Taut der "eingefrorene" Konflikt um Berg-Karabach auf?
Der jüngste militärische Schlagabtausch zwischen Aserbaidschan und Armenien könnte zu einem offenen Krieg im Südkaukasus zu eskalieren
Droht einer der ältesten, "eingefrorenen Konflikte" im postsowjetischen Raum aufzutauen und in einen heißen Krieg zu umzuschlagen? Seit Sonntag toben heftige Gefechte in der nördlichen Grenzregion zwischen den verfeindeten Ländern, in deren Verlauf bislang mindestens 16 Menschen ums Leben kamen. Im Verlauf der Kämpfe, die mit Artillerieschuss und Drohnenangriffen einhergingen, wurden elf aserbaidschanische Militärangehörige - darunter ein General - und vier armenische Soldaten getötet.
Der blutige und langwierige Bürgerkrieg zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken, der um die vorwiegend von Armeniern besiedelte Region Nagorny Karabach geführt wurde, gilt als einer der wichtigsten internen Krisenherde, die den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigten. Im Verlauf des von 1988 bis 1994 tobenden Krieges - dessen Beginn Massaker an der armenischen Minderheit in Aserbaidschan markierten - gelang es Armenien, die ehemalige autonome Region in der zerfallenen Sowjetrepublik trotz etlicher aserbaidschanischer Offensiven zu halten.
Aserbaidschan betrachtet die nach dem Waffenstillstand in Nagorny Karabach ausgerufene, international nicht anerkannte Republik Arzach als Teil des eigenen Staatsterritoriums. Die Wiedereroberung dieses armenisch besiedelten Gebiets gilt folglich als zentrales strategisches Ziel aserbaidschanischer Politik. Immer wieder kommt es in der Grenzregion zu Zusammenstößen, die auch die Gefahr der Eskalation - wie zuletzt 2016 - mit sich bringen.
In der Eskalationsspirale
Die aktuelle Eskalationsspirale in der geopolitischen Schlüsselregion dreht sich indes weiter. Eine kurze Waffenruhe nach dem Schlagabtausch am vergangenen Wochenende wurde am Donnerstag durch Artilleriefeuer abermals gebrochen. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, den nach internationalen Appellen ausgerufenen Waffenstillstand gebrochen zu haben.
Im Fokus der Kämpfe steht diesmal nicht direkt Nagorny Karabach, sondern die nordarmenische Provinz Tawusch, wo die Grenzstadt Berg nach armenischen Angaben am 12. Juli von aserbaidschanischen Drohnen und Artilleriefeuer angegriffen wurde. Aserbaidschan wiederum berichtete von armenischen Angriffen auf Dörfer in seiner nördlichen Grenzregion.
Die hohen Verluste der aserbaidschanischen Streitkräfte bei den jüngsten Zusammenstößen führten zu wütenden nationalistischen Ausschreitungen in Baku, bei denen ein aufgehetzter Mob einen neuen Krieg gegen Armenien forderte und das Parlament stürmte. Die Polizeikräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Menge zu zerstreuen, mehrere Personen wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft in Baku hat Ermittlungen gegen Teilnehmer an den Ausschreitungen angekündigt. Das aserbaidschanische Regime um Machthaber Ilham Alijew - angesichts ausartender Korruption und der Folgen von Wirtschaftskrise und Pandemie ohnehin verstärkt in der Kritik - gerät somit seitens nationalistischer Kräfte zunehmend unter Handlungsdruck.
Angriffe auf Atomkraftwerk?
Die rhetorische Eskalationsspirale, die mit dem wechselseitigen Artilleriebeschuss und den Drohnenangriffen in den nördlichen Grenzgebieten beider Länder einhergeht, wurde indes von einem Sprecher des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums am Mittwoch weitergetrieben, indem er androhte, in Reaktion auf eventuelle armenische Luftschläge gegen strategische Ziele in Aserbaidschan das einzige Atomkraftwert in Armenien anzugreifen, das sich rund 30 Kilometer westlich der Hauptstadt Jerewan befindet. Armenien solle nicht vergessen, dass "Aserbaidschans modernste Raketensysteme" das Atomkraftwerk mit "hoher Genauigkeit" treffen könnten. Dies würde zu einer "großen Katastrophe für Armenien" führen, hieß es seitens des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums.
Zugleich hat der aserbaidschanische Staatschef Alijew in Reaktion auf die Eskalation der vergangenen Tage seinen Außenminister entlassen. Dem Topdiplomaten des rohstoffreichen südkaukasischen Landes sind seine vorsichtigen Deeskalations- und Annäherungsversuche der vergangenen Monate zum Verhängnis geworden. Im aserbaidschanischen Außenministerium wurde diskutiert, offiziell Vertretern der Weltgesundheitsorganisation WHO den Zugang zu Nagorny Karabach zu erlauben, um die Folgen der Corona-Pandemie in der Region besser einzudämmen.
