Streit unter den Eziden

Ezidi-Peshmerga-Kommandeur Qasim Shesho, Sinjar-Gebirge (Shengal), 2019. Bild: Levi Clancy/CC0 1.0

Die Kurden, der IS, die PKK, die Türkei und der Irak - Geopolitik im Shengal

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Die irakische Regierung schloss ein Abkommen mit der kurdischen Autonomieregierung des Nordirak über die Verwaltung des ezidischen Siedlungsgebiet Shengal (auch Sindjar genannt), ohne die Vertreter der dortigen Region in die Entscheidung einzubeziehen. Das stößt bei Teilen der Eziden auf Kritik.

Um die Unstimmigkeiten zu verstehen, bedarf es einiger Kenntnisse über das Ezidentum. Dabei ist die Religionszugehörigkeit von der ethnischen Zugehörigkeit zu unterscheiden. Schon bei dieser Unterscheidung fangen die Konflikte unter den Eziden an.

Zur Schreibweise: In Deutschland wurde in jüngster Vergangenheit die Schreibweise "Yeziden" oder "Jesiden" benutzt, die in Deutschland lebenden Eziden benutzen inzwischen mehrheitlich die Schreibweise "Eziden".1

Wer sind die Eziden?

Die überwiegende Mehrheit der Eziden definiert sich ethnisch als Kurden. Dies wird in der Wissenschaft angesichts ihrer Sprache, Kultur und Sozialorganisation geteilt.2 Innerhalb der Kurden sind die Eziden eine religiöse Minderheit, da die Mehrheit der Kurden dem sunnitischen Islam angehört. Die Sprache der Eziden ist - bis auf die arabisch sprechende, ezidische Bevölkerung in Bahzanê und Ba’shîqe im Nordirak - der nordkurdische Dialekt Kurmancî (deutsch: Kurmandschi).

Die kurdische Sprache wird den indoeuropäischen Sprachen zugeordnet und hat drei, bzw. vier Dialekte: Kurmancî, Sorani, Gorani und Zaza. Zaza unterscheidet sich sehr von den anderen drei Dialekten, weshalb ihn einige Linguisten als eigene Sprache sehen. Kurmancî ist der am weitesten verbreitete Dialekt. Er dient den Sprachforschern als Grundlage für das "Hochkurdisch", das in Nordsyrien und in den meisten kurdischen Gebieten der Türkei gesprochen wird. Innerhalb der Dialekte gibt es, ähnlich wie bei uns mit hessisch, schwäbisch, sächsisch etc., regionale Dialektabwandlungen.

Schon bei der ethnischen Zuordnung gibt es vor allem in der deutschen ezidischen Diaspora, ihrer weltweit größten Diaspora, Uneinigkeit. Die eher konservativ, traditionellen Eziden verstehen sich oft nicht als Kurden, sondern sie setzen ihre Religionszugehörigkeit mit ethnischer Zugehörigkeit gleich. Entsprechend interpretieren sie teilweise die kurdische Sprache als ihre eigene Sprache, "Ezidiki" genannt, welche die Kurden übernommen hätten.

Wissenschaftlich kann dies nicht belegt werden. Viele Eziden fühlen sich aber dem kurdischen Volk zugehörig und bekennen sich zur kurdischen Sprache, je nach regionaler Herkunft zu Kurmancî, Sorani oder Gorani.

Wie traditionelle Eziden versuchen, ihre Religion zu retten

Die Eziden sind, wie die Angehörigen aller Religionsgemeinschaften, keine homogene Gruppe. Es gibt traditionelle Eziden, die sich strikt an die religiösen Regeln und ihr Kastensystem halten. Jene Eziden, die sich der Glaubensgemeinschaft zwar zugehörig fühlen, aber das Ezidentum nicht oder nur teilweise praktizieren, fordern eine Modernisierung der religiösen Regeln.

"Die ezidische Religion ist ein eigenständiger Glaube, der weder dem Islam, Christentum oder Judentum noch anderen heute existierenden Religionen zugeordnet werden kann. Darüber herrscht in der modernen Wissenschaft Konsens."3

Aufgrund eindeutiger vorchristlicher und vorislamischer Religionspraktiken ist sich die Wissenschaft einig, dass das Ezidentum keine Abspaltung des christlichen oder islamischen Glaubens ist. Von Einflüssen benachbarter Religionen blieb das Ezidentum dennoch nicht verschont. Rituale wie die Beschneidung, Wallfahrten, das Fasten oder die Taufe deuten darauf hin. Mythen anderer Religionen wurden uminterpretiert und in die eigene Religion übernommen. Ähnliches kennen wir auch aus dem Christentum.

