Sterben in Zeiten von Corona
In der Informationsgesellschaft blähen sich Angstkonstrukte mit immer größerer Dynamik auf, die Politik läuft immer schneller Gefahr, jedes Maß zu verlieren
Durch die Fluxusbewegung inspiriert, hat Bazon Brock in Bezug auf das Sterben den Nagel schon vor langer Zeit auf den Kopf getroffen: "der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter." Und so wie es in der Fluxusbewegung weniger auf das Kunstwerk selbst, als vielmehr auf die ihm innewohnende schöpferische Idee ankommt, scheint es auch in Zeiten von Corona weniger auf das Werk des Lockdown mit allen seinen Widersprüchen, als vielmehr auf die dahinter liegende schöpferische Idee der Rettung von Menschenleben anzukommen.
Die Schweinerei hört aber nicht auf
Menschen sterben - mit Corona oder durch Corona, vor allem aber auch in vergleichsweise großem Umfang (weltweit, europäisch oder lokal in Deutschland) vollkommen unabhängig von Corona. In konkreten Zahlen heißt das: Im langjährigen jährlichen Mittel etwa 11,5 Sterbefälle pro 1000 Einwohner in Deutschland. Die statistische Sterberate zeigt dabei im Rückblick der Jahre immer wieder leichte Schwankungen, wird aber beispielsweise für das Jahr 2018 in Statistikportalen ohne besondere Auffälligkeiten mit genau diesem Wert ausgewiesen. Bei einer Bevölkerung von rund 83,1 Millionen sind das mehr als 955.000 Sterbefälle in Deutschland im Jahr, oder anteilig für die "Corona-Monate" März und April knapp 160.000 Sterbefälle.
Der Tod lässt sich also offenbar gar nicht abschaffen. Er bleibt eine geradezu riesenhafte Schweinerei, bei der die bis zum 1. Mai hierzulande gezählten und statistisch ausgewiesenen "Coronavirus-Todesfälle" mit 6283 bezogen auf die Monate März und April einen Anteil an den durchschnittlich für diesen Zeitraum zu verzeichnenden Sterbefällen von knapp 4 Prozent ausmachen - wobei nach den Feststellungen von Pathologen auch die Zählungen von Sterbefällen in den Corona-Statistiken durchaus fraglich sind.
Anders ausgedrückt bestünde jedenfalls mit mehr als 96 Prozent in Bezug auf die schöpferische Idee, Menschenleben retten zu wollen, ein im Verhältnis zum Corona-Virus ungleich größeres politisches Betätigungsfeld, das hingegen bislang nicht mit Lockdown ähnlichen Maßnahmen unserer Regierungen in dieser Konsequenz beackert wurde - wobei mangels randomisierter Studien mit Testungen auf Antikörper tatsächlich weitestgehend unklar ist, ob Menschen hierzulande von Corona vielleicht auch schon vor März in größerer Zahl betroffen waren, so dass der Beziehungsrahmen der statistisch gezählten Coronatoten zur Anzahl durchschnittlicher Sterbefälle im betreffenden Zeitraum ein vielleicht noch viel größeres Gefälle aufweist.
Der Gelegenheiten sind viele
Jedenfalls hätte man mit einem selbst gesetzten Anspruch, Menschenleben per Regierungsdekret retten zu wollen, längst auf vielen Feldern tätig werden können. Wie wäre es beispielsweise mit einem sofortigen Lockdown für PS-Schleudern? Dann hieße es eben nicht mehr "Freie Fahrt für freie Bürger", statt dessen auf Grundlage der Straßenverkehrszulassungsordnung einheitliche technische Beschränkungen der Leistung von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum auf mögliche Höchstgeschwindigkeiten von 25 km/h innerorts und 50 km/h außerorts. Denn schließlich geht es hier in Anbetracht der Hauptunfallursache Geschwindigkeit und der vielen Opfer im Straßenverkehr doch ohne Frage schon seit der Erfindung des Automobils um die Rettung von Menschenleben.
Oder vielleicht Badeunfälle: Mehr als 5000 Menschen sterben jährlich bei Badeunfällen. Aber man kann sich gleichwohl nicht erinnern, dass mit dem Anspruch, Menschenleben retten zu wollen, jemals ein bundesweites Badeverbot erlassen und mit weitreichenden staatlichen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt worden wäre - und es könnten in dieser Weise hier sicher noch viele Beispiele für mögliche Politschauplätze angeführt werden, auf denen die Rettung von Menschenleben schon längst zu reklamieren gewesen wäre.
