So sieht das militärische Gleichgewicht zwischen Russland und Nato aus
Das Atlantische Bündnis hat Moskau als seine "bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung" bezeichnet. Aber wie sieht das militärische Gleichgewicht beider Seiten tatsächlich aus?
Der russische Einmarsch in der Ukraine und die damit einhergehenden Gräueltaten haben natürlich in ganz Europa tiefe Ängste ausgelöst. Im neuen Strategischen Konzept der Nato für das nächste Jahrzehnt wird Russland als "die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum" bezeichnet.
Bevor man jedoch enorme zusätzliche Ressourcen für die Konfrontation mit Russland bereitstellt, sollte man einen nüchternen Blick auf die russischen militärischen Ressourcen sowie auf Art und Umfang der russischen militärischen Bedrohung für die Nato werfen.
Wir sollten nicht vergessen, wie westliche Geheimdienste nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu dem Schluss kamen, dass ihre Schätzungen der militärischen Macht der Sowjetunion aus der Zeit des Kalten Krieges stark übertrieben waren (ebenso wie die westlichen Vorhersagen eines problemlosen russischen Sieges über die Ukraine in diesem Jahr, auch das sollte man nicht vergessen). Schließlich sind die finanziellen Mittel der USA und des Westens nicht unbegrenzt, und sie für die Verteidigung gegen Russland einzusetzen, bedeutet, sie an anderer Stelle einzuschränken.
Was die Militärausgaben anbelangt, sind die Vereinigten Staaten und die Nato Russland haushoch überlegen. Im Jahr 2021 gab Russland rund 66 Milliarden Dollar für sein Militär aus. Allein die europäischen Nato-Mitglieder gaben mehr als das Vierfache aus. Die Vereinigten Staaten mobilisierten mehr als elfmal so viel an Rüstungsausgaben (801 Milliarden Dollar), obwohl sie natürlich auch außerhalb Europas große militärische Verpflichtungen haben. Darüber hinaus haben die europäischen Regierungen, darunter auch Deutschland, eine drastische Erhöhung der Militärausgaben zugesagt, auch wenn die Einzelheiten noch nicht ganz klar sind.
Allein die europäischen Flotten der Nato verfügen über fast das Vierfache der russischen Kriegsschiffe, ganz abgesehen von den enormen Streitkräften, die den USA mit der Sechsten Flotte im Mittelmeer und der Zweiten Flotte im Atlantik zur Verfügung stehen. Die im Strategischen Konzept der Nato gemachte Behauptung, Russland könne im Mittelmeer eine ernsthafte Bedrohung für die Nato darstellen, erscheint nicht überzeugend.
Russlands Mittelmeergeschwader besteht in der Regel nur aus drei Fregatten und sechs konventionellen U-Booten der Varshavyanka-Klasse. Allein die Sechste Flotte der Vereinigten Staaten verfügt in der Regel über rund 40 Kriegsschiffe, darunter einen Flugzeugträger und Kreuzer, die nicht nur von den anderen Nato-Marine-Einheiten, sondern auch von deren Luftstreitkräften unterstützt werden.
Russlands große U-Boot-Flotte ist eine andere Sache. Diese stellt für die Nato dieselben beiden Bedrohungen dar wie einst die sowjetischen U-Boote. Erstens geht von den zwölf russischen U-Booten mit ballistischen Raketen und den zehn russischen U-Booten mit Marschflugkörpern eine nukleare Bedrohung aus. Zweitens hat Russland 15 nukleare Angriffs-U-Boote (von denen fünf, zumindest bis zu diesem Jahr, im Pazifik stationiert waren) und 20 konventionelle Angriffs-U-Boote (sechs im Pazifik).
Ihr Hauptzweck besteht darin, den Einsatz von U-Booten mit ballistischen Raketen zu schützen und die Nato-Schifffahrt über den Atlantik anzugreifen, um im Falle eines Krieges zu verhindern, dass US-Verstärkung Europa erreicht. Wie wirksam sie tatsächlich wären, ist nicht klar – die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich verfügen zusammen über mindestens 35 nukleare Angriffs-U-Boote, die im Atlantik zum Schutz von Konvois eingesetzt werden können. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie erheblichen Schaden anrichten könnten.
