Swamp Blues
Zur parareligiösen Hoffnung der Demokraten aller Parteien
Die US-Politik folgt seit einigen Jahren dem Skript eines Philip K. Dick-Romans. Am Anfang erscheint alles relativ normal. Dann poppen plötzlich die Zerrfratzen einer unerträglichen Traumwelt auf, um den Glauben an die Wirklichkeit gründlich zu zerstören. Schließlich ist alles wieder normal, doch längst wissen wir nicht mehr, ob wir wieder in der Wirklichkeit angekommen sind.
George W. Bush führte die Welt nach der Überformatierung von „Nine/Eleven“ zügig in die Alptraumwirklichkeit. Kriege, die als obsolete Konfliktlösungsmittel in der Geschichte versenkt schienen, wurden mit hohlem – und wie sich bald herausstellte – verlogenem Gerechtigkeitspathos wieder hervorgeholt. Politische Handlungsarmut versteckte sich hinter bellizistischer Hyperaktivität. Zwei Legislaturperioden wurden mit Wild-West-Aktionen verschenkt, während die Probleme zwischen Sozialem, Wirtschaft, Finanzen, und Klima eine ungleich komplexere Politik notwendig gemacht hätte.
Vom grotesk überzogenen Anspruch, das neue Rom mit welthegemonialer Großmannssucht zu markieren, ist nach den selbst gestrickten Katastrophen, die auf den WTC-Anschlag folgten, nichts anderes übrig geblieben als ein weltweit ramponiertes Image der USA. Auch diesmal hatten alle Kassandren zum Zeitpunkt des Amtsantritts von Bush die Zukunft schon gesehen. Bush wird als Präsident der politischen Bedeutungsverluste Amerikas in die „hall of fake and fame“ eingehen.
Seine Fußabdrücke sind immens. Auch die Bundesrepublik ließ sich zu dubiosen Demokratieaufträgen hinter den sieben Bergen hinreißen. Diese Weltbefriedungskampagnen wären kaum auf die internationale Agendaliste gerutscht, wenn Bush und die Seinen nicht „Terror“, „Freiheit“ und „Demokratie für alle“ im Öl der hegemonialen Denkungsart zusammengerührt und heiß gekocht hätten. Während alle auf den ultimativen Terror eingeschworen wurden, vollzog sich der wahre Schrecken vor der eigenen Haustür.
Eine horrende Staatsverschuldung, eine drohende Rezession und eine erbärmliche Krankenversicherung für große Teile der Bevölkerung beschreiben die kapitalistische Kummergesellschaft, die nun Obama kurieren soll. Die Finanzkrise ist die Mega-Hydra, neben der sich „Taliban and friends“ trotz ihrer Stehaufmännchen-Qualitäten bescheiden bis beschaulich ausnehmen. „Lehman-Brothers“ und Konsorten lieferten die westlichen Niederlagen frei Haus und ohne Kanonen, ohne dass diesmal - selbst bei kühnster Interpretation amerikanischer Internationalisten - der nur als Videobotschaft existierende Berggeist Usama bin Ladin dafür hätte verantwortlich gemacht werden können. Die bellizistischen Wahrnehmungs- und Handlungssysteme versagten überall, was zuvor als politisches Standardwissen bekannt war, aber von den inzwischen umfassend ideologisch diskreditierten Neocons noch einmal dem überflüssigen Praxistest unterzogen wurde.
Vom amerikanischen Internationalismus zum medialen „Interbanalismus“
In dieser politischen Sumpflandschaft, die nur noch hässlich-paranoide Blasen aufplatzen ließ, hatte Barack Obama vergleichsweise leichtes Spiel, als Heilsbringer zu erscheinen. Der Wahlkampf gegen McCain war gegenüber dem Kopf an Kopf-Rennen gegen die zu ehrgeizig agierende Hillary Clinton eher spannungsarm. Obama avancierte zum parteiübergreifenden Hoffnungsträger, weil er als smart federnder „Nobody“ die beste Projektionsfläche für alle Wählerwünsche bot. McCain war dagegen von Anfang an mit Altlasten beschwert, die nicht nur aus den Weltbefreiungsaufträgen der Bush-Regierung resultierten. McCains eigene Geschichte, so glorreich sie auch als vorgeblich wertvolles Erfahrungswissen vermarktet werden sollte, war eine mindestens ebenso große Hypothek. Welcher Stimmungswähler verknüpft einen Vietnam-Veteranen mit dem politischen Frühling? Neubeginn heißt Geschichtslosigkeit. Der Makel fehlender außenpolitischer Bewährung Obamas war eher ein Vorteil, weil nicht nur die Bush-Regierung erwiesen hatte, zu welchen Eseleien erfahrene Außenpolitiker in der Lage sind.
Der medial sozialisierte Wähler braucht im Grunde nichts anderes als entwicklungsfähige Wunschlandschaften, die nicht durch allzu viele Fakten verbaut werden. Kongenial trifft sich, dass die „Leere“ nicht nur im Fernsehen, sondern auch in der Politik das eigentliche, mesmeristisch aufladbare Medium ist. Medienästhetisch gab es diesmal noch viel mehr zu bestaunen. Im Grunde ist es dank Internet der erste US-Wahlkampf, der vom weitreichenden Verlust einer politisch programmatischen Zentralperspektive zugunsten von Akzidenzien, Banalitäten und Nichtigkeiten handelt.
