So verändert China gerade die Weltordnung
Seite 2: Gemeinsame Sicherheit als Hebel nuklearer Abrüstung
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Überdies ist das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, was bisher grundsätzlich übersehen wurde, in Wirklichkeit auch ein Konzept der militärischen, insbesondere der nuklearen Abrüstung. Um diese Auffassung zu untermauern, würde beispielsweise in Europa eine Politik der gemeinsamen Sicherheit – unter der Annahme, dass ein Frieden nur mit und nicht gegen Russland möglich ist – voraussetzen, dass die Russische Föderation – neben den USA – als die größte Nuklearmacht der Welt, ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, eine Abrüstung ihrer nuklearen Kapazität in Aussicht zu stellen, um sie im Rahmen einer globalen nuklearen Abrüstung dann auch tatsächlich zu verschrotten.
Denn ohne eine solche Perspektive würden sich die übrigen Staaten Europas kaum auf eine gemeinsame Sicherheit mit Russland einlassen und das ganz zu Recht. Die Perspektive einer gemeinsamen Sicherheit sämtlicher Staaten Europas, einschließlich Russlands, stellt keine Utopie dar, sie war bis zum Jugoslawien-Krieg 1999 innerhalb der EU eine sehr ernsthaft verfolgte Strategie und bis zum russischen Überfall auf die Ukraine weiterhin eine populäre Idee.
Der Ukraine-Krieg wird aber irgendwann ein Ende finden, und Russland wird, jedoch völlig unabhängig von dort jeweils herrschender Regierung, ein bedeutender Nachbar der EU-Staaten bleiben. Eine nachhaltige Sicherheit für die EU und nicht zuletzt auch für Russland kann durch keine bessere Lösung hergestellt werden als durch das Konzept gemeinsamer Sicherheit, bzw. durch die Realisierung der sozialdemokratischen Entspannungspolitik und des von Michail Gorbatschow ins Spiel gebrachte gemeinsamen europäischen Hauses.
Russland würde sich mit seiner grundsätzlichen Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung im Rahmen einer Politik der gemeinsamen Sicherheit jedoch in keiner Weise entwaffnen, wie man entgegnen könnte, sondern eher einen Prozess der globalen Delegitimierung der nuklearen Waffensysteme in Gang setzen, an dessen Ende die Abschaffung von nuklearen Waffen in allen Nuklearstaaten stehen könnte.
Ähnliche nukleare Abrüstungsprozesse wären nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, letztlich auch in Nordamerika, nicht nur denkbar, sondern auf Grund der in Gang gekommener Delegitimierung von Nuklearwaffen beinahe zwingend.3
Immerhin ist die Idee der Verbannung von Atomwaffen in der UN-Charta verankert. Sie ist auch ein Projekt, nach dem sich die Menschheit zu Recht sehnt. So gesehen kann der im Jahr 2017 mit 122 Stimmen in der UN-Vollversammlung angenommene Atomwaffenverbotsvertrag erst durch die Politik der gemeinsamen Sicherheit mit Leben gefüllt werden.
Dezentral regionale Kooperation und gemeinsame Sicherheit
Die Inspiration für das Konzept einer dezentral strukturierten globalen Sicherheitsarchitektur entstand im Zuge der intensiven Beschäftigung mit dem Konzept der gemeinsamen Kooperation und Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).4
Bei genauerer Betrachtung ließen sich analog zu einer regionalen Kooperation in Europa insgesamt folgende neun Regionen in der Welt ausfindig machen, in denen sich das Konzept der gemeinsamen Sicherheit auf Grund regionaler Besonderheiten und Erfordernisse verwirklichen ließe5:
1. Die Europäische Union, die zunächst als eine ökonomische Gemeinschaft von Staaten mit ganz unterschiedlicher Geschichte und in der Vergangenheit einander feindlich gegenüberstehenden, ja sogar miteinander Krieg führenden Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Durch Gemeinsamkeiten wie der kapitalistischen Wirtschaft und der christlichen Kultur konnte die ökonomische Integration in vertikaler wie in horizontaler Richtung so weit intensiviert und ausgebaut werden, dass die EU inzwischen über eine gemeinsame Währung verfügt und im Begriff ist, weitere staatliche Strukturen wie eine gemeinsame Armee aufzubauen.
