Syrien: Al-Qaida bleibt unberechenbar
Längst hätte Hayat Tahrir al-Sham verschwinden müssen. Die Türkei versucht es mit Tricks
In zwei Wochen, am 14. Februar, wollen sich Vertreter Russlands, Irans und der Türkei in Sotschi treffen, um über Syrien zu sprechen. Das weitere Vorgehen in Idlib, der geplante Abzug der US-Truppen und die damit verbundene Frage, wie es in den von Kurden verwalteten Zonen in Nordsyrien weitergeht, werden zu den großen und schwierigen Themen gehören.
Aus Sicht der Bewohner dieser Landesteile in Syrien sind Kriegshandlungen in Idlib und möglicherweise nordöstlich an der Grenze zur Türkei zu befürchten. Für beide Gebiete ist die Rolle der Türkei entscheidend. Sie ist die Garantiemacht, die für die Opposition verantwortlich ist, und laut einem Abkommen, das Erdogan im vergangenen September mit Putin geschlossen hat, für die Durchsetzung von Regelungen in Idilb.
Dazu gehört die Entfernung der "Terroristen der al-Nusra-Front bzw. der Hayat Tahrir al-Scham (HTS)" und dazu gehört, dass wichtige Verbindungstraßen, die durch Idlib laufen, frei befahrbar sind. Sie sind für die Regierung und das Land von zentraler strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Die Fristen für die beiden genannten Abmachungen wurden nicht eingehalten.
Russland und Syrien zeigten bislang Geduld dafür, dass die Türkei die Verhältnisse in Idlib nicht auf die Weise kontrollieren oder regeln konnte wie vorgesehen. Man weiß in Moskau und in Syrien, wie schwierig die Aufgabenstellung ist. Dazu kommt, dass eine Offensive auf Idlib weder militärisch noch politisch ein leichtes Spiel ist, sondern im Gegenteil mit großem Aufwand, Verlusten, schlechtester Presse und Fluchtbewegungen von Zigtausenden verbunden ist.
Russisches Außenministerium warnt vor Giftgas-Inszenierung
Seit die aus al-Qaida hervorgegangene Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) jedoch beinahe vollständig die Kontrolle in Idlib übernommen hat und dabei konkurrierende Milizen zur Seite geräumt hat, die mit der Türkei verbunden sind, zeigt das Außenministerium in Moskau Zeichen der Ungeduld. Auch aus Damaskus kommen ähnliche Signale.
In einer aktuellen Äußerung vor der Presse warnt Marija Sacharowa, Chefin der Abteilung für Information und Presse des Außenministeriums der Russischen Föderation, erneut vor der Inszenierung eines Chemiewaffenangriffs. Angeblich seien die Weißhelme dabei, eine weitere Provokation vorzubereiten.
Die Information bettet die russischen Pressesprecherin zwischen Aussagen über die Spannung in Idlib sowie über ein Bericht der New York Times. Die Spannungen werden als tägliche Angriffe der al-Nusra-Front auf umliegende Ortschaften beschrieben, zeigen sich aber auch im Aufbau von Milizentruppen in der Nähe syrischer Regierungstruppen. Auf den Artikel in der New York Times wird ungewöhnlich ausgiebig eingegangen, vorgeworfen werden ihm Äußerungen, die die Herrschaft der al-Qaida-Abspaltung HTS in Idlib in einem geschönten Bild zeigen.
Man achtet im russischen Außenministerium auf die westliche Presse, die propagandistisch vorgeht, lautet das eine Signal. Das andere will zeigen, dass man sich über die Aggressivität und die trickreichen Manöver der Dschihadisten, die im Schutz der westlichen Presse agieren, im Klaren ist und man jederzeit Gründe hätte, dem Treiben militärisch ein Ende zu bereiten. Vor dem Treffen in Sotschi wird das aber nicht passieren.
Türkei, Russland und Syrien
Es gibt die Spekulation, dass die Türkei nichts gegen eine Offensive der syrischen Armee und der russischen Verbündeten in Idlib unternehmen würde, wenn die Türkei als Gegenleistung einen Spielraum bekäme, um eine Barriere gegen die YPG in Syrien zu errichten, die offiziell den Namen "Schutz- oder Pufferzone" bekäme. In Damaskus ist man laut gegen eine Ausweitung der Präsenz der Türkei in Syrien. Russland versucht die Türkei mit einem früheren Abkommen zwischen Ankara und Damaskus zu beruhigen, das Absicherungen gegen die PKK zum Gegenstand hatte.