Derweil wird in Berlin zum 1.Mai das "Coroa-Demo-Verbot" mit 5000 Polizisten in eng stehenden Polizeiketten durchgesetzt und Menschen, die sich das Demonstrieren dennoch nicht verbieten lassen wollen, bekommen den Polizeiknüppel zu spüren - und zwar vollkommen abstands- und distanzlos.
Perspektivwechsel längst überfällig
Es ruht ein gewisser Widerspruch in dem schöpferischen Anspruch, durch politische Aktion und Regierungshandeln Menschenleben retten zu wollen. Das hat zwischenzeitlich sogar den Inhaber des zweithöchsten politischen Amtes hierzulande bewogen, diesen Widerspruch aufzugreifen und mit der Feststellung, dass es einen absoluten Anspruch auf Leben gar nicht geben könne, in wohl gesetzte Worte zu kleiden.
Es ist vermutlich gleichwohl nur dem Ansehen der Person und des von ihr bekleideten Amtes geschuldet, dass diese Breitseite gegen das aktuelle politische Geschehen nicht auch gleich im Reich der Verschwörungstheorien gelandet ist. Anders als beim Grünen Politiker Boris Palmer wurde hier auch nicht mit skandalisierend verkürzten Zitaten jongliert, wonach der ganze Aufwand doch gar nicht gerechtfertigt sei, weil die von Corona Geretteten doch weit überwiegend so alt seien, dass sie sowieso bald tot sind.
Tatsächlich geht es doch an keiner Stelle um ein Plädoyer für schnelleres Sterben. Dann schon eher für ein würdiges Sterben, wenn Palliativmediziner den vollkommen unreflektierten Diskurs um die Kapazitäten intensivmedizinischer Betreuung in Zweifel ziehen, weil (weit überwiegend ältere) Menschen, die mit einem schwerwiegenden Krankheitsbild im Sterben liegen, weder gestern noch heute und auch nicht morgen intensivmedizinisch betreut worden wären - diese Menschen für eine mögliche Last auf Kapazitäten intensivmedizinischer Betreuung also tatsächlich nie eine Rolle gespielt haben. Hingegen hat der unreflektierte Corona-Verbotswahn dazu geführt, dass Menschen letzte Tage und Stunden ihres Lebens allein und ohne Beistand von Angehörigen oder eine seelsorgerische Betreuung zu verbringen haben. Nicht einmal für eine im Benehmen der Angehörigen als würdevoll empfundene Bestattung lässt der Staat vom Verbotswahn ab und notfalls die Polizei aufkreuzen.
Vielleicht wäre anhand dessen, was wir nun einmal nur wissen können, zum Leben und Sterben eine konsensfähige Feststellung, dass es mit der Rettung von Menschenleben durch politische Aktion so einfach nicht ist und dass von daher auch bei zeitlicher Dringlichkeit ein Mehr an Abwägung und demokratisch parlamentarischem Diskurs der offenen Fragen sicher nicht geschadet hätte.
Mehr Abwägung ist längst überfällig
Für einen kritischen Diskurs war allerdings lange Zeit nicht nur im Politikbetrieb Fehlanzeige zu vermelden. Es war von Beginn an auch der Tenor der Berichterstattung in den Medien, der einen Eindruck von Gleichschaltung vermittelt hat.
Die herrschende Praxis weitreichender Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten auf der Basis von Verordnungsermächtigungen - also durch "bloßes" Regierungshandeln und mithin weitestgehend ohne jede parlamentarische Kontrolle - würde doch schon wegen der ihr innewohnenden Widersprüchlichkeit (von der innerdeutschen Grenzkontrolle bis zum jüngsten Thema Maskenpflicht) alles andere als eine weitreichende Folgsamkeit fordern. Hier wäre vielmehr Zorn der richtige Ansatz und Ratgeber für einen Impuls zum Widerstand, wie der Kabarettist Georg Schramm mit einem Zitat ausgeführt hat, das er Papst Gregor dem I. aus dem 7. Jahrhundert zuschreibt: "Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegen stellen, wenn ihr der Zorn dienstbar zur Hand geht."
