Spanien: Ein Vormittag vor dem Fernseher
Ein Blick in den politischen Alltag in Spanien
Eigentlich ist heute ein Tag wie jeder andere: Antonio García Ferreras zelebriert wie jeden Vormittag im Kanal "La Sexta" seine Diskussionsrunde "Al rojo vivo" ("erhitzt"), angereichert mit Direktzuschaltungen von für die Thematik relevanten Figuren aus Politik, Justiz, Medien und Vereinigungen.
Dennoch ist heute ein besonderer Tag in Spanien, der 20. November ist Todestag des Generalísimo Francisco Franco. Einige Themen kreisen um diesen Anlass: Die sozialistische Regierung unter dem Präsidenten Pedro Sánchez versucht seit Monaten, die sterblichen Überreste des Diktators aus dem "Valle de los Caídos", ein von Häftlingen in der Nähe von Madrid gebautes gigantisches Monument für die gefallenen "Helden" des spanischen Bürgerkriegs mit einem riesigen Kreuz auf der Spitze, umzubetten, gegen den erbitterten Widerstand von Francos Familie. Wie jedes Jahr gibt es einen Aufmarsch von Faschisten vor seiner Gruft, ein wichtiger Wallfahrtsort für diese unverwüstlichen und zahlreicher werdenden Bewunderer des ruhmreichen Diktators.
Am Abend findet eine katholische Messe in Madrid, eine von insgesamt 17 von der katholischen Kirche genehmigten Messen in Spanien "für die Seele" Francos. Ein Vertreter der Stiftung "Fundación Francisco Franco", mit Steuergeldern subventioniert, erklärt dem Moderator, warum die Pläne zur Exhumierung Francos scheitern werden.
Das wichtigste Thema heute ist aber ein anderes: die Neuwahl des CGPJ, oberste spanische Justizbehörde, und ihres Präsidenten. Nach der spanischen Verfassung werden die 20 Mitglieder des CGPJ von Kongress und Senat gewählt, die beiden Kammern der Volksvertretung. Diese 20 Mitglieder bestimmen dann wiederum ihren Präsidenten, der damit gleichzeitig zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofs wird.
In den letzten Wochen hatte die Rechtspartei Partido Popular (PP) und die sozialistische Regierungspartei PSOE eine Vereinbarung unterzeichnet über die Anzahl der von beiden Parteien vorzuschlagenden Richter, in Fortsetzung einer Tradition aus Zeiten des Zweiparteiensystems. Immerhin wurde diesmal eine dritte Partei, die neue Linkspartei Podemos, dabei auch mit einem Trostpreis bedacht, während sich die neue Rechtspartei Ciudadanos dem Verfahren verweigerte.
Bei diesen Verhandlungen hatte die PP auch gleich durchblicken lassen, wer ihr favorisierter Präsident des CGPJ sei: Manuel Marchena Gómez, ein der Rechtspartei zugerechneter Richter, der als Vorsitzender der Zweiten Kammer des Obersten Gerichts den Prozess gegen die katalanischen "Separatisten" leiten wird. Die PP tat das, obwohl nach Gesetz die Wahl des Präsidenten den 20 noch gar nicht gewählten Mitgliedern des CGPJ zusteht.
Gestern wird nun ein Whatsapp bekannt, verfasst von Ignacio Cosidó, Sprecher der PP-Fraktion im spanischen Senat. In diesem Whatsapp preist er das in den Absprachen mit den Sozialisten Erreichte, und es gipfelt in dem Satz: "(Mit Marchena) werden wir die Zweite Kammer aus dem Hintergrund kontrollieren." Die Wahl von Marchena wird also erstens als vollendete Tatsache gehandelt, und zweitens stellt er die spanische Judikative als Befehlsempfängerin der Rechtspartei dar. Eine derart dreiste Aufhebung der Gewaltenteilung schockiert dann doch die spanische Öffentlichkeit. Folge: Derart bloßgestellt zieht Marchena heute Morgen seine Kandidatur zurück. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde denkt man hingegen in der PP an einen Rücktritt von Cosidó, verdächtigt stattdessen die sozialistische Justizministerin Dolores Delgado, sie sei für die Verbreitung von Cosidós Whatsapp verantwortlich. Die PP kündigt gleichzeitig in einer Erklärung die Zusammenarbeit mit der Justizministerin auf.
