Syrien: "Der Westen muss mit dem Regime zusammenarbeiten"

Aleppo, im Dezember 2016 mit russischen Soldaten. Bild: Mil.ru / CC BY 4.0

"Warum soll jemand nach Syrien zurückkehren?": Der Landeskenner Nir Rosen plädiert für einen Kurswechsel der westlichen Regierungen

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Sämtliche Pläne, die zu Syrien bekannt werden - mit Ausnahme von russischer Seite - zeichnen sich dadurch aus, dass es um Destruktion und Verhindern eines funktionierenden Staates geht. Es ist kein Plan dabei, der auch nur andeutungsweise eine bessere Zukunft für das Land skizziert. Das ist eine unglaubliche Misere. Vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass in Deutschland knapp 700.000 Syrer leben.

Aus westlichen Ländern, aus den USA, aus Frankreich, Großbritannien oder Deutschland kommt zu Syrien nur das monotheistische Bekenntnis zum allmächtigen Gedanken, dass alles besser wird in Syrien, wenn nur das Regime und sein Chef Baschar al-Assad verschwinden. Ein Wunderglaube. Erst sehr spät, nachdem Millliarden Dollar, Unmengen an Waffen und zigtausende Kämpfer nach Syrien geschleust worden waren, hat man Zeichen gegeben, dass die dschihadistische Alternative keine ist. Profitiert hat das Kriegsgeschäft.

Es gab und gibt keinen anderen politischen Plan als den, mit allen Mitteln die Absetzung von al-Assad und seiner Regierung zu betreiben, ohne irgendein Konzept für eine alternative politische Ordnung, die praktikabel wäre und nicht auf eine Milizenherrschaft hinausläuft.

USA: Gegen gute Beziehungen arabischer Staaten zu Syrien

Jüngste Beispiele für eine Vorgehensweise, die ausschließlich auf Verhinderung besserer Verhältnisse in Syrien ausgerichtet ist, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Sie berichtet unter Berufung auf fünf Quellen - drei aus den Golfstaaten, einem US-Vertreter und einem ranghohen westlichen Diplomaten - von großem Druck, den die USA zusammen mit Saudi-Arabien auf arabische Staaten ausüben, damit diese ihre Beziehungen zu Syrien tunlichst nicht verbessern.

Zeichen dafür gab es. Sie kamen zum Beispiel von den Vereinigten Arabischen Emiraten, die ihre Botschaft in Syrien Ende vergangenen Jahres wiedereröffnet haben und die überdies die politische Arbeitshypothese ausgegeben haben, dass es besser wäre, mit der syrischen Regierung wieder in Beziehung zu treten als das Terrain völlig Iran zu überlassen.

Dass man die letzten Jahre "Null Einfluss" in Damaskus hatte, sei ein Desaster gewesen, heißt es aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen wolle man wieder Kenntnis davon bekommen, was vor Ort passiert. Nur so erlange man wieder Einfluss und überlasse nicht alles Iran. Baschar al-Assad sei die einzige Alternative.

Laut Informationen von Reuters bekamen die Emirate dafür "Flugabwehrfeuer" (Flak) aus den USA. Es gehe darum, dass die Golfstaaten bei den Beziehungen zu Damaskus auf die Bremse steigen, sagt die Quelle aus den USA. Im ganzen Bericht geht es darum, dass die USA zusammen mit der geld- und einflussreichen Regionalmacht Saudi-Arabien - und auch Katar soll angeblich mit von der Partie sein - weitere diplomatische Erfolge der ihnen verhassten syrischen Regierung verhindern.

Auf keinen Fall sollte zugelassen werden, dass Syrien wieder in der Arabischen Liga aufgenommen wird. Auch Ägypten machte mit, um die Wiederaufnahme Syriens hinauszuzögern. Die geschlossenen Botschaften arabischer Staaten sollen geschlossen bleiben.

Damaskus: Mehrstündige Stromausfälle, lange Warteschlangen

Indessen zeigen sich in Syrien die Auswirkungen der westlichen Sanktionen: lange Stromausfälle von bis zu 8 oder gar 12 Stunden auch in Damaskus, stundenlanges Warten auf superteures Öl für Heizungen. 85 Prozent der Haushalte in Damaskus können sich das gar nicht leisten, ist in einem Lagebericht aus der Hauptstadt zu lesen.

Der erste gewohnheitsmäßige Reflex bei solchen düsteren Erfahrungsberichten besteht darin, nach der Quelle zu schauen, ob denn da nicht "Propaganda im Spiel" ist, eine tendenziöse Darstellung. Es gibt Leser, die schreiben, dass sie bei Berichten aus Syrien schon aufhören, wenn sie nur Syrisches Observatorium für Menschenrechte (SOHR) lesen. Für diese Gruppe mag auch der Hinweis, dass die Verfasserin des Erfahrungsberichts mit der Londoner LSE verbunden ist, schon Signal genug sein, um dem Bericht ab sofort keinen Glauben mehr zu schenken.

