Strategie von al-Qaida: 2013 Kalifat und Endsieg 2020
Ein Buch beschrieb 2005 sieben Phasen des Dschihad, die bislang erschreckender Weise eingetreten zu sein scheinen
2005 ist ein Buch von Fuad Hussein erschienen, das es in sich hat und beunruhigend wirken kann. Der jordanische Autor war zusammen mit dem ebenfalls aus Jordanien stammenden al-Sarkawi, bis zu seinem Tod 2006 Chef von al-Qaida im Irak, 1996 im Gefängnis zusammengetroffen und stand mit ihm sowie mit anderen islamistischen Terroristen wie Seif al-Adl danach in Kontakt. In seinem Buch beschreibt er die aus den Interviews mit "al-Qaida-Ideologen" eruierte Planung bis 2020. Rückblickend scheint der Plan, wenn auch mit einigen Verzögerungen, umgesetzt worden zu sein. Wir würden uns nun in der Phase 5 und fast in der Zeit befinden, denn zwischen 2010 und 2013 war vorgesehen, ein Kalifat zu gründen, in Phase 3 (2007-2010) wollte man sich übrigens auf Syrien konzentrieren.
Im Zentrum steht Abu Mussab Al Sarkawi, der nach dem Einmarsch der Amerikaner zu dem gefürchtetsten Terrorchef wegen seiner Brutalität und auch wegen der ausgefeilten Medienstrategie wurde. Der 1966 in Jordanien geborene Islamist war entschieden gegen Schiiten eingestellt und hatte sich bereits 1989 kurzzeitig in Afghanistan aufgehalten, um gegen die Russen zu kämpfen, die sich aber bereits fast ganz zurückgezogen hatten. Zurück in Jordanien schloss er sich einer islamistischen Gruppe an und wurde mitsamt seinem "Mentor", dem salafistischen Geistlichen al-Maqdisi, 1993 zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt, weil die Gruppe die Monarchie stürzen und einen sunnitischen Gottesstaat etablieren wollten und Selbstmordanschläge in Israel unterstützte. Im Gefängnis soll sich al-Sarkawi vollends radikalisiert und von seinem Mentor losgelöst haben, der den Kampf gegen die Schiiten als Ungläubige verurteilte und jetzt in dieser Hinsicht auch den Islamischen Staat kritisiert. In den 1980er Jahren war auch al-Maqdisi in Afghanistan und hatte dort al-Sarkawi getroffen.
1999 wurde al-Sarkawi aufgrund einer Amnestie aus dem Gefängnis entlassen und ging erneut nach Afghanistan, wo er ein Trainingscamp für jordanische Dschihadisten eröffnete, Osama bin Laden kennenlernte und mit Abu Bakr al-Baghdadi zusammenarbeitete, dem jetzigen Chef des Islamischen Staats, der sich zum Kalifen ernannt hat. 2001 soll al-Sarkawi kurzzeitig in Jordanien gewesen und dort in Haft gewesen, aber dann freigelassen worden sein, um nach den Anschlägen von 9/11 und dem Angriff der USA auf das Taliban-Regime nach Afghanistan zurückzukehren. 2002 soll er sich in den Iran geflüchtet haben, die Bush-Regierung erklärte, al-Sarkawi habe von dort aus eine Terrorzelle im Irak aufgebaut, was als Beweis für eine Verbindung des Hussein-Regimes mit al-Qaida gewertet und auch zur Berechtigung für den Angriff auf den Irak verwendet wurde (Von Wahrheit und Lüge, Nichts als die Wahrheit oder Onkel Powells Märchenstunde?). Möglicherweise wurde dadurch der Ruf von al-Sarkawi mit aufgebaut, der erst 2004, nach dem "Sieg" über das Hussein-Regime und der Säuberung der Sicherheitskräfte und der Verwaltung von allen Baath-Mitgliedern, mit dem wachsenden sunnitischen Widerstand ab 2004 zu einer Größe im Irak wurde (Das Phantom al-Sarkawi).