Eziden glauben an einen Gott (monotheistisch). Zum Ezidentum kann man nicht konvertieren, man wird in die Gemeinschaft hineingeboren, da Eziden auch nur untereinander heiraten und Kinder zeugen dürfen. Das Kastensystem unterscheidet die Geistlichen (Sheikhs/Şêxs und Pirs/Pîrs) und die Murids/Mirîds, das gemeine Volk.

Die Sheikhs unterteilen sich in drei Abstammungslinien, die Shemsani (Şêmsanî), Adani (Adanî) und Kahtani (Qatanî), die sich direkt oder indirekt auf den Reformer Sheikh Adi (12. Jahrhundert) zurückführen. Die Kahtani stellen in diesem System den politischen Repräsentanten, den Mîr (Fürst) und die Shemsani den geistlichen Repräsentanten: Baba Sheikh.

Beide Ämter werden vom Vater auf den Sohn vererbt. Aber welcher der Söhne es wird, ist Verhandlungssache. Als im vergangenen Jahr Mîr Tahsin Beg im Alter von 86 Jahren starb, gab es ein monatelanges Tauziehen, bis die Familie schließlich seinen Sohn Hazem zum Nachfolger bestimmte. Doch Mîr Hazem Beg ist umstritten. Kritiker werfen ihm vor, der verlängerte Arm der KDP zu sein, deren Peschmerga die Jesiden während des IS-Angriffs kläglich im Stich gelassen hatten.

NZZ

Der Mîr ist gleichzeitig Oberhaupt des Hohen Geistlichen Rats der Eziden und nominiert den Baba Sheikh. Kritiker befürchten, dass die KDP das Vakuum, das der im Oktober verstorbene Baba Sheikh aus der Familie Khato (kurd. Bavê Şêx Xurto Hecî Îsmaîl) hinterlassen hat, nutzt, um einen ihr genehmen Nachfolger durchzusetzen.

Am 3. August 2014 überfiel der sogen. Islamische Staat (IS) Shengal, das Siedlungsgebiet der Eziden und verübte einen Völkermord am ezidischen Volk. Die Eziden waren dem Angriff schutzlos ausgeliefert, da sie zuvor von den kurdischen Peschmerga der KDP entwaffnet und im Stich gelassen worden waren.

Die Folge waren Zehntausende Tote, Tausende verschleppte und versklavte Frauen und Kinder, sowie Hunderttausende Geflüchtete, die seitdem in Flüchtlingslagern auf ihre Rückkehr hoffen.

Das kürzlich verstorbene religiöse Oberhaupt der Eziden, Baba Sheikh, entschied mit dem heiligen Rat der Eziden, dass befreite ezidische Frauen, die in Gefangenschaft des IS waren und vergewaltigt wurden mit einem Reinigungsritual im Heiligtum Lalish/Nordirak wieder in die ezidische Gemeinschaft aufgenommen werden dürfen. Das war eine politische Entscheidung, um unter anderem in der ezidischen Gemeinschaft noch immer stattfindende Ehrenmorde an Frauen zu verhindern und sie in ihre Familien zu reintegrieren.

Das gelingt nicht immer, da manche Familien die Entscheidung von Baba Sheik nicht akzeptieren. Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft befreit wurden, stehen daher zusätzlich zu ihrem Martyrium unter enormen psychischen Druck. Wegen des (erzwungenen) sexuellen Kontakts außerhalb der ezidischen Glaubensgemeinde gelten sie bei den konservativen Eziden als "Verstoßene". In der Folge gibt es neben "Ehrenmorden" auch immer wieder Selbstmorde dieser Frauen.

Traditionelle Eziden haben darüber hinaus ein großes Problem mit den Kindern, die aus den Vergewaltigungen der Frauen unter IS-Gefangenschaft hervorgegangen sind. Sie fürchten um ihre Identität als Religionsgemeinschaft. Mit Rücksicht auf das konservative Lager stellten die Geistlichen klar, dass mit der Wiederaufnahme in die ezidische Gemeinde nur die Frauen und ihre durch Eziden gezeugten Kinder gemeint sind. Die Folgen dieser Entscheidung reichen von Selbstmord der Frauen, Verleugnung der Vergewaltigung bis hin zum Zurücklassen der Kinder.

Seitdem füllen sich die Waisenhäuser in Nordsyrien und im Nordirak. Ezidische Organisationen schätzen, dass Hunderte von Frauen es deshalb vorzogen, bei ihren Vergewaltigern zu bleiben, bzw. sich im nordsyrischen Flüchtlingslager al-Hol nicht als Ezidinnen zu erkennen zu geben.

