Spenden, Steuern und Sozialdemokraten

Kanadas Minderheitsregierung gestürzt

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Während die liberale Minderheitsregierung Kanadas gestern über einen Spendenskandal stolperte, bestimmen Sozialpolitik, Steuern und das Verhältnis zu den USA die Diskussion. Kanadas Opposition hat Neuwahlen für Januar erzwungen. Außerdem werden Stimmen nach einer Wahlrechtsreform laut.

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, könnte Kanadas Premierminister Paul Martin derzeit denken. Am Montag nutzten die drei oppositionellen Parteien eine Abstimmung im Unterhaus, um die liberale Minderheitsregierung endgültig zu stürzen. Möglich wurde das durch die verärgerten Sozialdemokraten, die dem Kabinett in der Hauptstadt Ottawa nun die nötige Duldung entzogen. Nach einem Weihnachtswahlkampf wird im Januar gewählt. Etwa 22 der 32 Millionen Kanadier sind wahlberechtigt, die Wahlbeteiligung lag zuletzt bei 60 Prozent.

Erst im Juni letzten Jahres verloren die seit 1993 regierenden Liberalen die absolute Mehrheit und wurden seitdem von der sozialdemokratischen Neuen Demokratischen Partei (NDP) geduldet. Ein Misstrauensvotum der Konservativen und des frankophonen Bloc Québécois im vergangenen Mai überstand Martin nur äußerst knapp. Ein Grund für die andauernde Krise ist ein langlebiger Spendenskandal, der auch diesen Wahlkampf dominieren wird.

Nachdem die Separatisten in der französischsprachigen Provinz Quebec 1995 fast die Hälfte der Bevölkerung für die Trennung von Kanada mobilisieren konnten, stellte Jean Chrètien, Amtsvorgänger und Parteifreund Martins, hundert Millionen Dollar zur Stabilisierung der Region bereit. Ein erheblicher Teil des Geldes floss nach Auskunft des Ermittlungsrichters John Gomery jedoch in die Taschen von Günstlingen der liberalen Partei.

Die Konservativen wittern ihre Chance

Trotzdem wird eine weitere Amtsperiode der Liberalen nicht ausgeschlossen. Die traditionell "grits" genannte Partei gilt in der kanadischen Öffentlichkeit als "natürliche Regierungspartei": Jeder liberale Parteivorsitzende wurde auch Premierminister des Landes. Doch die Konservativen wittern ihre Chance. Eigentlich der richtige Zeitpunkt für einen Angriff auf den Sozialstaat und einen deutlichen Schritt nach rechts: Die Liberalen sind angeschlagen, haben den Boden aber vorbereitet. Die Sozialleistungen wurden nur halbherzig verteidigt, der Spendenskandal wirft seine Schatten und die Steuerpolitik der Regierung wirkt unglaubwürdig.

Vergangene Woche rückte der konservative Parteichef Stephen Harper die Liberalen anlässlich des Spendenskandals gar in die Nähe des organisierten Verbrechens und behauptete nach Auskunft der eher konservativen National Post, dass die Liberalen "jedes relevante Gesetz der Provinz Quebec gebrochen" hätten. Wegen eines beachtlichen Budgetüberschusses von neun Milliarden Dollar im vergangenen Jahr, verlangen die Konservativen, die 2003 aus den traditionellen Tories und der populistischen Kanadischen Allianz hervorgegangen sind, außerdem deutliche Steuersenkungen.

Das neoliberale Fraser-Institut rechnet den Lesern in einer aktuellen Publikation akribisch vor, wie viel ihnen der Staat beim Tanken oder Trinken wegnimmt. Das kommt zumindest am Stammtisch an, obwohl die durchschnittliche Abgabenquote nicht höher ist als im europäischen Durchschnitt. Etwas unüberlegt schein da nur die drastische Personalentscheidung der Konservativen: Spitzenkandidat Harper entstammt der seinerzeit hauptsächlich im landläufigen Westen des Landes aktiven Kanadischen Allianz und gilt selbst Parteifreunden als zu rechts.