Viel hängt davon ab, wie die Verhandlungen zwischen kurdischen Vertretern aus Nordsyrien und der Regierung in Damaskus laufen. Sollten sich die beiden Parteien einigen, so wäre der Grenzschutz in den Händen syrischer Truppen, denen sich die YPG anschließen würde. Die Türkei könnte die Pläne zu einem langgestreckten Schutzriegel auf syrischer Seite der Grenze zur Seite legen.
Die Entwicklungen in den von Kurden verwalteten Gebieten hängen davon ab, wie der Abzug der US-Truppen geregelt wird. Von dieser Seite gibt es ebenfalls Vorhaben, eine "Schutzzone" in Syrien zu schaffen, allerdings mit der Absicht, die Kurden zu schützen. Angesichts der russischen, türkischen, syrischen und iranischen Gegnerschaft ist eine Verwirklichung derzeit nicht vorstellbar, auch wenn Frankreich und Großbritannien Unterstützung signalisiert haben.
Das Dschihadisten-Problem in Idlib
Diese Pläne und Absichten lösen aber keinesfalls das Dschihadisten-Problem in Idlib. Dazu gibt es aktuell interessante Einblicke, die von zwei Führungspersönlichkeiten aus einer al-Qaida-treuen Miliz stammen. Sie werfen ein bemerkenswertes Licht auf türkische Hintergrundaktivitäten. Die beiden Dschihadisten gehören zur Führung von Hurras ad-Din. Das ist eine der kleineren und neueren Milizen in Syrien. Wichtig ist, dass die Miliz über einen Treueeid mit al-Zawahiri von der al-Qaida-Führung verbunden ist. Anders als bei al-Nusra/HTS gibt es darüber auch unter Experten keinen Streit. Die Zugehörigkeit ist glasklar.
Abu Hummam al-Shami and Sami al-Uraydi, so die Namen der beiden Kader (die übrigens auch ihre Stationen bei al-Nusra hinter sich haben, aber im "Familienstreit" die Filiale gewechselt haben), haben ein vielbeachtetes Statement über ihre aktuellen Verhandlungen mit HTS veröffentlicht. Daraus geht unter anderem hervor, dass HTS plant, einen Militärrat in Idlib einzurichten.
Faylaq al-Sham und die Türkei
Das Bemerkenswerte ist nun, dass an der Spitze des Militärrates eine Person sein sollte, die von der Miliz Faylaq al-Sham stammt. Diese Miliz spielte eine bedeutende Rolle bei der Eroberung von Idlib im Jahr 2015, wo sie ein Bündnispartner der al-Nusra war (die sich damals den Sammelnamen Jaish al-Fatah gab) wie auch von Ahrar al-Sham.
Später war die Miliz Teil der türkischen Verbündeten, die bei den Militäroperationen "Euphrates Shield" (bei Jarablus) und "Olivenzweig" (in Afrin) mitmachten. Die Verbindung zwischen Faylaq al-Sham und der Türkei sind so offensichtlich wie die Verbindung zwischen Faylaq al-Sham und HTS bzw. ihrer Vorgängerorganisationen, die allesamt al-Golani zum Chef haben, weshalb die ideologische Ausrichtung stets auf Linie blieb.
Deals zwischen der Türkei und Hayat Tahrir al-Sham
Das Bild, wonach die Türkei der "Elefant im Hintergrund" ist, bestätigt sich auch dadurch, dass in den mitgeteilten HTS-Plänen die Rede davon ist, dass die Dschihadisten "eine wichtige Autostraße aufmachen, von dem das Regime ökonomisch profitiert". Zwar, so räumen die Spezialisten vom Long War Journal ein, sei dies eine Information von Mitgliedern der Hurras ad-Din, die im Streit mit HTS liegen, weswegen es sicher auch andere Perspektiven gebe.
Dessen ungeachtet ist aber die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu Deals zwischen der Türkei und HTS gekommen ist. Bislang gab es ja schon Vereinbarungen, die es den türkischen Soldaten überhaupt erlauben, an die Beobachtungsposten in Idlib zu kommen. Interessant ist, wie weit die Deals reichen. Als Ziel der Türkei kursierte im vergangenen Jahr noch die Annahme, dass man die HTS auflösen möchte, so dass sie in den Gruppen aufgeht, die mit der Türkei verbunden sind.
Das wäre eine Möglichkeit, um eine Offensive in Idlib zu vermeiden und eine Überlebensstrategie der HTS. Momentan sieht es nicht danach aus, als ob der al-Qaida-Ableger dies nötig hat. Er hat die anderen Gruppen im Griff und ist so einfach nicht aus Idlib zu vertreiben. Man ist gespannt, was den drei Ländern in Sotschi dazu einfällt.