Sarkawi galt zunächst als Vertreter von Bin Laden und wurde dann als dessen Nachfolger von der US-Regierung bezeichnet, die ein Preisgeld von 25 Millionen US-Dollar auf ihn aussetzte. Sarkawi forcierte Anschläge gegen Schiiten, weswegen es zum Konflikt mit Sawahiri kam, kultivierte Köpfungsvideos, die ins Internet eingeschleust wurden, unter seiner Leitung wurden auch die ersten Propagandavideos hergestellt, die mit unterlegtem Gesang einen Anschlag nach dem anderen zelebrierten. Es entstand die Medienstrategie, die nun der Islamische Staat perfektioniert hat. 2006 wurde al-Sarkawi von den Amerikanern getötet, seine Leiche wurde der Öffentlichkeit als Beweis präsentiert (Archaische Bilder vom Sieg). Danach ging es mit al-Qaida im Irak bergab, da die Amerikaner vor dem "Surge", der Truppenaufstockung, damit begannen, sunnitische Selbstverteidigungsgruppen aufzubauen und zu finanzieren (Das große "Erwachen" im Irak). Erst mit der schiitisch dominierten Regierung im Irak und dem Abzug der US-Truppen wurde al-Qaida im Irak wieder stärker, orientierte sich aber nach dem Beginn der Oppositionsbewegung erst einmal nach Syrien, um von dort aus wieder in den Irak einzufallen (Falludscha erneut in den Händen von sunnitischen Extremisten) und die Grenzen zwischen beiden Ländern zur Errichtung eines Kalifats aufzuheben.
Aber zurück zu Fuad Hussein, der die sieben Phasen bis zum Kalifat beschrieb, die weniger von al-Qaida, sondern vermutlich eher von al-Sarkawi und seinen Mitstreitern ausgeheckt wurden, zu denen eben auch der jetzige Führer des IS und selbsternannte Kalif al-Bagdadi zählt. Der Spiegel hatte 2005 das Buch und die darin ausgeführte Strategie kurz vorgestellt ("Szenario des Schreckens - und des Wahns"). Die Ideen scheinen weiterhin zu zirkulieren
Phase 1: Zwischen 2000 und 2003 fand danach das "Aufwachen" statt, das mit den Anschlägen von 9/11 eingesetzt hatte, um die USA zu einem Krieg gegen den Islam zu provozieren, was auch mit dem Krieg gegen Afghanistan und schließlich gegen den Irak gelungen war: "Das Schlachtfeld wurde ausgeweitet", al-Qaida wurde durch die Reaktion der "Schlange" in New York "als Führer der Nation gekrönt" die Islamisten konnten ihre Botschaften weltweit verbreiten.
Phase 2: 2003-2006, also zur Zeit, als Fuad Hussein seine Gespräche führte und das Buch schrieb, sollte das Öffnen der Augen stattfinden. Der Feind sollte in einen Krieg hineingezogen werden. Es sollten Fähigkeiten entwickelt werden, einen "elektronischen Dschihad" zu führen. Beides wurde im Irak mit einer Vielzahl von Terroranschlägen oder mit Kämpfen um Städte wie Falludscha sowie mit der Perfektionierung der Medienstrategie erreicht. Immer wieder wurde vom US-Verteidigungsminister Rumsfeld betont, dass die Terroristen im Medienkrieg überlegen seien. Zudem sollten die Aktivitäten auch auf andere islamische Länder erweitert werden. Tatsächlich fanden Anschläge in Saudi-Arabien oder in der Türkei statt und breitete sich al-Qaida in Ländern wie Somalia oder Jemen aus. Man wollte finanzielle Unterstützung aus anderen islamischen Ländern erhalten, der Irak sollte zur Operationsbasis werden, die Rekruten anzieht und ausbildet.
Phase 3: Zwischen 2007 und 2010, also von den al-Qaida-Strategen gesehen in der Zukunft, sollte ein Aufstehen und Aufrechtstehen stattfinden. Der Kampf sollte auf al-Sham erweitert werden. Damit war Syrien, aber eigentlich Groß-Syrien gemeint, was schließlich 2013 in den Namen ISIS (ad-Dawlah al-Islāmīyah fīl-'Iraq wa ash-Shām - Islamic State of Iraq and Syria) mündete. Zu Groß-Syrien wurde auch der Libanon und Jordanien gerechnet. Plan war es, die Region neu zu ordnen. Geplant waren auch Anschläge in Israel.
Phase 4: Würde man die Strategie ernst nehmen, wäre Phase 3 erst einmal nicht eingetreten, weil al-Sarkawi getötet und al-Qaida im Irak geschwächt wurde. Auch die nächste Phase (2010-2013) trat nicht so ein, wie man dies erhoffte - oder vielleicht doch. Vorgesehen war, arabische Regime zu stürzen oder ins Wanken zu bringen, indem Unruhen geschürt werden. So sollte die Zusammenarbeit mit den USA aufgedeckt und Regime geschwächt werden, die mit Israel kooperieren. Zudem sollten elektronische Angriffe auf die US-Wirtschaft und Angriffe auf arabische Erdöl-Anlagen. Gold sollte gestärkt werden, um den US-Dollar zu schwächen.