Krankenversicherung als Distinktionsmerkmal gegenüber den USA

Von der lautstark geforderten Privatisierung der allgemeinen Krankenversicherung könnte nun vor allem die NDP profitieren, auch wenn sie in Umfragen weiterhin bei 18 Prozent rangiert. Der sozialdemokratische Fraktions- und Parteichef Jack Layton gilt als derzeit beliebtester Spitzenpolitiker des Landes. Auf einem Gewerkschaftstag im Oktober forderte er eine bessere Kinderfürsorge und warnte vor einer "Amerikanisierung der Krankenversicherung", die in Kanada auch als Distinktionsmerkmal den USA gegenüber populär ist.

Gerade für die Sozialdemokraten, die in der kanadischen Parteienlandschaft die Rolle einer typischen Linkspartei einnehmen und bisher an keiner Bundesregierung beteiligt waren, ist jedoch das kanadische Mehrheitswahlverfahren ein Problem. Es kennt keine proportionale Repräsentation und bevorzugt Parteien, die über regionale Hochburgen verfügen. Der Bloc Québécois, der nur im französischsprachigen Teil des Landes antritt, hat zwar deutlich weniger Wähler, aber dreimal mehr Abgeordnete als die im ganzen Land verteilt gewählte NDP. Änderungen im Wahlsystem stehen auch auf dem Wunschzettel der Grünen, die mangels Stimmenkonzentration nicht im Parlament vertreten sind. Die NDP hätte nach der Einführung des Verhältniswahlrechts doppelt so viele Abgeordnete.

Mehr Beachtung findet allerdings die Diskussion um Waffenregistrierung und das Verhältnis zu den USA. Allein in Kanadas größter Stadt Toronto starben in diesem Jahr 45 Jugendliche durch Schusswaffen. Es vergeht keine Woche in der es nicht zu einer folgenschweren Schießerei in den Randbezirken der Metropole kommt. Während sich Kanadas Rechte an den USA orientieren und ein generelles Waffenverbot ablehnen sind, forderten Elterninitiativen bei Protesten mehr öffentliches Engagement in Krisenbezirken.

Neue Minderheitsregierung wahrscheinlich

Auch das das US-Raketenabwehrsystem NMD ist vielen Kanadiern unheimlich geworden. Seitdem sich Martin im Februar dieses Jahres gegen eine Beteiligung an dem Rüstungsprojekt der US-Regierung aussprach, stehen die Konservativen ziemlich alleine da. Empört ist man ebenfalls über die Haltung Washingtons zum Freihandelsabkommen NAFTA: Der große Nachbar hatte die Einfuhr von kanadischem Holz kürzlich mit Zöllen belegt, aus Sicht Ottawas eine Vertragsverletzung.

Dass die heiße Phase des Wahlkampfs in den Januar fällt, dürfte vor allem der Werbebranche gefallen, die so die umsatzstarken Weihnachtswochen verlängert. "Die Parteien werden Millionen in die Taschen der Werbeindustrie pumpen – allen voran die Liberalen", prophezeite Professor Nelson Wiseman, Starpolitologe an der Universität Toronto am Montag vor hunderten Studenten. Ob das kanadische Wahlvolk auch in Zukunft Interesse an Sozial- und Außenpolitik, sowie Waffen- und Wahlrechtsreform zeigt, bleibt abzuwarten. Nötig wäre es allemal, denn Experten rechnen mit einer neuen Minderheitsregierung, wahlweise konservativ oder wieder liberal. Und das könnte schon 2007 wieder zu Neuwahlen führen. Das ist wäre nicht unüblich im Land des Ahornsirups: Schon die Regierungen 1958, 1963 und 1979 haben nicht einmal 17 Monate durchgehalten.