"Sprung nach Europa schaffen, damit die Anschläge aufgeklärt werden"
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Spanien: Opfer der islamistischen Anschläge von 2017 glauben nicht, dass der Prozess gegen Zellenmitglieder zur Aufklärung führt
Der islamistische Terroranschlag in Wien zeigt genauso, wie die Enthauptung von Samuel Paty in Frankreich, dass weiterhin mit dem Terror von Dschihadisten zu rechnen ist. Wegen der Vorgänge in Frankreich und Österreich hat gerade auch die katalanische Polizei vor neuen Anschlägen in Katalonien gewarnt. Zuletzt wurde die Region in Spanien am 17. August 2017 von Anschlägen in Barcelona und Cambrils heimgesucht.
Auf den Ramblas der katalanischen Metropole verlor Javier Martinez seinen dreijährigen Sohn Xavi und beinahe auch seine Tochter. Der Junge lief mit seiner Mutter und seiner Schwester Marina, die damals sieben Jahre alt war, die Promenade im Zentrum Barcelonas hinauf, als sie von einem Lieferwagen erfasst wurden.
Während die Großtante Roser und die Tochter den Anschlag schwer verletzt überlebten, erlag auch der 57-jährige Großonkel Francisco López seinen schweren Verletzungen. Insgesamt wurden im Rahmen der Anschläge des islamistischen Kommandos in Barcelona und im nahen Cambrils 16 Menschen ermordet und zahllose verletzt.
Die Aufklärung gestaltet sich seither mehr als schwierig. Immer wieder haben die großen spanischen Parteien eine parlamentarische Untersuchungskommission verhindert. Sie sollte unter anderem die Verbindungen des mutmaßlichen Kopfs der Terrorzelle zur Polizei und dem Geheimdienst klären. Der sogenannte "Imam von Ripoll", Abdelbaki Es Satty, war mindestens ein Zuträger des Geheimdienstes CNI. Dieser hat Kontakte zu Es Satty sogar eingeräumt. Es gibt auch deutliche Hinweise darauf, dass der Geheimdienst bis kurz vor den Anschlägen noch mit dem Imam in Kontakt stand.
Angeblich ist der Imam in der Bombenwerkstatt im Dorf Alcanar bei der Herstellung von Sprengstoff in die Luft geflogen. Am Tag nach der Explosion haben die übrigen Zellenmitglieder auf eine "Terrorfahrt" umgeschaltet, da ihre Pläne, Massaker in Barcelona mit Lieferwagen-Bomben anzurichten, zerstoben waren.
Der Autor hat sich mit Javier Martínez auf den Ramblas in Barcelona getroffen, um über den Prozess gegen drei überlebende mutmaßliche Mitglieder der Terrorzelle zu sprechen, der an diesem Dienstag vor dem Nationalen Gerichtshof in Madrid beginnt.
"Ich will, dass der Mord an meinem Sohn für etwas gut war"
Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie nun mehr als drei Jahre nach dem Anschlag an den Tatort zurückkommen und über die Ramblas gehen?
Javier Martínez: Das ist immer sehr hart für mich, das schmerzt stark. Ich durchlebe alles erneut. An diesem 17. August wurde ich angerufen und fuhr mit dem Taxi zu den Ramblas. Unten am Kolumbus-Denkmal musste ich raus, da alles verstopft war. Es war totenstill. Nur von weitem hörte man Sirenen, daran erinnere ich mich noch sehr genau. Ich rannte, glaube ich, von zwei Polizisten begleitet die Ramblas hoch. Hier unten am Denkmal war seither noch nicht, nur weiter oben war ich zuvor bei verschiedenen Gedenkveranstaltungen.
Am 10. November beginnt nun am Nationalen Gerichtshof in Madrid der Prozess gegen drei mutmaßliche Zellenmitglieder. Was bedeutet das für Sie? Freude, dass nach drei Jahren die juristische Aufarbeitung beginnt?
