Syrien: Die Milizen als Opfer?
Angriffe auf die von Christen bewohnte Kleinstadt Mhardeh in der Nachbarschaft von Idlib, Orientierungen für Bildungsbürger und die Terroristen-Propaganda
"Das syrische Regime bietet nur eine Option: Unterwerfung oder Tod", kommentierte die Zeit kürzlich die Abmachung zwischen Russland und der Türkei zu Idlib. Erleichterung könne man sich davon nicht versprechen, zumindest nicht, wenn man näher hinschaut, so die Linie des Kommentars.
"In den Gehorsam bomben"
Er geht davon aus, dass sich an der "Entschlossenheit des syrischen Regimes und seiner Waffenbrüder Russland und Iran, auch den letzten großen Rückzugsort von Rebellen im Land wieder in den Gehorsam zu bomben" nichts Wesentliches geändert hat, es dauert nun nur etwas länger. Die Erleichterung in Medienberichten darüber, dass die Offensive auf Idlib abgewendet wurde, wird zwar als "verständlich", aber auch als eher oberflächliche Sichtweise gewertet.
Der Deal habe mehrere große Fragezeichen, die einmal damit zu tun haben, dass Russland, das "maßgeblich an Kriegsverbrechen beteiligt" sei und "so viele diplomatische Scheinmanöver betrieben" habe, nicht zu trauen sei. Der Kommentator hält es für wahrscheinlicher, dass Russland nicht von der "Vernichtungs- und Vertreibungsstrategie an der Seite des syrischen Regimes" ablässt.
Die schnelle Variante dessen, was nun bevorstehen könnte, wäre diese: Die Kämpfer in der Provinz weigern sich, aus der geplanten Pufferzone abzuziehen oder gar ihre Waffen abzugeben; das Vorhaben wäre schon an den ersten Schritten gescheitert - und das syrische Regime wie auch seine Unterstützer könnten die Offensive mit aller Härte aufnehmen. Man habe es ja versucht, hieße es dann wohl, aber die "Terroristen" seien nicht an Frieden interessiert und müssten vernichtet, das Land weiter "befreit" werden. Wir wären wieder am Anfang: "Befreiung" gäbe es nur für jene, die sich Assads Herrschaft bedingungslos unterordnen, alle anderen - das war bislang die Logik dieses Kriegs - sind "Terroristen", die getötet oder vertrieben werden müssen.
Die Zeit
Die Hauptakteure
Nun gibt es tatsächlich viele Fragen, die sich im Zusammenhang mit der russisch-türkischen Vereinbarung zur Deeskalationszone in Idlib stellen (vgl. Idlib: Im Deal mit der Türkei verzichtet Russland auf die militärische Offensive) stellen. Sie haben vorrangig damit zu tun, welchen Einfluss die Türkei auf die Milizen in Idlib ausüben können. Russland oder Syrien nehmen dort momentan nicht die Hauptrolle ein.
Zu den Fragen gehört, was die Mitglieder der Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham machen werden, da sie nicht mit den Regelungen einverstanden sind und entsprechend ihre Waffen nicht abgeben wollen und auch kein Territorium?
Was wird aus den Mitglieder des al-Nusra-Nachfolgers, der ab 15.Oktober aus der entmilitarisierten Zone verschwunden sein soll? Werden sie sich einfach nur andere Kleidung überziehen und türkische Fahnen statt der schwarzen schenken wie bei den Demonstrationen kürzlich in Idlib, wo sie wie die Zeit schreibt, "unbeirrt für Freiheit demonstrieren"?
Genauere Beobachter der Vorgänge - so der US-Syrien-Experte Sam Heller, ein ausgemachter Kritiker der Assad-Regierung - wiesen schon vor den Demonstrationen in Idlib darauf hin, dass die mit PR gut vertraute Führung der Hay'at Tahrir ash-Sham schon im Vorfeld ihre Mitglieder instruierte, dass sie auf ihr Erscheinungsbild, das in die halbe Welt hinaus übertragen wird, achten sollen.
Und die Nuancen?
Der blinde Fleck des Zeit-Kommentars sind die Milizen. Inwiefern diese eine Rolle bei den Bemühungen spielen, ein Blutvergießen in Idlib zu vermeiden, darauf wird in dem Kommentar kaum oder überhaupt nicht eingegangen.
Auf der Theaterbühne, die der Kommentator aufbaut, sind "die Kämpfer" bloße Opfer oder Abhängige der "Schreckensherrschaft des Diktators". In diesem Stück gilt einzig die Macht Assads: "Unterwerft euch oder sterbt als Terroristen - wobei der Gehorsam niemanden vor der Rache des Regimes und seiner Schergen schützen wird." Als ob seine Gegner gar keine Macht hätten.
Sollte man Wert auf einen nuancierten Blick auf das Geschehen in Syrien legen, wie es einem Medium anstehen müsste, das auf Bildung und Differenzierungen so großen Wert legt, wie es die Zeit tut (jede Woche ein neuer Bildungskanon), so müsste man auch andere Signale aus Idlib und Umgebung als das "Ultimatum des Schreckenherrschers al-Assad" vernehmen, nämlich die "Ultimaten der Rebellen-Schreckenherrscher".
Emissäre der syrischen Kleinstadt Mhardeh, in der nächsten Nachbarschaft zu Idlib gelegen, haben es schon vor Jahren versucht, mit den Milizen zu reden, um eine friedliche Einigung zu erzielen, ihrerseits aber nur eine Antwort erhalten, die auf Vernichtung abzielte.
Für Bewohner sind die Milizen Terroristen
Wenn al-Assad und die syrische Regierung die Milizen allesamt als "Terroristen" bezeichnet, so treffe dieses Narrativ auf die Situation in Mhardeh tatsächlich zu. Für Bewohner von Orten wie Mhardeh sei das keine Propaganda, so der amerikanische Counterterrorism-Professor Max Abrahms, der auf einen dieser Tage erschienenen Artikel in Middle East Eye verweist: Syria's Christian city: Seven years under fire at the Idlib frontline.
Wer Middle East Eye als Quelle nicht unbedingt schätzt, die oder der kann sich auch auf christlichen Seiten, hier oder hier, über die "freiheitsliebenden Aktivitäten" der Milizen in der Nachbarschaft von Idlib erkundigen.
Zuletzt, am 9. September, starben neun Personen, darunter fünf Kinder durch Angriffe der Dschihadisten.