Staatstrojaner für die Dienste - ein Loch ist im Eimer
Die SPD stimmt nun doch zu. Überwachungsbefugnisse werden ausgebaut. Tilo Jung versucht das Regierungs-Framing bloßzulegen
Die Bundesregierung plant die Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste (Verfassungsschutz, BND und MAD) zu erweitern, indem sie diesen den Einsatz sog. Staatstrojaner erlauben will. Ein entsprechender Kabinettsentwurf zur "Anpassung des Verfassungsschutzrechts" wurde am 21. Oktober beschlossen.
"Ein großes Problem für die Abhörer vom Verfassungsschutz ist die zunehmende Verschlüsselung von Gesprächen und Chats", erklärt die am selben Tag in der ARD ausgestrahlte Dokumentation "Frühwarnsystem". "Die Rechtslage [setzt] den Verfassungsschützern enge Grenzen."
Deshalb soll den Diensten nun nach Bewilligung durch die G10-Kommission die sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) erlaubt werden, bei der unter Ausnutzung vorhandener Sicherheitslücken spezielle Überwachungssoftware verdeckt auf dem Endgerät des Verdächtigen installiert wird, um Messenger-Nachrichten und Telefonate an der Quelle, also direkt am Smartphone oder Computer noch vor der Verschlüsselung (bzw. nach Entschlüsselung auf dem Empfängersystem) zu überwachen.
Besonders umstritten: Telekommunikationsanbieter sollen nun auch dazu verpflichtet werden, aktiv dabei zu helfen, Schadsoftware in die Endgeräte der Zielpersonen einzuschleusen.
"Ausverkauf der Bürgerrechte"
Der IT-Branchenverband Bitkom befürchtet einen Vertrauensverlust bei Kunden, beklagt den "unerwünschten Rollenwechsel" hin zum "aktiven Gehilfen" der Dienste und sieht "hohe Risiken" für die gesamte Netzintegrität. Auch Linus Neumann vom CCC warnt vor dem absichtsvollen Offenhalten von Sicherheitslücken. Er weist zudem darauf hin, dass es bei dem Einsatz von Staatstrojanern durch die Polizeibehörden "immerhin noch eine richterliche und öffentliche Kontrolle bei der Verhandlung" gibt. "Auch das fällt nun weg." Auch die Opposition kritisiert die Gefährdung von Bürgerrechten.
Dass nun auch Nachrichtendienste den Staatstrojaner einsetzen dürfen sollen, gleicht einem Ausverkauf der Bürgerrechte. Es überrascht sehr, dass Bundesjustizministerin Lambrecht als Verfassungsministerin den Schritt zum gläsernen Bürger als Ideal konservativer Sicherheitspolitik mitgeht.
FDP-Vizefraktionschef Stephan Thomae
Das geht einfach gar nicht?
Tatsächlich hatte die SPD den Einsatz von Staatstrojanern durch Geheimdienste bisher abgelehnt. Digitalexpertin Saskia Esken hatte generell gegen den Einsatz von Staatstrojanern Position bezogen:
Erst im vergangenen Jahr hat Esken den Einsatz von Staatstrojanern durch Geheimdienste noch kategorisch ausgeschlossen: "Das geht einfach gar nicht."
Dass es jetzt doch geht, begründet die SPD-Parteivorsitzende gegenüber der ARD so:
Es geht tatsächlich darum, dass wir auch die manifesten rechtsextremen Netzwerke, die wir in Deutschland haben und die in den letzten 30 Jahren 200 Menschen umgebracht haben, dass wir die auch unter den entsprechenden Verfolgungsdruck setzen können und dafür sorgen können, dass unsere Demokratie gut geschützt bleibt.
Saskia Esken
Der Kompromisseffekt
Wohl auch weil die Fähigkeit zur flexiblen Neupositionierung seitens der Wählerschaft eher selten gewürdigt wird, spricht man nun offiziell von einem "Kompromiss". Ein Frame, der es auch in die Tagesschau vom 21.10.2020 geschafft hat:
Der Gesetzentwurf - ein Kompromiss. Das Innenministerium muss auf einige Vorhaben verzichten, auf die Online-Durchsuchung etwa, bei der die Dienste auch gespeicherte Daten von Verdächtigen abgreifen könnten. Doch die war mit der SPD- Vorsitzenden Esken nicht zu machen.