2012 wurde der saudische Ölkonzern Saudi Aramco von einem Cyberangriff heimgesucht (Saudi Aramco und die Ölbranche erwarten weitere Cyber-Angriffe), möglicherweise gab es weitere Angriffe auf andere Konzerne. Ob Dschihadisten dahinterstecken? Und es gab den Arabischen Frühling, der Ende 2010 in Tunesien begann und sich im Nahen Osten und Nordafrika ausbreitete. 2011 wurden Libyen, Ägypten und Syrien erfasst. In Ägypten wurde nach den Tahrir-Protesten und dem Sturz von Mubarak der Durchstart der Islamisten durch einen Militärputsch zurückgeschlagen, Libyen und Syrien verfielen zu "failed states", in denen Islamisten ebenso wie in Mali oder Nigeria immer stärker wurden. Gleichzeitig ging man im Westen davon aus, nachdem Osama bin Laden getötet wurde und al-Qaida in Pakistan, im Jemen und in Somalia durch den Drohnenkrieg dezimiert wurde, dass die Terrororganisation geschwächt, "on a path to defeat" gebracht worden sei.
Phase 5: Wir kämen nach der 2005 veröffentlichten Strategie in der Gegenwart an. 2013-2016 sollte der "Islamische Staat" oder das Kalifat erklärt werden. Beides ist 2014 geschehen. International würden Veränderungen stattfinden, die angelsächsische Achse würde geschwächt sein, vor allem in der islamischen Welt, und neue Mächte wie Indien und China hervortreten, mit denen Muslime nicht im Krieg stehen. Letzteres trifft jedenfalls nicht zu, auch wenn die BRICS-Staaten die Supermacht USA mit ihren Alliierten zunehmend schwächen, während al-Qaidas Macht zunimmt.
Phase 6: Es wird interessant. Bislang scheint die Strategie realisiert worden zu sein, zumindest ist al-Qaida bzw. der Islamische Staat als Nachfolger gestärkt aus den Konflikten hervorgegangen und ist wieder zu einem bedrohlichen Gegner des Westens geworden. 2016 will man in einen totalen Krieg eintreten. Nach der Ausrufung des Kalifats werde die "islamistische Armee" die Endschlacht beginnen. Der IS ist keine Terrororganisation mehr, sondern eine weiter anwachsende Armee mit erbeuteten schweren Waffensystemen und womöglich auch mit Kampfflugzeugen. Bislang erscheint der IS trotzdem den westlichen Streitkräften völlig unterlegen zu sein und diesen wenig entgegenzusetzen haben, zumal wenn der Angriff auf den Einsatz von Bodentruppen verzichtet. Es waren gerade die Angriffe auf die Bodentruppen, die al-Qaida im Irak Stärke verliehen und Ziele geboten haben. Geht es also jetzt darum, den Westen wieder in einen Boden- und Stadtkrieg zu verwickeln? Die Stärke von IS ist weiterhin, dass seine Kämpfer nicht taktisch überlegen, sondern unbedenklich ihr Leben ins Spiel bringen.
Phase 7: Die Vision vom Endsieg ab 2020. Al-Sarkawi und Co. setzten nicht nur auf ihre Strategie, sondern auch auf die demografische Macht. 1,5 Milliarden Muslime auf dem Dschihad würden schlicht die Unterwerfung der Nichtmuslime zur Folge haben. Der Endkampf werde nicht länger als zwei Jahre benötigen.
Offenbar setzte die Fantasie der al-Qaida-Strategen mit dem Endsieg aus. Was wird aus der Welt und den Menschen, wenn der Gottesstaat die einzige Wirklichkeit ist? Wenn die Islamisten sich nicht mehr verteidigen müssen, sondern die Herrscher der Welt sind? Wenn nicht mehr die Gewalt und die Selbstopferung primär sind, sondern die Verwaltung und Regierung eines globalen Gemeinwesens, das nicht mehr apokalyptisch oder eschatologisch ausgerichtet ist? Für die paradiessüchtigen Dschihadisten ist diese Welt offenbar keiner Überlegung wert. Das erinnert an die Kommunisten, die von der Revolution träumten, aber nach dieser mit dem Problem zu kämpfen hatten, wie die Gesellschaft gerecht und wirtschaftlich erfolgreich organisiert werden kann, weil der Gründer der Ideologie oder der Autor der Heiligen Schriften dazu keine Prinzipien entwickelt hat. Wäre die "Rechtsordnung" der Scharia, wenn sie kein Kampfbegriff mehr ist, sondern universelle Gültigkeit hätte, überzeugend?