Aber wären US-Verstärkungen in Europa überhaupt notwendig, um eine russische Invasion in Nato-Gebiete abzuwehren? Eine russische Armee, die monatelang um die Einnahme relativ kleiner Städte im Donbas kämpfen musste, dürfte kaum in der Lage sein, Warschau, geschweige denn Berlin, einzunehmen. Russland kann auch nicht verhindern, dass die US-Luftwaffe den Atlantik überquert, um eine Invasion abzuwehren.
Was die schiere Zahl der Truppen und Waffen angeht, so haben die europäischen Nato-Mitglieder und die derzeit in Europa stationierten US-Truppen einen erheblichen Vorteil. Im Jahr 2021 verfügten die fünf wichtigsten europäischen Nato-Mitglieder über mehr als 500.000 aktive Bodentruppen (ohne Reserven), während Russland nur 280.000 Soldaten hatte, von denen die meisten derzeit in der Ukraine festsitzen (oder in Zehntausenden von Fällen tot oder verwundet sind). Die Vereinigten Staaten haben sechs Kampfbrigaden in Europa stationiert – weit weniger als die russischen Streitkräfte insgesamt, aber genug, um den europäischen Widerstand ernsthaft zu stärken.
Auf dem Papier verfügt Russland über 22.000 gepanzerte Fahrzeuge im Vergleich zu den 16.000 der Nato. Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg deuten jedoch darauf hin, dass ein großer Teil dieser russischen Fahrzeuge in Wirklichkeit so stark beschädigt ist, dass sie nicht mehr wirksam eingesetzt werden können. Russlands verbleibende Überlegenheit in Waffen gegenüber der Ukraine wurde zudem durch eine Kombination aus ukrainischem Mut und Panzerabwehrwaffen der Nato weitgehend zunichte gemacht. Dasselbe gilt für die noch klarere Überlegenheit Russlands in der Luft, sobald russische Kräfte mit amerikanischen Flugabwehrraketen konfrontiert werden.
Auf absehbare Zeit wird ein sehr großer Teil der russischen Armee in der Ukraine kämpfen oder ukrainische Gegenangriffe abwehren müssen. Nach Schätzungen amerikanischer und britischer Geheimdienste hat Russland bereits rund ein Viertel seiner effektiven Kampfkraft in der Ukraine verloren. Die Bedrohung, die von den russischen Bodentruppen für die Nato ausgeht, lässt sich daher nicht mit den Zeiten vergleichen, als riesige sowjetische Panzerarmeen an Elbe und Donau standen.
Einzig Blockade der Exklave Kaliningrad könnte russischen Angriff auf Nato provozieren
Was die europäischen Nato-Streitkräfte betrifft, so stellt sich die Frage der Koordinierung und des Willens. Der Wunsch der europäischen Staaten, ihre eigenen Militärindustrien zu erhalten, hat zu einer enormen Vermehrung von zuweilen inkompatiblen Waffensystemen geführt, und die einzelnen Streitkräfte verfügen über sich überschneidende und widersprüchliche Kommandostrukturen. Die von der Nato versprochene Schaffung einer gemeinsamen schnellen Eingreiftruppe mit 300.000 Mann, sofern sie tatsächlich zustande kommt, dürfte dazu beitragen, das Koordinierungsproblem zu verringern, und mit Sicherheit ausreichen, um jeden russischen Angriff auf die Nato als Ganzes abzuwehren.
Was den Kampfeswillen der europäischen Nato-Mitglieder betrifft, so lässt sich dieser nur sehr schwer vorhersagen, da er von so vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Viele sind der Ansicht, dass nur das britische und das französische Militär tatsächlich kampfbereit sind – und es muss gesagt werden, dass der ausgesprochen magere Beitrag der meisten Nato-Streitkräfte in Afghanistan und auf dem Balkan diese Annahme sehr gestützt hat. Die Bilder von Russlands Einmarsch in der Ukraine haben jedoch die öffentliche Meinung in Europa aufgewühlt, was vermutlich noch viel stärker der Fall wäre, wenn Russland tatsächlich einen Nato-Mitgliedstaat angreifen würde.