Javier Martínez: Für mich und andere Opfer ist klar, dass damit eine Etappe abgeschlossen wird. Mein Sohn und 13 weitere Menschen wurden hier ermordet. Es gibt nun einen Prozess, in dem die verurteilt werden sollen, die überlebt haben. Allerdings tun mir diese Jungs sogar leid. Sie wurden benutzt.
Wie haben sie die letzten drei Jahre erlebt?
Javier Martínez: Ich war immer wieder kurz davor, alles hinzuwerfen. Der Kampf um Aufklärung bringt einen enormen Verschleiß mit sich. Mir wurde oft geraten, aufzugeben, aber ich kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sonst wäre der Tod meines Sohnes umsonst gewesen. Ich will aber, dass der Mord an meinem Sohn für etwas gut war. Wir müssen daraus lernen, die Prävention verstärken, besser auf solche Vorgänge vorbereitet sein.
Ich bekomme auch Drohungen. Ich bekomme anonyme Anrufe und mir wird gesagt, ich soll aufhören, weiter zu bohren. Man droht mir und erinnert mich, dass ich ja noch weitere Familienmitglieder hätte. "Wir werden dir Moslemfreund auf einem Platz öffentlich die Kehle durchschneiden", wurde mir unter anderem erklärt. Das hat mich allerdings nur darin bestärkt, weiter zu machen.
Gerade gestern haben mich Mitglieder der moslemischen Gemeinde in meinem Heimatort Rubí gewarnt, dass ich gut auf mich aufpassen soll. Aber soll ich Personenschutz beantragen? Nein. Ich habe niemandem etwas getan. Man hat mir etwas angetan.
Und ich verstehe nicht, warum es keine parlamentarische Untersuchungskommission gibt. In allen Ländern gibt es sie zu solchen Vorgängen. Warum also hier nicht? Hätte man sie eingesetzt, müsste ich mich nicht um Aufklärung bemühen.
Was glauben Sie, warum die großen spanischen Parteien eine Untersuchungskommission verhindert haben?
Javier Martínez: Hierzu kann ich Ihnen nur meine Theorie der Vorgänge darlegen. Die offizielle Version ist, ein verrückter Imam habe jungen Leuten den Kopf verdreht, um Menschen zu töten. Klar, die Volkspartei (PP) interessiert Aufklärung nicht, denn die hat damals regiert, aber auch die Sozialdemokraten verhindern sie.
Für mich ist klar, dass der Anschlag direkt mit dem Unabhängigkeitsprozess Kataloniens in Verbindung steht. In den Wochen vor dem Anschlag und dem Referendum danach am 1. Oktober wurde viel Militär um Katalonien herum zusammengezogen.
Was wäre nach den bestialischen Anschlägen passiert, wie sie die Zelle mit sieben bis zehn Lieferwagen-Bomben geplant hatten? Die sollten zeitversetzt explodieren, auf den Ramblas, an der Sagrada Familia, am Fußballstadion… Es sollte Hunderte Tote und Tausende Verletzte geben. Als Ergebnis wäre die Terrorwarnstufe von vier auf die letzte Stufe fünf erhöht worden, was den Ausnahmezustand bedeutet hätte.
Zweifel an der offiziellen Version
Was lässt sie an der offiziellen Version zweifeln?
Javier Martínez: Zum Beispiel, dass keine Selbstmordanschläge geplant waren! Die Sprengstoffwesten waren nur Attrappen. Die Leute hatten vor, das Land nach den Anschlägen zu verlassen. Sie hatten gefälschte Pässe dafür. Sehr merkwürdig ist auch, dass sie problemlos die Bestandteile zur Herstellung des Sprengstoffs TATP, der auch "Mutter Satans" genannt wird, in großen Mengen kaufen konnten, wie Nagellackentferner (Aceton) oder Wasserstoffperoxid.
