Syriens Freiheits-Wut
Die "Tage des Zorns" haben längst auch Syrien erfasst - getragen von einer neuen nicht-ideologischen Generation
Die alawitische Diktatur unterdrückt seit über vier Jahrzehnten eine sunnitische Mehrheitsbevölkerung und spielt dabei die Bürgerkriegskarte: Der Sturz des Regimes gefährde die Sicherheit alawitischer, drusischer oder christlicher Minderheiten. Doch immer weniger junge Syrer schenken dem Gehör.
Diktator Bashar al-Assad überging in seiner gestrigen Ansprache konsequent alle Reformforderungen seines Volkes. Stattdessen fokussierte er die westlichen Verschwörungen gegen Syrien und sprach die Armut und die Dürrekatastrophe an, die das Land seit sechs Jahren heimsucht (ohne dass das Regime bislang dagegen durchgreifende Massnahmen ergriffen hätte). Doch Freiheit? Aufhebung des seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustandes? Oder gar Auflösung von Paragraph 8 der Verfassung, der ein Mehrparteiensystem unterbindet? Wo käme man da hin, scheint des Regimes Antwort zu lauten.
Michel R. schliesst sich dem an. Der syrischstämmige Libanese besitzt in Beirut eine Firma für Kälte- und Klimaanlagen und betreibt seine besten Geschäfte mit Syrien. Dort, in Homs, liegt auch sein Produktionsort, sein Büro den Zweitwohnsitz unterhält er in Damaskus - genauer in Ya’four, einem luxuriösen Vorort voller Gated Communities, ausländischer Botschaften und der demnächst angeblich weltgrössten Shopping Mall. Seinen Jahresumsatz will R. nicht nennen, doch allein der Porsche, mit dem sein 19-jähriger Sprössling vor Beiruts Nachtclubs aufbraust, spricht für sich.
R. ist somit ein typischer Vertreter jener Mittelschicht, die Bashar al-Assad in der vergangenen Dekade aufzubauen wusste. Doch nicht nur deshalb liegt al-Rassy wenig am Sturz des Diktators. „Nennen Sie mir einen, der an seiner Statt das Land regieren soll“, fragt der sonst betont souverän auftretende Graumelierte überraschend aggressiv und winkt auch beim Stichwort „freie Wahlen“ wütend ab. Der Grund: R. ist Christ und sicher, dass dies per se eine menschliche Auszeichnung sei. Muslimen gleich welcher Ausrichtung gegenüber hegt er Verachtung und die tiefe Überzeugung, dass sich die „sunnitischen Hunde“ an allen Nichtsunniten vergehen würden, sobald es mit dem säkularen syrischen Regime vorbei sei.
Ideelle Kluft zwischen Alt und Jung
Auch Rosa H. in Damaskus zuckt angesichts der Vorstellung eines Bürgerkriegs zusammen. Doch nicht, weil sie daran glaubt, sondern „weil dies genau die Karte ist, die die Diktatur seit Jahrzehnten mit uns spielt“, betont die 25-Jährige. Rosa ist Alawitin, was sie jedoch aus zwei Gründen ungerne zur Sprache bringt.
Zum einen, weil dies auch die Konfession Bashar al-Assads und der Mehrheit von Militär und Geheimdienst ist. Wie alle regimekritischen syrischen Alawiten befindet sie sich daher in einer permanenten Rechtfertigungshaltung gegenüber den übrigen Konfessionen und ist umso erleichterter, dass die Protestbewegung vergangene Woche nicht zuletzt von Lattakia ausging, jener Küstenregion, die traditionell von Alawiten besiedelt ist und der auch der Assad-Clan entstammt. „So setzen wie ein Zeichen: auch wir wollen dieses mörderische Regime nicht“, bekräftigt Rosa. Überhaupt könne sie das ganze Konfessionsgerede nicht mehr hören.
Das Regime strickt immer dieselbe Masche. Dem Westen gegenüber behauptet es: Entweder wir oder die Terroristen. Uns gegenüber heisst es: Entweder wir oder Bürgerkrieg.
Die Kluft in der syrischen Gesellschaft scheint tatsächlich vorrangig zwischen diesen beiden Positionen, respektive den beiden Bevölkerungsschichten zu verlaufen, die sie vertreten: eine ältere, meist wohlhabende sowie eine jüngere, gebildete aber arme Generation.
Kurden wollen morgen mit Sunniten protestieren
Zu letzterer aber zählt ein Grossteil jener, die in Damaskus, Homs, Lattakia und in den nordöstlichen, an der Grenze zur heutigen Türkei gelegenen Kurdengebieten Deir Ezzor, Qamischli und Raqqa protestieren. Der 32-jährige Maschaal, wie er hier heißen soll, bestätigt dies. Der Kurde aus Qamischli ist staatenlos – eine abstruse Volkszählung von 1962 bescherte ihm und seiner 80-köpfigen Familie den entwürdigenden Status, obgleich seine Vorfahren nie etwas anderes besiedelt haben als diese, einst zum Osmanischen Reich zählende Region.
„Als das zerbröckelte, die Spannungen zwischen der Türkei und Syrien ausbrachen und die Kurden des Separatismus beschuldigt wurden, hieß es plötzlich, meine Familie stamme von der türkischen Seite und somit seien wir keine Syrer“, zuckt Maschaal die Achseln. Schätzungweise 300.000 Kurden ergeht es so – „also 300.000 weniger Wahlberechtigte in Syriens Norden und Nordosten“, lächelt Maschaal bitter. Morgen, bei den Freitagsprotesten wollen er und seine Freunde abermals auf die Strasse gehen – jedoch nicht als kurdischer Block, sondern demonstrativ unter Sunniten und Christen gemischt.
Nichtideologische „people power“
Al-Rassy beeindrucken die Solidaritätsbeweise der jungen Menschen indes nicht. „Wer den Muslimen auch nur einen Meter weit traut, ist nicht von dieser Welt“, schimpft er und bemerkt nicht, dass Syriens Realität zu 90 Prozent aus unter 35-Jährigen besteht. Mehrheitlich haben diese weder Positionen, noch Privilegien, noch – und dies ist das wohl Verblüffendste an allen arabischen Volksaufständen - Ideologien zu verteidigen.
Erstmals in der Geschichte der Region ist weder von Nationalismus, Sozialismus oder Islamismus die Rede, sondern schlicht und ergreifend von Menschenrechten. Dies manifestierte sich auch in der südsyrischen Stadt Daraa, dem eigentlichen Ausgangsherd der Proteste. Auslöser war dort zunächst die Verhaftung von 15 Minderjährigen, die Freiheitsslogans an die Wände sprühten. Die massive Gegenwehr der Angehörigen wurde rasch mit ihrem Stammesdenken erklärt, das auch durchaus besteht. Zugleich ändert dies nichts an einem, momentan unverkennbar dominierenden gemeinsamen Nenner. Denn - die Sprüche, die Daraas Demonstranten skandieren, könnten aus jedem syrischen Protestort erklingen:
Wir wollen weder Brot noch Mehl, wir wollen die Freiheit.