Der vormalige kategoriale Unterschied zwischen Politik und Satire erodierte zeitweise, allerdings mit dem überraschungsfreien Umstand, dass Satire medienästhetisch überzeugender ist, wie es für alle verbliebenen Zweifler die Auseinandersetzung zwischen echter und falscher Sarah Palin (Tina Fey) in "Saturday Night Live" demonstrierte. Dass auch die beiden Hauptprotagonisten nun direkt in Satiresendungen um die Gunst unterhaltungsabhängiger Wähler werben, macht die Wege zwischen Politik und Komik kürzer. Für Sarah Palin, den aus dem republikanischen Ärmel geschüttelten Politik-Joker, führte dieser Weg vom Regen in die Traufe: Sie wurde nicht nur mit ihrem besseren Alter Ego, ihrem pointierten Satire-Ich konfrontiert, sondern der falsche Sarkozy rief sie an, was auf beiden Seiten der Leitung keinen allzu komischen Overkill provozierte.
Weniger schief als diese Satire war aber auch nicht Palins paradigmatische Selbstbeschreibung als „hockey mom“ aus „real America“, die, wie es ein fragiles Privileg der Republikaner zu sein scheint, gesicherte Wertwelten für einfach strukturierte Zeitgenossen repräsentiert. Ihre kapriziösen 150 000 Dollar-Klamotten sind in einer Barbie-Society, die It-Girls wie Paris Hilton und nicht „hockey moms“ für das Ereignis hält, naturnotwendig wichtiger als die Frage, ob sie eigene politische Ideen besitzt oder wenigstens fremde leidlich artikulieren kann. Eine Sarah Palin-Echthaarperücke kostet nur 695 Dollar. Wenn es Menschen gibt, die so etwas jenseits von Halloween kaufen, muss man ernsthaft darüber nachdenken, ob Martin Heideggers Zweifel, dass die Demokratie die Herrschaftsform der Zukunft bleibt, nicht berechtigt sind. Eine solche Demo-Kosmetik ist wirklich gerecht, weil jede Partei nun Nebensächlichkeiten als echte Naturkatastrophen erlebt: Ein falsches Make-up, ein schiefes Lächeln, ein unterlassener Händedruck und Tausende von Stimmen sind weg.
Neben den öffentlichen Tränen Obamas über die tote Großmutter sind die im Windkanal der spin-doctors geglätteten Botschaften, die ihre Widersprüchlichkeit und Beliebigkeit selbst bei oberflächlicher Wahrnehmung leicht entfalten, unwichtig. Obamas Ankündigung, das Ansehen Amerikas dadurch wieder anzuheben, dass man mit guten Taten und gutem Beispiel vorangehe, hätten wohl die meisten der 43 Präsidenten vor ihm zu jeder Gelegenheit genauso formuliert.
Es ist diese fatale Nähe einer massentauglichen Politik und ihrer Rhetorik zu angeblich konkurrierenden politischen Positionen, die den demokratischen Glauben an die Unterschiede mächtig strapaziert. „Ich bin nicht gegen jeden Krieg. Ich bin gegen dumme Kriege“, ist auch einer dieser Beliebigkeits-Sprüche, die die Berechenbarkeit einer solchen Politik in Grenzen halten. Für Wahlkämpfer ist das praktisch: McCain hat Obama, den zukünftigen Steuerreformator, bereits als Sozialisten geoutet. In dieser intentional verrotteten Rhetorik entstehen dann reale und eingebildete Gespenster, die seit je die größte Gruppe des politischen Personals stellen.
Messianische Politik
Wie US-Präsidentenbewerber zum Messias einer „Politik der Hoffnung“ werden, erklärt der Film „Welcome, Mr. Chance“ (1979) von Hal Ashby. Der autistische Gärtner Chance ist dank seines Nonstop TV-Konsums von so überragend banaler Denkungsart, dass er die steilste aller Karrieren macht. In einer Fernsehshow erklärt Chance der empfangsbereiten Nation seine Frohbotschaft: „Im Frühling wird es Wachstum geben.“
Alle sind von dieser optimistischen Erkenntnis begeistert, auf die die Welt schon so lange gewartet hat. Nachdem der innere Machtkreis um den Präsidenten Mr. Chance als neuen Amtsinhaber „ausgekungelt“ hat, geschieht das Wunder: Mr. Chance kann wie Jesus über das Wasser wandeln. Diese politische Movie-Theologie erfasst die Inthronisation von Obama zwar nicht ganz. Obama ist alles andere als ein Trottel und seine pflichtschuldigen Beteuerungen, ein Mann des Volkes zu sein, werden durch seine blendende Intellektuellen-Laufbahn eindrucksvoll widerlegt.