ARD-Korrespondent Michael Stempfle
Es war der Marketing-Experte Itamar Simonson, der 1989 als Erster den sog. compromise effect (auch extremeness aversion) beschrieben hat: die Neigung, sich bei einem Angebot von drei Alternativen im Zuge einer Werteabwägung (z.B. Preis/Qualität) für die mittlere Option zu entscheiden. Simonson konnte zeigen, dass sich Präferenzen von Käufern bei einer Auswahl von zwei Produktalternativen durch Hinzufügung einer dritten Alternative zugunsten der mittleren Option verschieben lassen.
Kann es also mit dem Hinzufügen einer dritten Alternative, in dem vorliegenden Fall der mittleren Option Quellen-TKÜ, gelingen, Bürger, die den Staatstrojaner für die Dienste eigentlich ablehnen, dazu zu bewegen, ihre Haltung zu ändern?
Der angebliche Verzicht von Online-Durchsuchungen
Interessant an diesem Kompromiss ist dabei Folgendes: Die rechtliche Unterscheidung zwischen Quellen-TKÜ und Onlinedurchsuchung ist technisch kaum zu realisieren, zumal sich SPD und CDU/CSU auch noch auf eine erweiterte Form der Quellen-TKÜ verständigt haben: Abgegriffen werden dürfen nach erfolgter Genehmigung der Anordnung auch rückwirkend die ab dem Zeitpunkt der Anordnung auf dem Endgerät gespeicherten Inhalte, wenn sie in diesem Zeitraum als laufende Kommunikation hätten aufgezeichnet werden können (sog. Quellen-TKÜ Plus).
So spricht der eco-Verband der Internetwirtschaft vom "angeblichen" Verzicht von Online-Durchsuchungen, weil die "nun verabschiedete Regelung zum Staatstrojaner, auch "Quellen-TKÜ Plus" genannt, eine Online-Durchsuchung der betroffenen Geräte mit einem Zugriff auf die gespeicherten Daten der Nutzer/innen darstellt. Denn alle technisch notwendigen Module und Methoden zum umfassenden Datenzugriff" würden dabei "bereits auf die betroffenen Geräte installiert.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber sowohl 2008 als auch 2016 klargestellt, dass bei einer Quellen-TKÜ auch technisch sichergestellt sein muss, dass tatsächlich nur die laufende Kommunikation überwacht werden kann, andernfalls wird die Quellen-TKÜ rechtlich als Online-Durchsuchung behandelt.
Rhetorische Ausweichmanöver in Anlehnung an ein Kinderlied
Wie will die Bundesregierung also technisch sicherstellen, dass die rechtlich für die Dienste ausgeschlossene Online-Durchsuchung auch de facto ausgeschlossen bleibt, wenn es doch technisch nicht möglich ist? Mit dieser Fangfrage versuchte Tilo Jung in der Bundespressekonferenz vom 21.10.2020 die Kompromiss-Rhetorik der Bundesregierung zu entlarven. Er erhielt folgende Antwort (ab 19:45):
Es muss rechtlich ausgeschlossen werden. Und rechtlich gibt es 'n klaren Unterschied zwischen der sogenannten Quellen-TKÜ, die eine Überwachung an der Quelle der Kommunikation ist, bevor etwas bei Messenger-Diensten Ende-zu-Ende verschlüsselt wird, und das [wird] am Gerät abgegriffen aus einer laufenden Kommunikation. Und das nennt man Quellen-TKÜ. Eine Online-Durchsuchung ist ein Zugriff auf bestehende, auf dem Gerät dauerhaft gespeicherte Daten. Und das ist die rechtliche Abgrenzung, und die muss natürlich beachtet werden.
Maximilian Kall, Pressesprecher des BMJV
Mit anderen Worten: Da ist ein Loch in dem Eimer. Der Pressesprecher des Justizministeriums rettet sich mit Hilfe zirkulärer Argumentation vor der Bloßstellung und erweckt dabei auch in Mimik, Gestik und Tonfall den - vor allem für die zuschauende Öffentlichkeit bestimmten - Eindruck, Jung habe mit seiner Frage deutliche Wissenslücken offenbart, die man nun schließen müsse ("Das nennt man Quellen-TKÜ"). Da Jung bei seiner anschließenden Nachfrage den Kern seiner ursprünglichen Frage verwässert, gelingt es Kall durch den Hinweis auf die Kontrollfunktion der G10-Kommission weiterhin die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Problematik abzulenken.
Sicherlich, an der klugen Kompromiss-Rhetorik allein wird es nicht liegen, dass sich in der Öffentlicheit kaum Kritik regt an den Plänen der Bundesregierung. In Corona-Zeiten haben die meisten Bürger andere Sorgen.