Stadtkapital statt Kapital

Das Tempelhofer Feld heute. Bild: Daniel Wiggers

Berlin liebäugelt mit einer Internationalen Bauausstellung

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Während in anderen Städten der Raum vom Boden aus betrachtet und die Fläche als Immobilie bewertet wird, nimmt Berlin die umgekehrte Sicht für sich in Anspruch: Räume, die ihrer herkömmlichen Nutzung verlustig gegangen sind oder gehen, bilden die "Ressource" der Stadt. Um nicht gleich von Reichtum zu sprechen, wird der Soziologe Pierre Bourdieu bemüht, der das Kapital von seiner Geldschwere befreit und zu kulturellen und sozialen Werten ausdifferenziert hat. Berlin hat Stadtkapital statt Kapital. Es hat Möglichkeitsräume und unmögliche Grundstücke. Eine IBA 2020, der sich Berlin mit kleinen Schritten und großen rhetorischen Übungen annähert, überführt diese Räume in eine Laborsituation. Der Ausgang ist offen.

Berlin ist verdammt zur Stadtbau-Schau, damit nicht die Claims abgesteckt sind, bevor das Nachdenken über diese Räume eingesetzt hat. Die Räume bieten alle Formate, vom ehemaligen Flughafen über Bahn-Verkehrsbrachen und aufgelassene Friedhöfe bis zu Urban Gardening in Baulücken.

Es sind unbebaute, aber auch umbaute Räume, leerstehende Kubatoren. Es können auch beplante Flächen sein, deren Entwicklung blockiert ist. Ein Begriff wird über alles gestülpt: Void. Da stockt schon der IBA-Prozess. Kaum jemand weiß, welches Geschlecht dieses Wort hat - ein schlechtes Omen in einer Stadt hoher Gender-Bewusstheit. Wenn dieses Wort "Leerstelle" heißen soll, wäre darauf hinzuweisen, dass all jene Räume mehrfach kulturell überformt sind. Es gibt keine leeren Räume in der Stadt, sondern es sind Nicht-Orte, die eine Metamorphose durchmachen, deren Ergebnis nicht vorherzusagen ist.

Den strategischen Oberbegriffen der IBA: Hauptstadt - Raumstadt - Sofortstadt sind drei Leitbilder zur Seite gestellt: 1. die partnerschaftlich integrative Stadt, 2. die zukunftorientiert untenehmerische Stadt, 3. die ressourcenefiiziente Stadt. Hinzu kommt die "Low-Carbon-City". Welche Stadt wollte sich nicht mit solchen Prädikaten schmücken? Das IBA-Vorkonzept liest sich wie ein gehobener Beitrag zum Stadtmarketing. Profilieren bis zur Profillosigkeit.

Aber es schälen sich konkrete Handlungsfelder heraus. Einerseits sind es die sich selbst reproduzierenden Problemzonen der Stadt wie die Achse vom Humboldtforum über Rathausforum bis Alexanderplatz, andererseits sind es Großwohnsiedlungen wie die Gropiusstadt. Eine energetische Sanierung dient als Motor, um durch neue Wohn- und Arbeitsformen von der Schlafstadt abzurücken. Der Norden Neuköllns wiederum wird zu einem Exempel auf die "Soziale Stadt", weil die einsetzende Gentrifizierung auf eine Entmischung der vorhandenen Durchmischung, das heißt auf eine räumliche Segregation hinauslaufen könnte.

Nicht nur um Areale geht es in der IBA-Idee, sondern um Umbauten, Anbauten und Überbauung. Flachdächer können für Wohn- und Freizeiträume umgenutzt und übergroße Straßenquerschnitte einer Öffentlichkeit zurückgewonnen werden, die den Raum erfüllt, weil sie zum Verweilen gebracht werden soll. Die verschiedenen Flächen zugeordneten Themen der IBA - von der Öffnung der Räume am Wasser bis zu kleinräumlichen Zwischennutzungen - überziehen die Stadt wie ein System aus Layern.