In den Flüchtlingscamps im Nordirak leben nach Angaben von Hilfsorganisationen zahlreiche Frauen, die wegen der Kinder nicht auf eine Wiederaufnahme in ihre Familie hoffen können. Die ezidische Überlebende und Nobelpreisträgerin Nadia Murad forderte daher schon 2019, dass die Überlebenden selbst entscheiden können sollten:

...Wenn sie entscheiden, gemeinsam mit ihren Kindern in den Irak zurückzukehren, müssen wir das als Gemeinschaft akzeptieren, sie willkommen heißen und ihnen jede erdenkliche Hilfe anbieten.

Deutsche Welle

Der ezidische Psychiater Professor Jan Ilhan Kizilhan weist auf ein weiteres Problem hin: Knapp 2000 ezidische Kinder konnten zwar nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei beim sogenannten "Islamischen Staat" wieder zu ihren Familien zurückkehren, aber sie wurden bislang mit ihren Erfahrungen von Demütigung, Vergewaltigung, Missbrauch und Gehirnwäsche weitgehend alleingelassen. Knapp die Hälfte der Jungen wurden als Kindersoldaten missbraucht, die Mädchen extremster sexueller Gewalt ausgesetzt.

Kizilhan, der in Süddeutschland ein Zentrum für Interkulturelle Psychosomatik leitet, ist immer wieder vor Ort im Shengal und versucht zu helfen, aber "es gibt nicht ausreichend Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter und Ärzte, die sich dieser großen Zahl von traumatisierten Erwachsenen und Kindern widmen können".

Keine Sicherheit im Shengal

Viele Eziden zögern mit einer Rückkehr in das Shengal-Gebirge. Noch immer gibt es IS-Zellen in der Region. Aber auch die anhaltenden Drohnenangriffe der Türkei halten die Eziden von einer Rückkehr zurück. Zudem erschwert die kurdische Autonomieregierung den ezidischen Familien die Rückkehr, indem sie z.B. an den Checkpoints die Einfuhr von Baumaterialien verweigert und eng mit dem türkischen Geheimdienst MIT zusammenarbeitet, der in der Region sehr präsent ist.

Die Eziden sind sich aber auch untereinander nicht einig, wenn es um die Verwaltung der Region geht. Soll der Shengal von der irakischen Regierung oder von der kurdischen Regionalregierung verwaltet werden? Oder soll es eine ezidische autonome Region geben? Darüber wird derzeit in der ezidischen Community heftig gestritten. Der kürzliche Tod des 87-Jährigen religiösen Oberhaupt der Eziden, Baba Sheik Khato, hinterlässt zudem auch ein religionspolitisches Vakuum, denn mit ihm verloren die Ezidinnen einen einflussreichen Vertreter.

Politik und Religion lassen sich auch bei den Eziden nicht völlig trennen. Die beiden großen kurdischen Stämme der Barzanis und Talabanis haben großen Einfluss in der ezidischen Community im Irak. So soll z.B. der Schwager des kürzlich verstorbenen Baba Sheikh ein Funktionär der Barzani-Partei KDP sein.

Solche Verstrickungen haben Einfluss darauf, wie sich die verschiedenen Lager zu den Kandidaten einer Nachfolge des verstorbenen Baba Sheikh - Sheikh Ali Elyas Nasir oder Sheikh Ferhat - positionieren. Sheik Ali Elias Nasir, Sohn des Geistlichen Oberhaupts Baba Sheikh von 1978 - 1995 aus der Elias-Familie kandidierte gegen Sheikh Ferhad, der aus der Familie Khato des im Oktober verstorbenen Geistlichen Oberhaupts stammt.

Nasir wurde nun im November 2020 zum neuen Geistlichen Oberhaupt, dem Baba Sheikh (kurd. Bavê Şêx) ernannt. Traditionell wechseln sich seit 100 Jahren die religiösen Oberhäupter der Familien Elyas und Khato in der Nachfolge ab. Dies war auch diesmal der Fall.

Diese Verstrickungen tragen weiter zur Spaltung der ezidischen Gemeinschaft bei. Das zeigen die Proteste über das jüngste Abkommen zwischen der irakischen Regierung und der kurdischen Autonomieregierung in Bezug auf das Shengal-Gebiet. Nach dem Überfall des IS im August 2014 schlossen sich die Eziden zur Verteidigung Shengals entweder den Barzani-Peschmergas, den vom Talabani-Clan unterstützten iranischen schiitischen Milizen der Hashd al-Shaabi oder den von der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgebildeten ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ an.

Die PKK hatte viele Sympathien innerhalb der ezidischen Community gewonnen, da sie im August 2014 einen Korridor nach Nordsyrien freigekämpft hatte, der Zehntausenden von Eziden das Leben rettete.