Wie es der Zufall so will, wird ebenfalls heute bekannt, dass Cosidó in seiner Zeit als Direktor der Nationalpolizei auf Staatskosten einen Spezialtrupp von 80 Polizisten zusammengestellt hatte, um Jagd auf brisante Unterlagen des ehemaligen Schatzmeisters der PP, Luis Francisco Bárcenas, zu machen, die eine geheime "Kasse B" belegen, aus der führende Mitglieder bis hinauf zum ehemaligen Präsidenten Mariano Rajoy ein zweites Gehalt bezogen haben sollen.
In einem anschließenden Diskussionsblock wird über die Auswirkungen der jetzt offiziell gewordenen Erkenntnis spekuliert, dass die Gewaltenteilung in Spanien und die Unabhängigkeit der Justiz nicht mehr existieren, und das in einem so heiklen Moment. Denn was kann das konkret für den bevorstehenden Prozess gegen die katalanischen Angeklagten bedeuten, mit einem Richter als Vorsitzenden, von dem der PP stolz verkündet, er sei von dieser Partei "ferngesteuert"? Einig ist man sich, dass das Prestige des Obersten Gerichts schwer beschädigt ist. Aber wer weiß - hoffen einige: vielleicht stellen sich ja die Richter der Zweiten Kammer gerade deshalb störrisch und folgen in der Urteilsfindung nicht den politischen Vorgaben.
Es gibt immerhin einen erhellenden Moment im Programm, als der vor Jahren aus dem Richteramt entfernte Baltasar Garzón (seitdem auf internationaler Ebene tätig, unter andern als Berater für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag) zugeschaltet wird. Bezüglich der Alternative, die Wahl des CGPJ allein den Richtern unter Ausschluss der Volksvertretung zu überlassen, betont er, Schuld an der Politisierung der spanischen Justiz wäre nicht die Beteiligung der Volksvertretung in Senat und Kongress bei der Wahl des CGPJ, sondern die völlige Intransparenz des Verfahrens und das völlige Fehlen der beruflichen Verdienste und fachlichen Kompetenz als Auswahlkriterium.
Zum Thema des verlorenen Prestiges des Obersten Gerichts kommt eine weitere Beschädigung in den letzten Wochen zur Sprache: Eine auf das Steuer- und Finanzwesen spezialisierte Kammer des Gerichts hatte in einem letztinstanzlichen Urteil entschieden, dass eine bedeutende Gebühr beim Abschluss einer Hypothek von den Banken und nicht vom Käufer der Immobilie zu zahlen ist. Auf die Banken kam eine Rückzahlung von mehreren Milliarden Euro zu, und ihre Börsenkurse "purzelten".
Kurz darauf teilte der Präsident des Obersten Gerichts, Carlos Lesmes, der verblüfften Öffentlichkeit mit, über das Thema müsse neu entschieden werden, dieses Mal nicht von der sachkundigen Kammer, sondern vom Plenum des Obersten Gerichts. Es handelte sich, wohlgemerkt, um ein rechtskräftiges und endgültiges Urteil. Die Verstörung war derart massiv, dass Lesmes vor der Presse dementieren musste, er hätte einen Anruf von Bankvertretern erhalten.
In einem neuen Urteil kurz darauf und nach einer chaotischen mehrtägigen Verhandlung wurde das Urteil des Obersten Gerichts wieder aufgehoben. Nun haben doch wieder die Käufer die Gebühr von mehreren tausend Euro zu zahlen und nicht die Banken. Auch hier wieder hat der für dieses Durcheinander Verantwortliche, der Präsident des Obersten Gerichts Carlos Lesmes, nicht eine Sekunde erwogen, zurückzutreten, sich aber stattdessen öffentlich für das von ihm angerichtete Chaos entschuldigt.
Vor dem Abschalten des Fernsehers gibt es noch einen kleinen "Leckerbissen": Rafael Catalá, Justizminister in der letzten PP-Regierung von Rajoy, zum fraglichen Zeitpunkt Staatssekretär für Planung und Infrastruktur im Ministerium für Wirtschaftsentwicklung, war für den Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse in Galizien der Eisenbahngesellschaft RENFE zuständig. Der Auftrag im Umfang von 146 Millionen Euro ging an das Bauunternehmen VIMAC, nachdem Catalá den verantwortlichen Beamten angewiesen hatte, für dieses Unternehmen "eine Lücke zu schaffen". Als Gegenleistung zahlte das Unternehmen einen größeren Millionenbetrag in die Geheimkasse der Partido Popular.