Aber es geht in der Hauptsache um anderes: um die Brutalität von Sanktionen und um die politischen Angebote, die der Westen der syrischen Regierung macht. Sehr deutlich wird der Standpunkt, der die Propaganda-Sackgasse hinter sich lässt, in einer stark vom Üblichen abweichenden Analyse der Lage in Syrien von Nir Rosen.

"Der Krieg ist nicht vorbei" ist seine Lagebeschreibung überschrieben und sie kann jedem, der sich für Syrien interessiert, zur Lektüre empfohlen werden. Die Analyse ist sachkundig, weitgehend unideologisch und vor allem pragmatisch. Ihr Wirklichkeitsbezug lässt keinen neuralgischen und schmerzhaften Punkt aus. Sie deckt sehr viele Aspekte differenziert ab, weswegen sie sehr ausführlich ausfällt. Sie kurz zusammenzufassen, ist hier nicht möglich.

Hier sollen nur zwei Aspekte angesprochen werden: die Einschätzung von Nir Rosen, wonach Sanktionen Kriegswaffen sind, die indifferent vorgehen wie Bomben und die Zivilbevölkerung mit voller Wucht treffen, und sein Plädoyer für eine Zusammenarbeit.

Auch wenn die politische Führungen etwa in Washington oder in der EU-Zentrale vorgeben, dass damit gezielt nur ausgesuchte Personen des Regimes, Kriegsgewinner und andere Schurken, getroffen werden, treffe es diese Elitefiguren am wenigsten und am schmerzhaftesten die Bevölkerung:

Der gleiche Westen, der gegen die Belagerung durch die syrische Armee protestierte und das menschliche Leid, das dadurch verursacht wurde, verhängt nun einen Belagerungszustand über die syrische Bevölkerung in der Hoffnung, dass deren Leid zu politischen Konzessionen führt. Sie verurteilten das Regime, weil es wahllos bombardierte und nun verhängen sie wahllos wirkende Sanktionen. (…) Die gleichen Länder, die behaupteten, dass sie sich um die syrische Bevölkerung kümmern und in ihrem Namen sprechen, unterstützen Aufständische, die die Regierung stürzen wollten, und nun hungern sie die Bevölkerung aus. Dass sich die syrische Regierung verabscheuungswürdig benommen hat, rechtfertigte nicht die internationale Intervention, die dem folgte, die dann tatsächlich auch die Verbrechen (der syrischen Regierung, Einf.. d. A.) mitverursachte.

Nir Rosen

Bereits bei diesem Zitat wird klar, dass Rosen die Regierung in Damaskus nicht mit Kritik verschont. Er gehört nicht zu den Analysten im "Lagerknast", die aus Parteilichkeit ihre kritische Wahrnehmung beschränken. Was bei ihm zu bemerkenswerten Schlüssen führt, weil er sich bestimmte kraftraubende Propagandaschlachten erspart.

Die syrische Regierung hat die meisten der Verbrechen begangen, von denen der Westen behauptet, dass sie sie begangen hat. Sie hat einen Aufstand bekämpft, den der Westen unterstützt hat und der genauso kriminell vorging. Kein Staat toleriert eine derartige existenzielle Bedrohung.

Nir Rosen

Trotz dieser Verbrechen, für die der Westen durch die Unterstützung der Gegner der Regierung mitverantwortlich sei, müssen die westlichen Länder nun die Regierung in Damaskus unterstützen, weil die syrische Bevölkerung die Hilfe dringend brauche, so Rosen in seinem Vortrag in Moskau beim Waldai-Klub.

Die Flüchtlinge werden nicht zurückkehren. Warum soll jemand nach Syrien zurückkehren? Um Militärdienst abzuleisten, der Sanktionen wegen oder der Armut? Es gibt keine Hoffnung. Der Traum jeder Familie besteht darin, ihre Söhne in andere Länder zu schicken. Die Familien sind abhängig von der Arbeitskraft der Männer, die nun sogar mit 38 Jahren eingezogen werden. Die Regierung und ihre Verbündeten feierten ihren Sieg zu früh und haben niemals eine Vision vorgelegt, wie ein organisierter Friede ausschauen soll.

Nir Rosen

Den letzten Punkt hat die Regierung in Damaskus mit dem Westen gemeinsam … Wer glaubt, dass Nir Rosen, weil er in Moskau spricht, Russlands Rolle in Syrien aus seiner Kritik herausnimmt, hat sich getäuscht. Er zählt beachtliche Unzulänglichkeiten und Mängel auf, die anderswo vor lauter Lust am Etikettieren übersehen werden.

Rosen gehörte übrigens zu den Reportern, die sehr früh, nämlich bereits Ende 2011, sehr detailliert über das Aufkommen der Dschihadisten beim Protest in Syrien berichtete (siehe Wer steuert den bewaffneten Widerstand?). Er war dort, um Kenntnis davon zu bekommen, was vor Ort passiert.