung", erklärte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson.

Focus

Wir von Telepolis haben in unserer Berichterstattung über den Fall Hersh, der auch ein deutscher Medienfall ist, auf die Doppelmoral der hiesigen selbsternannten Qualitätspresse hingewiesen; auch unsere Kollegen von der Berliner Zeitung gingen auf die Medienresonanz ein.

Denn in vielen Fällen, in denen es opportun erschien, genügte es auch den Medien, die Hersh nun als unseriös darstellen, sich auf die Aussagen eines einzigen "senior official" oder eben eines "hohen Beamten" zu stützen. Auch wenn dadurch vielleicht ein dritter Weltkrieg ausgelöst wird, weil so ganz nebenbei am frühen Abend der Raketenangriff Russlands auf die Nato gemeldet wird.

Und eine letzte Bemerkung zu diesem Thema. Das ganze mediale Tohuwabohu war nichts als ein Sturm im (deutschen) Wasserglas. International, wir haben das recherchiert, gab es überhaupt keine Aufregung über den Hersh-Bericht. In Lateinamerika als auch in Asien und Afrika wurde der Artikel und die These gelegentlich nachrichtlich erwähnt.

Also alles mal wieder German Angst. German Aufregung. Und German Doppelstandard.

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