Zerstörung als Beschwörung

"Berlin ist zu groß für Berlin", befand Hanns Zischler. Das XXL-Format ist reichlich vorhanden. Aus der Sicht des Linzer Architekten Lorenz Potocnik kehrt sich die Perspektive um. Auf einer Tagung, welche die Berliner IBA-Pläne in den Kontext vergangener Bauausstellungen rückte, machte er das Kompliment: "Berlin ist gesegnet mit Hässlichen Entlein."

Ein Linzer "Hässliches Entlein" von 1979 Bild: Gregor Graf

Potocnik hat sich in Linz auf die Suche gemacht nach Bauwerken, die wie der Balken im eigenen Auge liegen. Sie verlangen danach, nicht angesehen zu werden, auch nicht vom Denkmalschutz: Versicherungen und Technische Rathäuser, heute überdimensioniert. Die schwindenden Zeugnisse der Restmoderne der 60er und 70er Jahre sind in Berlin meist Kolosse wie der Steglitzer Kreisel. Die stilistische und baugeschichtliche Bandbreite jener Großen Elefanten ist hier jedoch größer. Sie reicht vom Flughafen Tegel, der als Wissenschaftszentrum wiederentstehen soll, über die Stasi-Zentrale in Lichtenberg bis zum Flughafengebäude Tempelhof, 1.230m lang und als zentrale Anlaufstelle der IBA vorgesehen.

Die Faszinationskraft der Gebäude steigt für Potocnik in der Zwischenzeit vom Auszug der Nutzer bis zum Abriss oder neuer Verwendung. Diese Zeit ist ökonomisch kontraproduktiv - ein Luxus, aber ein paradoxer, der nicht ad infinitum verlängert werden darf. Und wer in die Lücke springt, weil er sie schön findet, schließt sie zugleich. Das Schrumpfen schrumpft.

Links: Die Flugsteige. Rechts: Das Abfertigungsgebäude, 1936-41 entstanden. Bilder: Daniel Wiggers

Die großen, einsam sterbenden Elefanten verschaffen einer künftigen Bauausstellung doch noch Profil. Indem sie die Überlebensfähigkeit dieser Baulichkeiten behauptet und belegt, verteidigt die IBA die Moderne insgesamt gegen diejenigen, die sie rückwärts überspringen möchten. Gegen die Bausünden der Nachkriegszeit zu wettern, ist den Befürwortern einer "Kritischen Rekonstruktion" Legitimation genug, um historische Stadtgrundrisse unbestimmter Provenienz zu reaktivieren und mit traditionalistischen Mustern zu bebauen (Vgl.: Traditionalismus als kulturelle Prägung?). Diese Muster passen in jede Kleinstadt, wenn sie nicht von dort kommen. Reurbanisierung hieße dann Suburbanisierung der Kernstadt.

Potocnik ist in der Zeit geboren, nach der er sucht. Für ihn ist es eine noch nicht vergangene Gegenwart. Es ist ein subversiver Versuch auf Dauer und Beständigkeit. Als Monumente der Fortschrittsgläubigkeit der 60er und 70er Jahre zogen jene Gebäude andererseits Spuren der Zerstörung. Diese Spuren tragen sie nun selbst an sich. Die Zerstörung ist eine Beschwörungsformel gegen Zerstörung. Die Raumpioniere, die Lücken und Nicht-Orte aufstöbern, tragen mehr zum sozialen Bestand bei als jene, die mittelalterliche Parzellen als vermeintlichen Ursprungsort der Geschichte für sich (und ihre Townhouses) reklamieren.