Diese Ausgangsstoffe für Explosivstoffe sollen aber nach EU-Vorschriften seit 2015 überwacht werden. Spanien kennt sie, wie sich ja an allen Flughäfen sieht. Deshalb darf man nur begrenzte Mengen an Flüssigkeiten mit an Bord nehmen. Angewendet wurden die Vorschriften merkwürdigerweise aber nicht.
Meiner Meinung nach wurden diese jungen Leute benutzt. Mir ist nicht klar, was man ihnen geboten hat. Sie stammen alle aus einer besonders benachteiligten Gegend in Marokko und dort herrscht eine Clanstruktur, die sie untereinander verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen. Und die Geschichte von der angeblichen schnellen Radikalisierung ist falsch.
Ob es sich überhaupt um einen islamistischen Anschlag handelt, ist mir nicht klar, denn eine Sache sticht besonders hervor. Würden es Dschihadisten wirklich zulassen, dass die Überreste des Imams - der für sie ein Held ist - auf einem christlichen Friedhof liegen? Das ist doch Erde von Ungläubigen. Wir wissen, was das für Islamisten bedeutet. Aber niemand hat versucht, sie zu bekommen und zu überführen. Ist das eine Verhaltensweise des Dschihadismus?
"Jemand muss übrig sein"
Ihr Anwalt Jaume Cuevillas hat erklärt, dass es keinen realen Beweis dafür gibt, dass der Imam von Ripoll tatsächlich in der Bombenwerkstatt in Alcanar ums Leben gekommen ist? Auf was stützt er sich?
Javier Martínez: Es gibt viele Probleme. Es gibt keinen DNA-Nachweis des Imams aus Alcanar. Wir wissen, dass die Überwachungskette bei DNA-Spuren unterbrochen wurde. Die Djellaba, von der DNA-Proben zum Vergleich stammen, hatte zudem eine ganz andere Farbe als die, die von Es Satty immer benutzt wurde. Das Auto des Imams hat das Haus kurz vor der Explosion verlassen und später wurde es in Sant Carles de la Ràpita gefunden.
Und es gibt Leute aus der moslemischen Gemeinde in Ripoll, die mir versichert haben, dass sein Auto am Tag nach der Explosion an der Moschee in Ripoll war. Es Satty habe Gegenstände aus der Moschee geholt. Wurde das jemals geprüft, wurden die Aufnahmen von Überwachungskameras angeschaut, um zu schauen, ob das Auto wirklich in Ripoll war?
Dann ist da das Handy des Imams. Es wurde nicht in Alcanar gefunden und mit dem Telefon wurde nach der Explosion ein dreiminütiges Gespräch geführt. Wer hat das Handy benutzt, wenn der Imam angeblich tot ist? Klar ist damit, dass nicht die gesamte Terrorzelle ausgehoben wurde, jemand muss übrig sein.
Die eigenartigen Kontakte des Imam
Glauben Sie, dass in dem Verfahren etwas über die Hintergründe des Anschlags ans Licht kommt?
Javier Martínez: Zunächst möchte ich auf eine wirklich kuriose Sache hinweisen. Es geht in dem Verfahren nicht um die Anschläge in Barcelona und Cambrils, sondern nur um Alcanar. Ich glaube längst nicht mehr, dass man in Spanien zulässt, dass Zusammenhänge offengelegt werden, dass der Imam ein Geheimdienstspion war, dass die katalanische Polizei (Mossos d'Esquadra) keine Möglichkeiten zur Ermittlung hatte, sie keine Informationen aus Spanien bekam und auch die drei Zellenmitglieder im Gefängnis nicht befragen durfte. Der Richter lehnt alles kategorisch ab.
Viele von uns vorgelegte Beweise werden abgelehnt, weil sie nichts mit diesem Verfahren zu Alcanar zu tun haben sollen. Wir haben zum Beispiel Dokumente dazu vorgelegt, wann der Geheimdienst sich mit Es Satty getroffen hat oder Nationalpolizisten in Ripoll waren, um mit ihm zu sprechen. Es gab da auch einen Briefkasten, in dem der Imam Nachrichten hinterlassen hat, die von der Polizei abgeholt wurden.
