Sterblich sind nur die Anderen
Wissenschaftler glauben, den neuronalen Trick gefunden zu haben, mit dem wir das Wissen um unsere Endlichkeit verdrängen können, um nicht in Panik zu verfallen
Menschen wissen, dass sie sterben werden oder müssen. Dieses Bewusstsein der Endlichkeit soll sie vor allen anderen Lebewesen unterscheiden, wozu auch die Angst vor dem Altern und Sterben und Versuche gehören, das Leben mit allen Mitteln zu verlängern und das Ende hinauszuzögern, aber auch, die Toten zu ihrer letzten Reise zu verabschieden und zu begraben.
Wenn es denn zutrifft, dass sich nur die Menschen ihrer Endlichkeit bewusst sind, dann entsteht die Frage, warum sich dieser Vorlauf zum Tod nur in einer einzigen Art entwickelt hat und welchen evolutionären "Vorteil" das haben könnte, zumal die daraus entstehende Angst zwar zu einem intensiven und produktivem Leben (carpe diam) führen kann, um trotz Tod im Gedächtnis der Anderen weiterzuleben, aber auch in eine blockierende Despression/Melancholie münden kann.
Evolutionstheoretiker wie Danny Brower haben spekuliert, dass womöglich die Evolution die Weiterentwicklung des Selbstbewusstseins, das wie auch immer ausgeprägt in Säugetieren wie Menschenaffen, Delfinen oder Elefanten oder auch in Vögeln vorhanden ist, blockiert haben könnte. Also so lange, bis sich gleichzeitig ein neuronaler Mechanismus ausgebildet hat, durch den das Wissen um die Sterblichkeit im Alltagsleben ausgeblendet oder verdrängt werden kann.
Wie können wir uns selbst täuschen?
Der Molekularmediziner Ajit Varki von der University of California kommentierte in Nature, man könne damit auch die Diskussion über andere menschlich einzigartige "Universalien" wie Existenzangst, Theorien über das Leben nach dem Tod, Religiosität, die Bedeutung von Todesritualen, Panikattacken, Suizid, riskantes Verhalten oder Märtyrertum verknüpfen. Möglicherweise hätten auch andere Arten bereits das volle Selbstbewusstsein mit dem Wissen vom Tod entwickelt, hätten dann aber nicht wegen der extrem negativen Folgen nicht überleben können: "Vielleicht sollten wir nach den Mechanismen (oder dem Verlust von Mechanismen) Ausschau halten, die es uns ermöglichen, uns und andere über die Wirklichkeit zu täuschen, auch wenn wir wissen, dass wir und die Anderen zu solchen Täuschungen und falschen Überzeugungen imstande sind."
Das klingt interessant, man wäre dann auch schnell bei der gegenwärtigen Lust, Desinformation oder Fake News zu verbreiten, in Weltanschauungsblasen zu leben oder die Wirklichkeit, z. B. die Folgen der Klimaerwärmung oder die Risiken des Wettrüstens, zu verdrängen. Fakt aber ist, dass wir natürlich meist sehr erfolgreich, vergessen oder verdrängen können, dass wir sterblich sind und das irreversible Ende jederzeit kommen kann und vor allem mit fortschreitendem Alter kommen wird.
Jetzt glauben Yair Dor-Ziderman und Avi Goldstein von der Bar Ilan University und Arnaud Wisman von der University of Kent den neuronalen Mechanismen der Todesverdrängung gefunden zu haben, wie sie in NeuroImage berichten. Der neuronale Trick besteht für sie darin, dass der Gedanke abgewehrt wird, dass der Tod mit einem selbst zu tun hat. Wenn das geschieht, würden wir dem nicht vertrauen und das als fake News bewerten, zumindest solange die Umstände dies erlauben. Der betrifft primär immer nur die Anderen, warum die Auseinandersetzung mit dem Tod, wie man daraus ableiten könnte, vor allem darüber geschieht, ihn bei den Anderen zu sehen und in Todesorgien zu schwelgen, also in Spielen, in der Literatur, in Filmen etc.
Um die Hypothese des Verdrängungs- oder eher Abschiebungsmechanismus zu bestätigen, wurden die Gehirne von Versuchspersonen mit MRT gescannt, während sie Bilder von sich oder von anderen auf einem Bildschirm betrachteten über denen Worte auftauchten. Die Hälfte der Worte waren wie "Begräbnis" oder "Beerdigung" mit dem Tod verbunden. Danach wurde offenbar der Ausblick auf die Zukunft bei der Verbindung von Worten, die auf den Tod verweisen, mit der eigenen Person durch selbstbezogene Vorhersageprozesse heruntergefahren, während dieser automatische Vorhersageprozess bestehen bleibt, wenn die Worte mit dem Gesicht eines Fremden zusammen auftreten.
Wenn der Tod in Verbindung gebracht wird mit dem eigenen Gesicht entsteht Angst vor dem Tod, die blockiert wird, das Gehirn wolle das nicht zur Kenntnis nehmen, so die Wissenschaftler. Das funktioniert auch, wenn mit dem Tod verbundene Worte die Wahrnehmung von Videos prägen, bei denen das Gesicht der Versuchspersonen mit dem anderer Menschen gemorpht wird. Aktiv wird hier der Tod mit dem Anderen assoziiert.
Dem Guardian sagte Dor Ziderman, dass wir rational nicht leugnen können, dass wir sterben, "aber wir denken dabei eher daran, dass das andere Menschen betrifft". Möglicherweise sei die neuronale Todesabwehr früher durch die Allgegenwart des Todes ausgeglichen worden. Heute sei hingegen die Angst vor dem Tod ausgeprägter, weil man ihn im realen Leben kaum mehr sieht, die kranken Menschen kommen in Krankenhäuser, die Alten in Pflegeheime. Und wenn man weniger über das Ende des Lebens erfährt, fürchtet man den Tod vielleicht mehr. Ähnliche Angstmechanismen sind bekannt, wenn Menschen dort mehr Angst vor Ausländern haben, wo es weniger gibt, als dort, wo sie alltäglich sind