Studie warnt: Verbreitete Umweltchemikalien schädigen offenbar Hirnentwicklung
Chemikalien, die in Desinfektions- und Flammschutzmitteln vorkommen, beeinträchtigen Gehirnleistung. Sie sind wohl für motorische Störungen bei Kindern verantwortlich.
Bestimmte Chemikalien, die in Desinfektions- und Flammschutzmitteln vorkommen, wirken toxisch auf Oligodendrozyten, sogenannte Helferzellen der Neuronen. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie, die im Fachjournal "Nature Neuroscience" veröffentlicht wurde.
Chemikalien in Desinfektions- und Flammschutzmitteln schädigen Gehirnzellen
Oligodendrozyten gehören zu den Gliazellen im Zentralnervensystem. Sie wickeln sich um das zentrale Nervensystem herum und ermöglichen so hohe Denkgeschwindigkeiten des Gehirns. Zudem versorgen sie die Neuronen mit Energie und spielen bei der Weiterleitung elektrischer Signale eine Schlüsselrolle.
Ein US-amerikanisches Forschungsteam untersuchte die Wirkung von 1.823 Chemikalien auf Oligodendrozyten von Mäusen in Zellkulturschalen. Ergebnis: 292 der Chemikalien töteten die Zellen, 47 weitere hemmten ihre Bildung, 22 förderten die Oligodendrozyten-Generierung.
Toxische Chemikalien und ihre möglichen Auswirkungen auf Kinder
Die Substanzen könnten dazu führen, dass Kinder motorische Störungen entwickeln und eine Förderschule benötigen. Die Zellen entwickeln sich ein Leben lang, aber die kritische Phase ist vom vorgeburtlichen Stadium bis zum dritten Lebensjahr, schreiben die Wissenschaftler. Die Ergebnisse werden durch Folgeuntersuchungen an Mäusen und kultivierten menschlichen Oligodendrozyten gestützt.
Die toxischen Chemikalien lassen sich in zwei Klassen einteilen:
- Quaternäre Ammoniumverbindungen (QAV = Ammoniumverbindungen und eine phosphorhaltige), die Oligodendrozyten selektiv töten. Sie sind in einigen Desinfektionsmitteln sowie Lutschtabletten gegen Atemwegsinfektionen enthalten.
- Organophosphat-Flammschutzmittel, welche die Zellentwicklung hemmen. Sie sind in einigen Möbeln und Baumaterialien enthalten.
Analyse von Urinproben bei Kindern zeigt Präsenz von Flammschutzmittel-Metabolit
Bei einer anschließenden Analyse von Daten des National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES) wurden Urinproben von drei- bis elfjährigen Kindern untersucht. In 99,4 Prozent der Urinproben wurde der Flammschutzmittel-Metabolit BDCIPP nachgewiesen.
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Die Werte seien in den vergangenen Jahren gestiegen, so die Autoren. Kinder mit erhöhten BDCIPP-Werten wiederum wiesen höhere Raten von motorischen Störungen auf.
Wo Flammschutzmittel zum Einsatz kommen
Flammschutzmittel sind Stoffe, welche die Ausbreitung von Bränden einschränken, verlangsamen oder verhindern sollen. Angewendet werden sie überall dort, wo sich potenzielle Zündquellen befinden, zum Beispiel in elektronischen Geräten (elektrischer Kurzschluss), Polstermöbeln oder Teppichen.
Außer in Vorhängen sind sie in Möbeln, in Spielzeug, aber auch im normalen Hausstaub enthalten. Von hier werden sie ständig oral oder über die Lunge aufgenommen und als Staub eingeatmet.
Zwar versichert das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, dass die EU strenge Vorgaben zur Verwendung von quaternären Ammoniumverbindungen in der Lebensmittelerzeugung vorgibt. Doch scheint die gesundheitliche Belastung etwa durch Flammschutzmittel auch in Europa ein reales Problem zu sein, wie auch aus einer französischen Studie von 2020 hervorgeht.
QAV stecken in alltäglichen Produkten
Quaternäre Ammoniumverbindungen werden auch in Deutschland verwendet. So wurden in der Vergangenheit QAV als Rückstände in Speiseeis gefunden. Ursache war vermutlich die Reinigung der Produktionsanlagen mit QAV-haltigen Produkten und eine fehlende Nachreinigung: Reinigungsrückstände vermischten sich mit den Produktionsstoffen und gelangten so in das Speiseeis.
