Streit unter den Eziden

Seite 2: Das umstrittene Abkommen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Anfang Oktober wurde zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung in Bagdad ein Abkommen über die Zukunft Shengals geschlossen. Demnach obliegt die Verwaltung des Gebietes der kurdischen Regionalverwaltung und die Sicherheit von Shengal der Zentralregierung in Bagdad.

Die lokalen ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und die aus dem Iran stammenden schiitischen Hashd al-Shaabi sind jedoch nicht in das Sicherheitskonzept miteinbezogen. Die Sicherheit soll von der föderalen Polizei gewährleistet werden. Die Zentralregierung will zur Umsetzung des Abkommens eng mit der kurdischen Regionalverwaltung zusammenarbeiten. Der Autonomierat der Eziden im Shengal wurde weder in die Verhandlungen miteinbezogen, noch soll er an der Verwaltung des eigenen Siedlungsgebietes beteiligt werden.

Der ezidische Autonomierat, der das Gebiet seit sechs Jahren verwaltet, kritisiert die Entscheidung über die Köpfe der ezidischen Bevölkerung hinweg. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) teilt die Kritik. Der Wiederaufbau könne nur Erfolg haben, wenn der Streit um den Shengal beigelegt und eine einheitliche, stabile Verwaltung im Shengal errichtet werde.

Dazu müssten alle ezidischen Milizen in legale, reguläre Verbände des irakischen Militärs integriert werden und die Bevölkerung aktiv beteiligt werden, erklärte der GfbV-Nahostexperte Dr. Kamal Sido. Die GfbV warnte:

"Viele Kräfte, insbesondere schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, könnten versuchen, die Umsetzung des Abkommens zu erschweren. Auch der IS und andere radikalsunnitische Kräfte versuchen, ihre Herrschaftsansprüche in der Region durchzusetzen - mit direkter militärischer Unterstützung durch das türkische Militär. Türkische Kampfflugzeuge, insbesondere Drohnen, fliegen immer wieder Angriffe auf Sinjar. Angeblich bekämpfen sie die kurdische PKK. Tatsächlich haben sie jedoch yezidische Aktivistinnen und Aktivisten zum Ziel, die die Region Sinjar vor IS-Angriffen schützen wollen."

Eine Erklärung ezidischer Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland kritisiert ebenfalls das Abkommen als nicht zielführend.

Jüngst gab es auch im Shengal Proteste gegen das Abkommen, das ohne Beteiligung der Eziden zustande kam. Aus den Medien konnte die Bevölkerung entnehmen, dass ausgerechnet diejenigen, die durch ihren Abzug 2014 den IS-Überfall erst möglich machten, nun die Verwaltung des Shengal übernehmen sollen.

Der sunnitische Barzani-Clan arbeitet eng mit der Türkei zusammen und ermöglicht nach wie vor die türkischen Angriffe aus der Luft und die Geheimdienstoperationen am Boden. Ein Beispiel ist die gezielte Ermordung des wichtigen ezidischen Vertreters Zekî Şengalî durch einen türkischen Luftangriff im Jahr 2018.

Die regierende Barzani-Partei KDP argumentiert im Einklang mit der Türkei, die PKK solle aus dem Gebiet vertrieben werden, weil sie die Situation im Shengal destabilisiere. Doch das ist reine Propaganda. Die PKK unterstützte nach dem Überfall des IS die sich selbst überlassenen überlebenden Eziden im Shengal beim Aufbau ihrer Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ. Danach zog sie sich aus dem Gebiet zurück.

Was steckt hinter dem Abkommen?

Die Unterzeichnung des Abkommens fand in Anwesenheit einer UN-Vertreterin statt. Wenn auch die Interessen der Eziden anscheinend keine Rolle spielen, so ist die Region doch von geopolitischem Interesse. Erinnerungen an den Vertrag von Lausanne 1923 werden wach, der nicht nur die heutige Staatsgrenze der Türkei festlegte, sondern auch die Teilung des kurdischen Volkes besiegelte. Ohne Beteiligung kurdischer Repräsentanten wurden die Kurden vor 100 Jahren zu Türken, Iranern, Irakern und Syrern gemacht.