Allerdings ist vom Aufstöbern nicht mehr viel zu spüren. Die Vergabe von Pionierfeldern auf dem Tempelhofer Feld ist organisatorisch bis ins Letzte geregelt. Fachbeiräte und Senatsgremien entscheiden abgestuft über Bewerber, und Baugenehmigungen sind einzuholen. Die Raumpioniere sind nicht mehr verhuschte Gestalten, die auf verschlungenen Trampelfaden zu Ruinen eilen, verdeckt von Lianenwänden, hinter denen sie dem Märchen vom singenden springenden Löweneckerchen nachsinnen. Solche Allegorien wurden vor der Rekultivierung des 'Gleisdreieck', einer der größten Verkehrsbrachen, verbreitet.

Heute spielen auf einem Feld der "Tempelhofer Freiheit" Freischaffende vom Schriftsteller bis zum Designer "Tri-Kick", um den ihren Berufsständen innewohnenden Konkurrenztrieb auszutoben. Die Regel: Drei Mannschaften dieser "Cultural Players" treten auf einem sechseckigen Fußballfeld gegen- oder miteinander an. Die Zwischennutzungen laufen reihum auf dem Gürtel des "Green Void": von Gemeinschaftsgärten bis zu einer Zukunftsuniversität in zweigeschossigen Holzmodulen.

Der Spielcharakter ist beabsichtigt. Die Nutzungsrechte sind auf drei Jahre beschränkt. Die Organisatoren hoffen, dass die Pionier-Nutzungen im Verlauf der IBA sich vom Tempelhofer Ur-Void - was auch eine mythologische Anmaßung ist - über die ganze Stadt ausbreiten.

Grünes Flugfeld mit Kiezanschluss. Bild: "gross.max Landschaftsarchitekten" und "Sutherland Hussey Architekten", Edinburgh

Selbst wenn diese IBA sich als Prozess definiert, bleibt die Frage, ob die ausschwärmenden Pioniere einen baulichen Abdruck in der Stadt hinterlassen. Eine kleine Riege von Landschaftsarchitekten in der Senatsverwaltung hat jedoch Angst vor zu viel Abdruck. Sie befürchten, dass die Zwischennutzer ein Bleiberecht beanspruchen, wenn die Pionierfelder in Baufelder umgewandelt werden. Zögen diese Nutzer zum Ausgleich in die Mitte, würde aus der grünen Weite ein Flickerlteppich. Der Gewinner-Entwurf des jüngst entschiedenen landschaftsplanerischen Wettbewerbs kommt jedoch kleinmaßstäblichen Nutzungen entgegen, indem er das Gelände durch Kreise und Ovale in elipsenförmige Rauten teilt. Über das Tempelhofer Feld hinaus sollen Grünzüge in angrenzende Kieze geführt werden, entlang ehemaliger Friedhöfe.

Demokratie in der Schwebe

Da die jüngeren IBAs sich von der Setzung epochaler Architektur-Leitbilder verabschiedet haben, bleibt das Prozessmanagement, und selbst dafür wird nur ein kleiner Etat zur Verfügung stehen. Mit den öffentlichen Geldern fehlt auch das wichtigste Steuerungsmittel. Die IBA ist auf private Partner angewiesen. Das sind jedoch nicht nur die local player aus dem Kiez, das können auch global player sein, international tätige Projektentwickler. Bisherige Berliner Erfahrungen lehren, dass in diesem Kräfte-Parallelogramm die einen schneller am Ziel sein könnten als die anderen. Denn die Frage eines restriktiven Flächenmanagements ist nicht das Spielfeld der IBA. Die Frage wird ausgeblendet. So könnte es zum Wettlauf zwischen Hase und Igel werden: Die IBA wird vor die vollendeten Tatsachen gestellt, die sie verhindern möchte. Am Ende überwiegen die aus einer Hand besorgten immergleichen Strukturen.