Die Sicherheit der EU wird gegenwärtig durch die Nato gewährt, die als eine US-dominierte militärische Allianz dem Geist der gemeinsamen Sicherheit diametral entgegengesetzt ist. Dennoch beweist die EU, dass eine regionale Kooperation ein Zukunftsmodell für alle Regionen der Welt werden kann. Schon jetzt strahlt sie gerade deshalb auf viele Staaten des Globalen Südens sehr positiv aus.
2. Gemeinschaft der nordamerikanischen Staaten, die sich aus den Vereinigten Staaten und Kanada zusammensetzen könnte. Hier kann sowohl gemeinsame Sicherheit wie die Weiterentwicklung der ohnehin schon jetzt bestehenden ökonomischen Kooperation Ziel der Gemeinschaft sein. Aufgrund geopolitischer Beschaffenheit würde Nordamerika in einer nuklearfreien Welt ohnehin durch keinen anderen Staat militärisch bedroht werden können.
Aber gemeinsame Sicherheit schließt selbstverständlich zahlreiche andere Bedrohungen, wie beispielsweise die durch Klimawandel verursachten Bedrohungen und andere Naturkatastrophen oder durch grenzüberschreitenden Drogenhandel und Kriminalität usw. ein.
3. Gemeinsame Sicherheit und ökonomische Kooperation der südamerikanischen Staaten, die sämtliche Staaten in Südamerika einschließlich aller Inselstaaten umfasst. Gemeinsame kolonialistische Geschichte und die aus der Kolonialzeit vererbte gemeinsame Sprache und christliche Kultur dürfte die Kooperation im Interesse aller Mitgliedsstaaten beflügeln. Gleichzeitig ließen sich die sehr hohen Militärausgaben der einzelnen Staaten für die Beseitigung des Hungers und den Aufbau des Sozialstaats umgeleitet werden.
4. Gemeinsame Sicherheit und ökonomische Kooperation in Südasien, die sich aus der VR China, Indien, Vietnam, Nord- und Südkorea und kleineren Staaten der Region zusammensetzt. Eine Wiedervereinigung zwischen Nord- und Südkorea wäre im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheit in der Region dann eine Selbstverständlichkeit. Die geopolitische Konstellation bietet diese Zusammensetzung geradezu an. Dennoch könnte sich in diesem Falle wegen der Größe der Bevölkerung in China und Indien als zweckmäßiger erweisen, zwei Staatengruppen mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit und ökonomischer Kooperation zu bilden.
5. Gemeinsame Sicherheit und ökonomische Kooperation in Westasien, die sich aus sämtlichen Staaten des Mittleren und Nahen Ostens und zentralasiatischen Staaten zusammensetzen könnten. Eine solche regionale Kooperation wäre gewissermaßen sogar ideal, weil sich hier Staatengruppen zusammensetzen würden, die wie die Staaten am Persischen Golf über umfangreiche Ressourcen vor allem fossiler Energie verfügen, aber unter akuter Wasserknappheit leiden, während Staaten wie in Zentralasien, die überwiegend rohstoffarm sind, jedoch über erheblich größere Wasserreserven verfügen. Desgleichen gilt für den Sachverhalt, Zugang zu den Weltmeeren, von dem alle Mitgliedsstaaten profitieren könnten.
Auch hier dürften die kulturellen Gemeinsamkeiten durch den Islam, der in der Region Westasien nahezu überall praktiziert wird, positiv wirken. Von herausragender Bedeutung ist die friedenspolitische Perspektive für die Konflikte zwischen Israel und Palästina sowie in Kurdistan. Gemeinsame Sicherheit in Mittleren und Nahen Osten dürfte die Beendigung der israelischen Besatzung und des Apartheid-Regimes in Palästina und Frieden mit allen arabisch-islamischen Staaten in der Region erleichtern.
Dasselbe gilt auch für den Kurdistan Konflikt, da im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheit die vier Staaten mit kurdischen Siedlungsgebieten, nämlich Türkei, Syrien, Iran und Irak, sich leichter darauf einigen könnten, der kurdischen Bevölkerung aller dieser Staaten, die ersehnte Selbstverwaltung zu gewähren, ohne dass deshalb eine territoriale Separierung notwendig wäre.
