Systemische Stellschrauben neu justieren

Über die Coronapandemie, unsere Freiheit und eine notwendige neue Politik der Nähe (Teil 2 und Schluss)

Doch während die Rettung Verhungernder kein Geschäftsmodell darstellt, bot die Pandemie für Big Tech und Big Pharma eine äußerst lukrative Gelegenheit, um in Kooperation mit Staaten und internationalen Institutionen den Ausbau (biopolitischer) digitaler Kontrollregime zu forcieren.

Von der politischen Linken wurde dies erstaunlicherweise entweder gar nicht oder kaum thematisiert und kritisiert. Der einzige wenigstens halbwegs öffentlich debattierte Kritikpunkt war einer der wiederum offensichtlichsten und eklatantesten Widersprüche, der als solcher aber ebenfalls nicht klar benannt wurde.

Würde es den politischen Eliten wirklich zuvorderst um den Schutz von Menschenleben gehen, hätten nicht nur ein Ausbau statt Abbau von Krankenhauskapazitäten sowie ganzheitliche Maßnahmen zur Prävention und Therapie von Covid-19 (nicht Sars-Cov-2!) und zur Minderung von Angst, Armut und Stress veranlasst werden müssen, sondern der eigenen Logik folgend, dass Lockdowns und Impfungen die alleinige "Lösung des Problems" sind, wäre es das Mindeste gewesen, dafür zu sorgen, dass die Patente der Impfstoffe freigegeben werden. Stattdessen wurden mit den Herstellern Geheimverträge geschlossen, die für die Konzerne riesige Gewinnmargen und die Befreiung von jeglicher Haftung beinhalten.1

Drittens haben wir es mit einem strukturellen Problem der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu tun, das weit über Corona hinausreicht und die doppelte Unverhältnismäßigkeit der (vorgeblich) gegen Corona getroffenen Maßnahmen ebenfalls erklärt. Dieses besteht in der temporalen wie lokalen Trennung und dadurch existierenden Entfremdung von den Produktionsverhältnissen und ihren negativen Folgen im Rahmen der globalen Arbeitsteilung.

Diese bleiben für uns größtenteils fern und abstrakt: Fern ist das Leid der Millionen Nutztiere, die täglich gefoltert und geschlachtet werden, fern sind die für das Tierfutter abgeholzten Tropenwälder, das emittierte CO2, Methan und Lachgas, die die Atmosphäre erwärmen und die Nitrateinträge, die Böden und Trinkwasser vergiften.

Fern sind das große Artensterben, die schmelzenden Gletscher, Polarkappen und auftauenden Permafrostböden, die Übersäuerung der Ozeane, Degradierung von Böden, das Plastik in Gewässern, Böden, Organismen und der Luft, die Müllkippen in Kairo, der Elektroschrott in Accra, das Leid der Vertriebenen in Indonesien, der Verhungernden im Jemen, der Minenarbeiter im Kongo, der Verzweifelten auf Moria, der Gefolterten in Libyen und derer, die an den Folgen von Luftverschmutzung, Unterernährung und verunreinigtem Trinkwasser sterben.

Und ebenso fern ist das Leid, das dereinst unsere Kinder und Kindeskinder infolge der Zerstörung der Biosphäre und Erwärmung der Atmosphäre erleiden werden – und ebenfalls scheinbar fern waren und sind die durch die Corona-Politik erzeugten Krankheiten und Tode und die Verschärfung von sozialer Ungleichheit. Auch sie blieben im "Bann der pandemischen Gegenwart"2 eine (vermeintlich) ferne und abstrakte Zukunft und fielen und fallen bei der Abwägung (deshalb) bislang kaum ins Gewicht.

Wären wir hingegen den miteinander zusammenhängenden, sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Gegebenheiten und Konsequenzen der Produktionsprozesse der Dinge und Dienstleistungen, die wir täglich kaufen und in Anspruch nehmen, durch die temporale wie lokale Trennung nicht völlig entfremdet und wären dadurch für uns die kollektiven Bedingungen und Folgen unseres individuellen Handelns fühlbar und erfahrbar, würden wir uns ob ihrer Produktionsbedingungen und negativen Konsequenzen entrüsten und für Veränderung eintreten.

Und darum war im Falle von Corona die Bereitschaft, radikale Einschränkungen individueller Freiheit zu akzeptieren, auch so groß: Obwohl das Virus unsichtbar ist, war die Bedrohung dennoch nicht abstrakt und fern, sondern potentiell stets ganz nah und betraf und betrifft unmittelbar den eigenen Körper.

Damit kommen wir zum vierten Grund für den polit-medialen Konsens zur scheinbaren Alternativlosigkeit und Richtigkeit der Corona-Lockdown-Politik sowie für die (in den Leitmedien) fehlende Kritik an ihrer doppelten Unverhältnismäßigkeit. Denn grundsätzlich wie auch im Falle von Corona ist entscheidend, über welche Geschehnisse und welche ihrer Zusammenhänge, Auswirkungen und Gründe in den Leitmedien wie und in welchem Maße gesprochen und berichtet wird oder nicht.

Bezüglich Corona wurde dabei vergleichbar zur Berichterstattung infolge der Anschläge vom 11. September 2001 eine massiv verzerrte Risikowahrnehmung erzeugt. Plakativ gesagt: Die Leitmedien schufen ein Bedrohungsgefühl, als handle es sich bei Sars-CoV-2 um Ebola oder die Pest.

Würde in demselben Ausmaß und mit der gleichen Dramatisierung und Aufsummierung von Todeszahlen täglich auf Titelseiten, in Sondersendungen und Talkshows über die in Kriegen und Konflikten Ermordeten, über Verhungernde oder die Auswirkungen der Zerstörung der Biosphäre berichtet und diskutiert, würde dies einen enormen Handlungsdruck auf die Politik erzeugen.