Womit wir zunächst die Frage zu beantworten hätten, was denn heutzutage das Böse ist. Das Böse, so wiederum Georg Schramm, müssen wir uns als etwas Großes vorstellen, da kann es die Bundesregierung (Landesregierungen sicher eingeschlossen) schon mal nicht sein (Lacher im Publikum). Und richtig, die Regierungen sind auch angesichts undifferenzierter Regelungswut nicht das Böse. Das Böse liegt vielmehr im Anspruch begründet. Mit dem Konstrukt, es gehe schließlich um die Rettung von Menschenleben, wird mit Grund- und Freiheitsrechten zunehmend nach Belieben verfahren. Wobei ein erster Reflex, der vermeintlichen Rettung von Menschenleben nicht kritisch entgegenzutreten, ja durchaus verständlich ist.
Gleichwohl wird hier eine gewisse Kontinuität im Aktionismus sichtbar, die Rolf Gössner schon angesichts der vielen neuen Polizeigesetze mit ihren weit ausufernden Befugnissen sehr treffend als die Entwicklung hin zum "Präventiv-Autoritären-Sicherheitsstaat" bezeichnet hat. Auch in der Durchsetzung grundlegend veränderter Polizeibefugnisse hat die Politik erst kürzlich und vor dem Hintergrund vermeintlich ausufernden religiös motivierten Terrors das Konstrukt einer Verpflichtung zur Rettung von Menschenleben bemüht, um weitreichende Eingriffe in Grundrechte letztlich auch schon auf der Basis von Mutmaßungen zu eröffnen - allerdings gleichwohl nicht nur zu Terrorbekämpfung, sondern am Ende noch deutlich weitergehend.
"Wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen", lautet beispielsweise eine der vielsagenden Formulierungen in den neuen Polizeigesetzen, auf deren Grundlage der Polizei neuerdings weitreichende Eingriffe in Bürger- und Freiheitsrechte schon weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr erlaubt sein sollen. Die innere Widersprüchlichkeit in solchen Formulierungen einer Befugnisnorm ist doch für jedermann offensichtlich, wenn er oder sie denn würde hinschauen wollen.
Und der Staat bleibt am Ball
In der Informationsgesellschaft blähen sich Angstkonstrukte mit immer größerer Dynamik auf. Sie rufen eine Politik auf den Plan, die Handlungsfähigkeit unter allen Umständen unter Beweis zu stellen sucht und dabei offenbar immer schneller Gefahr läuft, jedes Maß zu verlieren. Es braucht offenbar dringend ein gerüttelt Maß an dienstbarem Zorn, um dieser Entwicklung machtvoll mit Vernunft entgegen zu treten.
Beispielsweise sei hier daran erinnert, dass auch Verordnungermächtigungen zum Seuchenschutz allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen nicht außer Kraft setzen. Es gelten weiterhin die Grundsätze der Erforderlichkeit, der Geeignetheit, des mildesten Mittels, das Differenzierungsgebot oder die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Grundsätze, die im Corona-Verbotswahn der Regierungen offenbar nicht nur in Bezug auf die "Maskenpflicht" aus dem Blick geraten sind.
Hoffentlich zornig, möchte man meinen, macht ein Gesetzentwurf, den Gesundheitsminister Spahn derzeit vorbereitet, um letztlich eine allgemeine Corona-Impfpflicht praktisch durch die Hintertür einzuführen. Spahn beabsichtigt, einen Immunitätsnachweis per Ausweisdokument einzuführen. Vom Stadion bis zum Restaurant soll der Besuch dann nur noch denen erlaubt sein, die einen entsprechenden Ausweis vorlegen und damit ihre Immunität und Unbedenklichkeit unter Beweis stellen können. Entweder kann man dem Gesundheitsamt also nachweisen, dass man bereits einmal mit Corona infiziert war, um diesen Immunitätsausweis zu erhalten, oder man muss sich quasi zwangsweise impfen lassen.
Man mag sich das, was hier an Misstrauen und Kontrolle in unseren Alltag einziehen soll, in Praxis gar nicht ausmalen - aber das ist nicht etwa Utopia, wie die vergangenen Wochen mit ihrem Regelungswahn bereits gezeigt haben, das ist die Politik, die wir offenbar ganz konkret gewärtigen müssen. Und vielleicht gibt es dann ähnlich wie bei Masern-Partys als Akt des zornigen Widerstands auch Corona-Partys, um am Ende den gewünschten Infektionsnachweis erbringen zu können. Und dann wird das der Staat erwartungsgemäß als Terrorakt deklarieren, um mit seinem Überwachungsportfolio und seiner geballten Polizeimacht dagegen vorzugehen. Es kann einem übel werden. Der Staat ist offenbar gerade am Ausflippen.
Der Autor ist leitender Polizeibeamter.