Vom Flugsteig zum Blumenmeer - der landschaftsplanerische Gewinnerentwurf. Bild: "gross.max Landschaftsarchitekten" und "Sutherland Hussey Architekten", Edinburgh

Kommt, wer sich in Gemengelagen begibt, darin um? Eine Gruppe um den Architektursoziologen Harald Bodenschatz betrachtet die Dinge aus der sicheren Vogelperspektive. Sie hat einen alternativen IBA-Vorschlag unterbreitet, der "stadtregionale Ordnung" verspricht. Auf Regionalkarten haben sie das Netz von Radialen hervorgehoben, die einmal das Wachstum Berlins zur Metropole vorgezeichnet hatten und heute das soziale Leben zerschneiden. Durch eine Wiederbelebung der flankierenden Gebäude mit Mittelpunkt-Funktion, durch die Herstellung einer Balance zwischen allen Arten von Verkehrsteilnehmern sollen diese Transitzonen in urbane Räume verwandelt werden.

Die Vernetzung Berlins mit Brandenburg, der Innen- mit der Außenstadt oder der europäischen Stadt mit der Zwischenstadt sei der Schlüssel zur Behebung städtebaulicher Defizite. Sogar der ehemalige Flughafen wird tangiert, denn der Tempelhofer Damm treibt einen Keil zwischen Tempelhofer Feld und angrenzende Gartenstadt, weil er eine reine Transitfunktion hat. Unter der Parole einer "Zivilisierung der Hauptstraßen" erlauben sich die vom Erfolgsdruck befreiten Verfasser eine verständliche Fachsprache an Stelle der Antragssprache, die schon große Teile der Drittmittel-abhängigen Wissenschaft verdorben hat. Dem offiziellen Vorschlag werfen sie vor, das IBA-Konzept zu verbrennen. Erst werde der Begriff aufgebracht und dann die thematische Durchführung überlegt. Werden auf diesem Weg semantische Voids produziert?

Zum Himmel über Berlin - geplantes 60m hohes Felsenmonument. Bild: "gross.max Landschaftsarchitekten" und "Sutherland Hussey Architekten", Edinburgh

Aber kommt man mit Ordnungsprinzipien durch in einer Stadt, die Blockaden am laufenden Band produziert? Sonja Beeck vom offiziellen "Prae-IBA-Team" spricht vom "Kabelsalat der Stadtentwicklung". Sind Patts im Nahkampf oder besser aus der Vogelschau aufzulösen? Zur Neutralisierung solcher Konflikte wurde die Schweiz herbeizitiert. Auf der vorbereitenden IBA-Tagung referierte Martin Beglinger vom Zürcher Tages-Anzeiger zum Thema "Direkte Demokratie als Kleinstadt-Kapital". Im Kanton Glarus wurde gegen den Willen der meisten Gemeinden über eine Fusion abgestimmt. Die Prozedur war die gewohnte: Auf dem Marktplatz wird ein hölzernes Podium aufgebaut, auf dem die Bürger zusammenkommen. Sie heben ihre Stimmrechtskarten hoch, und der Landammann schätzt per Augenschein ab, welcher Antrag die Mehrheit hat. Am Ende waren aus 25 Gemeinden drei geworden.

Das Verfahren wurde auf der Tagung, die im Mutterland der Statistik stattfand, mit Kopfschütteln quittiert. Aber wie wäre es? Auf dem Tempelhofer Feld, der neuen alten Allmende, wird ein riesiges Podest aufgebaut, auf dem sich 500.000 "Kreuzköllner" und sonstige Berliner versammeln. Sie sind nun nicht mehr die "Menschen mit Migrationshintergrund", nicht das "Prekariat" und nicht die "Kreativen", sondern, berlinerisch gesprochen, die neuen Einjebornen. Schließlich hat, wie der mitverantwortliche Bernd Heller sagt, die IBA eine ethnologische Bedeutung. Und dann stimmen sie ab, einen Meter über dem Rollfeld schwebend. Egal worüber.

Auf einmal ist aus den basisdemokratischen Wutbürgern eine friedliche Multitude geworden, so friedlich wie zu der Zeit, als Christo und Jeanne-Claude den Reichstag verpackten und die Demokratie einen Moment lang ohne Politiker auskam. Es gibt Räume, in denen nichts unmöglich ist.