6. Gemeinschaft der nordasiatischen Staaten, die sich aus der Russischen Föderation, der Ukraine, Kasachstan, und der Mongolei zusammensetzen sollte. Gemeinsame Sicherheit zwischen Russland und der Ukraine ist ohnehin die einzig friedenspolitische Antwort auf den gegenwärtigen Krieg zwischen diesen beiden Staaten. Leider wurde es m.E. nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union versäumt, den Staatenverband durch den Aufbau von gemeinsamer Sicherheit und ökonomischer Kooperationsstruktur zu ersetzen.
Nicht die Nato würde der Ukraine dauerhaft die nötige Sicherheit verleihen, sondern – auf Grund zahlreicher Gemeinsamkeiten kultureller, ökonomisch komplementärer und geopolitischer Natur – die ökonomische Kooperation mit einem Russland, das zudem im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitsarchitektur auch nuklear abrüsten müsste.
7. Gemeinsame ökonomische und sicherheitspolitische Gemeinschaft die aus Australien, Neuseeland, Japan, Indonesien sowie kleineren Staaten zusammengesetzten Staaten entsteht.
8. Gemeinschaft der nordafrikanischen Staaten, die sich mit dem Ziel ökonomischer und sicherheitspolitischer Kooperation zusammenschließen und komplementäre Vorteile der Kooperation für die ökonomische Entwicklung, die Bewältigung des Hungers, der Armut und der Folgen des Klimawandels zum gegenseitigen Vorteil nutzen würden.
Hier träfen Staaten mit teilweise ganz unterschiedlicher kultureller Tradition, der islamischen und der christlich geprägten Ausrichtung, aufeinander und versuchten, neben den ökonomischen Vorteilen der Kooperation auch die Vorteile, die sich aus der Vielfalt der Kulturen ergeben, zu nutzen und durch Prinzipien der gemeinsamen Sicherheit ihre Streitigkeiten und Konflikte zu bewältigen sowie sich gegen mögliche Bedrohungen durch den Klimawandel, Wasserknappheit und Pandemie besser zu wappnen.
9. Gemeinsame ökonomische und sicherheitspolitische Kooperation der afrikanischen Staaten südlich der Sahara. In diesem Teil des afrikanischen Kontinents könnten gemeinsame Erfahrungen aus der Kolonialgeschichte, für die kulturellen Gemeinsamkeiten eine solide Basis darstellen, die Vorteile, die sich aus Rohstoffreichtum in dieser Region ergeben, kooperativ zu nutzen und interne Konflikte und Bedrohungen gemeinsam zu überwinden.
Die oben skizzierte Perspektive mag utopisch erscheinen, sie ist es eigentlich auch. Sie ist allerdings eine reale Utopie und vorstellbar, wenn eine faktenbasierte Fantasie zur Wirkung kommt. Es gilt hier auf jeden Fall der Grundsatz, dass Utopien von heute Realitäten von morgen sein können. Bis eine gemeinsame Sicherheit und ökonomische Kooperation in neun oder mehr Regionen der Welt tatsächlich entsteht, dürften allerdings nach menschlichem Ermessen ganz sicher Jahrzehnte vergehen.
Es gibt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass dezentral regionale Kooperationen und Sicherheitsstrukturen besser geeignet sind, die gegenwärtigen globalen Herausforderungen wie Armut, Folgen des Klimawandels und andere ökologische Bedrohungen zu meistern und für eine multilaterale Welt eine solidere Grundlage zu schaffen.
Diese Perspektive ist nicht nur vorstellbar, sondern sogar ganz realistisch. Dann wäre auch die Zeit reif dafür, die Vereinten Nationen zu reformieren, beispielsweise den Sicherheitsrat in seiner gegenwärtig monopolistischen Struktur mit dem exklusiven Veto-Recht der fünf Nuklearmächte zu überwinden.
Sämtliche globalen Konflikte, für deren Entschärfung und Regulierung der Sicherheitsrat bei der Gründung der Vereinten Nationen konstruiert wurde, würden ohnehin dezentral und im Rahmen der regionalen gemeinsamen Sicherheitskonzepte verhandelt, so dass der Sicherheitsrat dadurch grundsätzlich auch überflüssig würde.
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