Das haben Leitungsmitglieder der Moschee in Ripoll vor dem Untersuchungsausschuss erklärt, den das katalanische Parlament eingesetzt hatte. Wir wissen, welche Polizisten das waren, wir haben ihre ID-Nummern. Wir wissen auch, wer mit ihm gesprochen hat, als er wegen Drogenhandel im Gefängnis saß.
Man will ganz offensichtlich die Wahrheit nicht herausfinden. Wenigstens soll so verhindert werden, dass herauskommt, dass der Imam unter Kontrolle des CNI stand. Allein das würde dazu führen, dass die Opfer entschädigt werden müssten. Dazu gibt es ja die vielen anderen Verfehlungen, wie mit dem Sprengstoff…
Was war mit den Anfragen aus Belgien zu Es Satty, wo er als suspekt aufgefallen ist? Ich habe die Emails an die Mossos gesehen. Die hatten aber keinerlei Infos über den Imam, da sie aus dem System zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierte Kriminalität (CITCO) ausgeschlossen waren. Dass im Prozess nicht viel herauskommen wird, zeigt sich auch daran, dass wir weder den CNI-Chef noch den Citco-Chef dazu befragen dürfen, warum zum Beispiel die Mossos keine Informationen über den vorbestraften Imam bekamen.
Wir haben aber durchsetzen können, dass eine Zeugin aus Marokko im Prozess befragt werden kann. Wir werden im Prozess sehen, dass da ein entscheidender Fehler gemacht wurde, diese Zeugin zuzulassen. Mehr möchte ich dazu jetzt aber nicht sagen, nur soweit, dass es um die DNA-Proben geht, die keinen Pfifferling wert sind.
Allerdings muss ich die Zeugin bezahlen, damit sie anreisen kann. Trotz der Covid-Pandemie war es nicht zu erreichen, sie per Videokonferenz zu befragen. Und da der Richter auch diese Zeugin eigentlich nicht wollte, muss ich für die Kosten aufkommen.
Der Sprung nach Europa
Welchen Zweck hat der Prozess für sie?
Javier Martínez: Ich hoffe immer noch darauf, dass jemand sein Schweigen bricht und erklärt, was genau hinter den Anschlägen steckt. Zudem dient er für uns dazu, andere Opfer in anderen Ländern zu ermutigen, dort Ermittlungen zu fordern und auf den Weg zu bringen, wo es nicht diese Einflussnahme gibt.
Wir wollen angesichts der Verfehlungen hier den Sprung nach Europa schaffen, damit die Anschläge wirklich aufgeklärt werden. Vermutlich wird es einen Prozess in Frankreich geben, wegen der französischen Opfer. Unsere Idee ist, alle Informationen zu liefern, damit woanders ordentlich aufgeklärt wird.
Lange hat man sogar zu verhindern versucht, dass sich die Opfer untereinander kennenlernen. Es ist schwer, mit den Opfern aus dem Ausland zu kommunizieren. Wir mussten mit allen möglichen Konsulaten sprechen, um etwas zu erfahren, um sie zu fragen, ob sie am Prozess teilnehmen wollen. Dabei hat mir Robert Manrique, aber vor allem der Mosso David Torrents geholfen. Ich bin ein Mensch, der mit den Händen arbeitet, ich kenne mich in solchen Sachen nicht aus.
Wir haben das nun aber geschafft, eine eigene Vereinigung zu gründen. Sie wird sich AVADA (Vereinigung der Opfer des Anschlags vom 17. August) nennen. Vor dem Prozess wollen wir das aber noch nicht breit in die Öffentlichkeit tragen, aber es ist klar, dass wir Unterstützung über einen langen Zeitraum brauchen.