Die Stoffe sind zum Teil oberflächenaktiv, d. h. sie setzen die Oberflächenspannung einer Flüssigkeit oder die Grenzflächenspannung zwischen zwei Stoffen herab. Oberflächenaktive Verbindungen ermöglichen die Vermischung von Wasser und Öl oder verhindern die Bildung von Tropfen auf einer Oberfläche. Da sie das Lösen von Fetten erleichtern, werden sie teilweise in Weichspülern oder Shampoos eingesetzt.
Gleichzeitig werden QAV wegen ihrer desinfizierenden und keimtötenden Wirkung in Krankenhäusern, in der Lebensmittelverarbeitung, in der Landwirtschaft und in der Industrie eingesetzt. Häufig sind sie in Algen-, Moos- und Schimmelbekämpfungsmitteln für Schwimmbäder, Fassadenreinigung und wetterfeste Textilien enthalten.
QAV in Desinfektionsmitteln, Bioziden, Pestiziden und Dünger
Mit QAV werden nicht nur Fußböden gereinigt, sondern auch Operationsbesteck und Untersuchungsinstrumente, Produktionsmaschinen und andere Geräte.
Auch pharmazeutische Produkte können QAV enthalten, als Konservierungsmittel in Nasensprays oder als Wirkstoff in chemischen Verhütungsmitteln.
Die Stoffe können auch in Antiseptika zur Behandlung oberflächlicher Verbrennungen, in Wundsalben und Mund- und Handspülungen sowie in Dentalprodukten, z. B. in Materialien zur Behandlung des Zahninneren oder in Adhäsivsystemen, enthalten sein.
Ansonsten werden sie als vorbeugender Schutz gegen Bakterien- und Schädlingsbefall, als Pflanzenschutz- und Düngemittel oder als Wirkstoff in Chemietoiletten eingesetzt.
Expertenmeinungen zu QAV und ihrer Gefahr für das Gehirn
"Die beunruhigende Zunahme von Entwicklungsstörungen des Gehirns macht es immer dringender, den möglichen Beitrag von Chemikalien zu untersuchen", sagt Thomas Hartung von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore/Maryland. In den USA werde etwa eines von 36 Kindern mit Autismus diagnostiziert. Die Tierversuche für diese Studien kosten 1,4 Millionen US-Dollar, dauern zwei Jahre und verbrauchen mehr als tausend Tiere pro Chemikalie.
Der Toxikologe weist darauf hin, dass der Verbrauch von Desinfektionsmitteln mit den oben genannten Inhaltsstoffen während der COVID-Pandemie stark angestiegen ist. So wurden in einer Studie von 2021 die Substanzen bei 80 Prozent der Probanden im Blut nachgewiesen.
Möbel – sogar Babymatratzen – können bis zu einem Drittel ihres Gewichts aus diesen Chemikalien bestehen. In Urinproben seien sie bei fast allen US-Amerikanern gefunden worden. Allerdings stelle sich die Frage, ob die Mengen relevant seien.
Mögliche Auswirkungen der Chemikalien auf Kleinkinder und Säuglinge
Vor allem Kleinkinder könnten höhere Mengen aufnehmen, ergänzt der Forscher Marcel Leist. Zudem können die Stoffe auch in die Muttermilch gelangen. Die Vorgängergeneration der Flammschutzmittel sei deshalb weitgehend verboten.
Die Ersatzstoffe seien oft nur teilweise auf ihre Sicherheit geprüft, kritisiert der Professor für In-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz. Problematisch findet er, dass Industriechemikalien in Europa in der Regel nie auf Entwicklungsneurotoxizität getestet werden.
Im Gegensatz zu Europa habe die US-Umweltschutzbehörde ein spezielles Testprogramm entwickelt. Die quaternären Ammoniumverbindungen fielen alle in diese Testlücke, da es hierzulande kaum Daten aus der Industrie oder von Regulierungsbehörden gäbe.
Verbindungen, die isolierte Zellen stören, könnten im ganzen Organismus wirken
"Die Befunde sind neu und wurden noch nie so gezeigt", erklärt Beate Escher, Leiterin des Departments Zelltoxikologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ).
Die Effekte der quaternären Ammoniumverbindungen überraschen die Zelltoxikologin allerdings nicht. Denn: Sie haben eine hohe Affinität zu biologischen Membranen und stören die Mitochondrien und die Energiegewinnung der Zellen. Die Aufnahme durch den Menschen, Entgiftungs- und Abwehrmechanismen spielen ihrer Meinung nach eine zusätzliche Rolle. Unbestritten sei, dass Effekte, die an Zellen im Reagenzglas und an Mäusen beobachtet werden, auch beim Menschen auftreten können.