In allen vier Staaten begann damit eine bis heute andauernde Politik von Umsiedlung und Vertreibung, von gewaltsamer Unterdrückung, von Türkisierung, Arabisierung und Iranisierung der Kurden. Heute stellt die Türkei, natürlich aus ganz anderen Gründen wie die Kurden, den Vertrag von Lausanne in Frage. Die Türkei will zusätzliche Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches zurückgewinnen und die Vormachtstellung im Nahen Osten erringen.

Erste Ergebnisse sind die Annexionen in Nordsyrien und im Grenzgebiet des Nordiraks. Das Shengal-Gebiet im Irak liegt auf dem Weg von Nordsyrien nach Erbil und Kirkuk, welche Objekte der türkischen Begierde sind. Anders als in Syrien, muss die Türkei diese Gebiete nicht erobern, da sie die nordirakische Regionalregierung für ihre Pläne mit ins Boot geholt hat.

Die kurdische Nachrichtenagentur ANF berichtete über die Strategie der Türkei im Irak: Sie sieht vor, Straßen und Eisenbahnlinien von der türkischen Provinz Şırnak im Südosten der Türkei über einen neuen Grenzübergang (Ovaköy) östlich von Shengal nach Mossul und von dort bis nach Bagdad zu bauen. Um die USA ins Boot zu holen, wird argumentiert, es gehe um die "Grenzsicherung zwischen Irak und Syrien, die Eindämmung des iranischen Einflusses im Irak und in Syrien sowie den Wiederaufbau und die Förderung des Handels in Mossul".

Diesen Plan brachte die Türkei schon 2017 ein. Damals ging es darum, den einzigen türkisch-irakischen Grenzübergang Habur bei Zako zu schließen und am kurdischen Autonomiegebiet vorbei auf irakischen Territorium eine direkte Verbindung zur irakischen Zentralregierung zu schaffen. Mit dem neuen, türkei-nahen kurdischen Präsidenten Necirvan Barzani ist jetzt die kurdische Regionalregierung im Nordirak bei den Plänen mit im Boot.

ANF berichtet von verschiedenen Gesprächen und Konsultationen des türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Kazimi, sowie von Gesprächen mit dem Präsidenten der Autonomieregion, Nêçirvan Barzanî im September in Ankara, und dem US-Sondergesandten für Syrien, James Jeffrey, in Erbil und Ankara.

Diese Konsultationen wurden von türkischen Luftangriffen auf das unter UN-Schutz stehende Flüchtlingscamp Maxmur und dem türkisch-irakischem Grenzgebiet begleitet, wo die Türkei PKK-Einheiten vermutete. Türkische Truppen dringen seit Monaten völkerrechtswidrig in irakisches Territorium ein und errichten dort Militärposten. An der Grenze zu Nordsyrien wurden im Irak türkische Truppen positioniert, Gräben gezogen und Stützpunkte gebaut.

Mit diesem Plan sichert sich die Türkei durch Handelsversprechen ihr beanspruchtes Territorium. Die kurdische Autonomieregion hat dem wenig entgegenzusetzen, denn sie ist zu über 90% von Einfuhren aus der Türkei angewiesen. Selbst die Butter und das Trinkwasser kommen aus der Türkei. Die irakische Zentralregierung verspricht sich angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage ebenfalls Vorteile von einer Steigerung des Handels mit der Türkei.

Durch den Deal kann sich der schwächelnde irakische Ministerpräsident Kazimi der Unterstützung durch die KDP und die sunnitischen Stämme im Großraum Mossul sicher sein. Die Eziden mit ihren Anliegen stören dabei. Mit Rücksicht auf die internationale Öffentlichkeit wird versucht, den internationalen Akteuren mit dem umstrittenen Abkommen ein verträgliches Paket zu verkaufen.

Die geopolitischen Akteure sehen dabei nicht, oder nehmen zynisch in Kauf, dass der türkische Staat damit sein strategisches Ziel erreicht, die Verbindung zwischen der Selbstverwaltung und dem Nordirak zu kappen, die ezidische Selbstverwaltung im Shengal zu zerschlagen sowie Mossul und Kirkuk zum nächsten türkischen Protektorat zu machen.