Doch auch Jesus Obama Superstar verkündet messianische Politik, die der berufsböse Rapper Nelly uns nun gleichermaßen staatstragend wie parareligiös erklärt: „Es ist das erste Mal, dass junge Leute in Amerika sich für eine Wahl interessieren. Er hat einer ganzen Generation einen Hoffnungsfunken gegeben. Wir müssen Gott für diesen Mann danken.“ Seitdem der Betriebsstoff von Börsen nicht mehr Realwerte, sondern Stimmungen sind, ist wohl göttlich geförderte Hoffnung die neue, einzig valide Währung. Die theonomische Aufladung des Barack Obama „Wir sind bereit, wieder zu glauben!“ indiziert allerdings mehr als nur die mächtige Eruption einer multikulturellen Seifenblase. Auch jenseits der neokonservativen Republikaner mit methodistischem oder verquäkertem Revers sakralisieren nun die Demokraten um Obama politische Hoffnungen von Leuten mit entkräftetem Dispokredit und den übrigen Problemen der Menschheit.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und jeder Menschenfischer, im guten wie im bösen Sinne, tut recht daran, sich in schlechten Zeiten für dieses relativ kostengünstige Prinzip zu entscheiden. Hoffnung ersetzt vieles: Mit Hoffnungen kann man die Schäden eines Gesellschaftssystems, die Überflutung seines Hauses und die im Derivat verendete Ausbildungsfinanzierung der Kinder wenigstens vorübergehend zu kleistern. In Abwandlung eines Spruchs von Karl Kraus möchte man allerdings sagen: Ich brauche keine Politiker, die Hoffnung verkaufen. Seht nur zu, dass die Rahmenbedingungen meiner sozialen und ökonomischen Existenz gewährleistet sind. Für die Hoffnung sorge ich dann selbst. Zudem ist diese Währung leider schnell ausgegeben.
Obama weiß, dass seine Rolle als Prediger, die der des Intellektuellen so fundamental widerstrebt, keine Erfolge garantiert. Solange der Wahlkampf währt, ist die parareligiöse Begeisterung der Massen, die doch angeblich in Demokratien keine sind, der Dreh- und Angelpunkt politischen Selbstverständnisses. Obamas Flexibilität im Rollenwechsel hat politische Kommentatoren permanent zu Beschreibungen verführt, die uns an eine multiple Persönlichkeit glauben lassen. Selbst die Überwindung der mindestens latent vorhandenen Rassenspannungen inkarniert er so überzeugend, dass Diskussionen, welche Hautfarbe er denn nun eigentlich hat, offen bleiben.
Auch Obama wird nun nolens volens den Weg aller Präsidenten gehen, zwischen politischen Handlungen, unverrückbaren Systemstrukturen und freischwebender Rhetorik im Alltagsgeschäft einer komplex strukturierten Weltmacht zu unterscheiden. Deswegen sagt der gloriose Auftakt mit Mega-Wahlbeteiligung nichts über den weiteren Verlauf der Obama-Show. Der gottgesandte Strahlemann wird seine politische Transzendenz nicht über die gegenwärtige, nächste oder übernächste Krise retten. Auf Terroristen als Steigbügelhalter für edle und weniger edle Ritter kann man sich augenscheinlich auch mehr nicht verlassen. Der Krieg als Erbschaft ist für den US-Präsidenten Barack Obama nur noch lästig, politische Auszeichnungen sind hier nicht zu erwarten.
In aufgeklärten Demokratien gibt es eher Gründe, keine Charismatiker zu wählen. Kennedys „Bearleener“-Charisma überstrahlte seine politische Bedeutung erheblich. Demokratie setzt gerade auf den Unterschied zur charismatischen Herrschaft, was selbst Joe Sixpack einleuchten sollte: „Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden.“
Max Webers dauerhafte Ausführungen zu altgermanischen Königen und anderen „Söhnen des Himmels“, die in Katastrophen und fundamentalen Misserfolgs-Stories untergingen, müssen wir für Barack Obama nur geringfügig modifizieren. Denn die Chance zu verschwinden ist in emotional veranlagten Demokratien eine Garantie, wenn die Erfolge ausbleiben: Dann passen auch Charismatiker schließlich unter den Teppich der Verhältnisse und werden umstandslos zu Sündenböcken. Obama hat jetzt erst mal Zeit genug, interessante Persönlichkeitserfahrungen zu machen.
Der Intellektuelle und der Charismatiker, duas naturas in unam personam, werden weiterhin ihre Spaltungsexistenz in schwierigen Zeiten leben. Bei George W. Bush wurde dieses Problem nicht sichtbar, was den präsidialen Wechsel ohnehin überfällig machte. "Yes We Can!" Diesen Spruch aus dem reichen Arsenal der Waschmittelwerbung mit Reinheitsgarantie kann Obama nun nicht mehr ausschließlich für seine mediale Konfiguration fruchtbar machen. Der Wechsel bzw. die Rückverwandlung von Jesus Obama Superstar zum Pragmatiker eines höchst defizitären Sozialsystems, einer angeschlagenen Wirtschafts- und Finanzwelt und – last but not least – einer „We´re at war“-Nation ist nun das Gebot der Stunde respektive der nächsten vier Jahre.