Vor allem aber würde Polen in fast jedem denkbaren Szenario eines Bodenkriegs mit Russland an vorderster Front stehen – und die Bereitschaft der Polen, gegen Russland zu kämpfen, steht kaum in Frage. Polen verfügt über 111.000 aktive Soldaten und 32.000 sofort mobilisierbare Reservisten. Vor sechs Monaten wäre das im Vergleich zur russischen Armee noch klein erschienen, aber die Ukrainer haben gezeigt, wie eine kleine Zahl gut ausgebildeter, gut ausgerüsteter und gut motivierter Soldaten viel größere Armeen zum Stillstand bringen kann. Und wenn Russland Polen angreifen würde, wäre es undenkbar, dass sich der Rest der Nato zurückhält.
Polen würde zweifellos auch den baltischen Staaten zu Hilfe kommen, wenn diese angegriffen würden. Das Baltikum ist – auch nach dem Beitritt Schwedens und Finnlands – der verwundbarste Punkt der Nato. Selbst angesichts der Verpflichtungen Russlands in der Ukraine könnte Russland Kräfte gegen die Balten an der Grenze konzentrieren, während eine Verstärkung durch die Nato aus geographischen Gründen eine Herausforderung darstellen würde. In einer Schlacht an den Grenzen würden die Balten überwältigt werden.
Aber die Balten würden in einem solchen Fall nicht an den Grenzen kämpfen. Sie würden sich mit ziemlicher Sicherheit in die Städte Tallinn, Riga, Vilnius und Kaunas zurückziehen und dort Straße für Straße ausfechten, wie es die Ukrainer getan haben, um Russland einen schnellen Sieg zu verwehren, bevor größere Nato-Truppen eingreifen könnten.
Ein russischer Einmarsch in die baltischen Staaten wäre aus rein militärischer Sicht in jedem Fall ein zutiefst irrationaler Akt, und Putins Einmarsch in die Ukraine war zwar absolut kriminell, aber nicht wahnsinnig – schließlich wurden, wie bereits erwähnt, Moskaus Annahmen über einen schnellen und leichten Sieg von westlichen Geheimdiensten geteilt. Der einzige Umstand, unter dem sich Russland gezwungen sehen könnte, in Litauen einzumarschieren, wäre, wenn Litauen den Zugang zur russischen Exklave Kaliningrad blockieren würde. Deshalb wäre die EU gut beraten, dem Beispiel Deutschlands zu folgen und Kaliningrad von den EU-Sanktionen auszunehmen.
Das ist die einzig plausibel erscheinende Gefahr eines russischen Angriffs auf die Nato. Angesichts der Aussicht auf eine tatsächliche militärische Niederlage in der Ukraine könnte Moskau konventionelle Raketen (von denen es immer noch über ein großes Arsenal verfügt, obwohl es viele in der Ukraine eingesetzt hat) auf Kommunikationslinien in Polen abfeuern, über die die Ukraine mit westlichen Waffen versorgt wird.
Dabei würde es wahrscheinlich nicht darum gehen, diese Lieferungen ernsthaft zu unterbrechen, sondern die Europäer in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sie einen Kompromissfrieden in der Ukraine unterstützen, unter Bedingungen, die für Russland akzeptabel wären. Die Angst würde nicht durch die Angriffe als solche ausgelöst, sondern durch die Überzeugung, dass sie zu einem Kreislauf der gegenseitigen Eskalation führen würden, der das Risiko eines unbeabsichtigten Atomkriegs drastisch erhöhen würde. In Hinsicht auf Atomwaffen ist Russland nach wie vor eine den USA ebenbürtige Supermacht.
Es wäre aus russischer Sicht ein sehr riskanter Schritt, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass damit die Nato nicht eingeschüchtert wird, sondern vielmehr zu einem Einsatz der US-Luftwaffe auf ukrainischer Seite gedrängt wird, was wiederum entweder die Niederlage Moskaus oder eine echte Eskalation in Richtung einer nuklearen Apokalypse zur Folge hätte, bei der auch Russland zerstört wird. Nichtsdestotrotz scheint dieses Szenario – und nicht eine russische Invasion oder eine Seeblockade der Nato – die eigentliche Gefahr eines direkten Konflikts zwischen Russland und der Nato zu sein, mit der wir in den kommenden Monaten oder Jahren konfrontiert sein werden.
Der Artikel von Anatol Lieven findet sich im englischen Original auf Responsible Statecraft. Artin Dersimonian hat zu den Recherchen für diesen Artikel beigetragen.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "The Baltic Revolutions: Estland, Lettland, Litauen und der Weg zur Unabhängigkeit" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).