Alijew kritisierte hingegen in den letzten Tagen diese von Aserbaidschan geführten Verhandlungen mit Armenien als "bedeutungslos", während drei Mitarbeiter des Außenministeriums unter Korruptionsverdacht verhaftet wurden. Baku werde keine Verhandlungen über eine koordinierte Pandemiebekämpfung führen, so der aserbaidschanische Staatschef, da es sich bei Armenien um ein "feindliches Land" handele, mit dem man sich "im Kriegszustand" befinde. Diese Ideen seien "absurd", so Alijew.
Scharfmacher in Ankara
Unterstützung erfährt Baku seitens des islamistischen Regimes in Ankara, das sich als Scharfmacher in diesem eingefrorenen Konflikt betätigt. Aserbaidschan gilt in der Staatsideologie der Türkei als ein islamisches und turkmenisches Brudervolk, das als strategischer Verbündeter im Rahmen des dem von Erdogan angestrebten Aufbaus eines neo-osmanischen Großreich betrachtet wird. Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu sprach öffentlich am 13. Juni einseitig von "Angriffen Armeniens auf Aserbaidschan" und erklärte, dass die Türkei mit "allem, was sie hat", an der Seite Bakus stehe.
Das christliche Armenien wird von Ankara seit seiner Unabhängigkeit als ein strategischer Feind betrachtet. Neben der religiös grundierten Feindschaft seitens des islamistischen Regimes um Erdogan, ist es der von der Türkei weiterhin geleugnete, türkische Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, der diese geopolitische Frontstellung zementiert.
Die nationale Staatsgründung der Türkei samt ihrem immer wieder erhobenen und in blutigen Massakern aufrechterhaltenen Anspruch auf ethnische und religiöse Homogenität erfolgte faktisch auf Grundlage dieses Völkermordes, da die Armenier in vielen Regionen, die nun Teil der östlichen Türkei sind, zuvor die Bevölkerungsmehrheit stellten.
Kreml ruft zur Deeskalation auf
Im Kontrast zu Ankara, das sich auch in Libyen, Syrien, dem nördlichen Irak und dem östlichen Mittelmeer auf Expansions- und Konfrontationskurs befindet, rief der Kreml angesichts der anhaltenden Kämpfe umgehend zur Deeskalation auf. Man sei "tief besorgt" über den "Feuerwechsel an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze", erklärte ein Kremlsprecher, der beide Seiten zur "Zurückhaltung" aufrief.
Dabei gilt Russland als der wichtigste geopolitische Verbündete Armeniens, das sich ohne nennenswerte heimische Energieträger und ohne Seezugang in einer ungemein schweren geopolitischen Lage zwischen feindlichen Mächten befindet. Russland unterhält zwei Militärbasen in Armenien, um so etwaige Expansionsbestrebungen der Nato im Kaukasus zu behindern, während Armenien die russische Militärpräsenz als einen zuverlässigen Schutz vor türkischen Angriffen ansieht. Zudem kontrolliert Russland den Energiesektor in Armenien, das nahezu ausschließlich russische Waffen einkauft.
Schließlich ist Jerewan auch Mitglied in den eurasischen Wirtschafts- und Militärbündnissen, die Moskau als Gegengewicht zum Westen aufzubauen bemüht ist: sowohl in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, wie auch im eurasischen Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Im Fall einer ernsthaften Eskalation würde somit auch eine direkte Konfrontation zwischen der Türkei und Russland drohen. Bislang hat Armenien am 17. Juli nur erklärt, die OVKS bei einem Treffen in Minsk nur über die Lage an der Grenze unterrichtet zu haben, ohne einen Antrag um militärischen Beistand zu stellen. Die OVKS wird von Moskau als ein Gegenstück zur NATO verstanden.
Moskau und Ankara befinden sich schon in Stellvertreterkriegen in Syrien und Libyen, sodass ein Auftauen des Konflikts in Armenien und Aserbaidschan eine weitere Front in dem geopolitischen Machtkampf zwischen beiden Mächten in der Region eröffnen würde - zumal die Kämpfe nahe der Südkaukasus-Pipeline ausgebrochen sind, mit der aserbaidschanisches Erdgas in die Türkei befördert wird, um deren Abhängigkeit von russischen Energieträgern zu reduzieren.
Militärisches Übergewicht Aserbaidschans?
Der warme Devisenregen, der in den vergangenen Dekaden über dem rohstoffreichen Aserbaidschan niederging, könnte aber auch Baku dazu verleiten, die militärische Entscheidung in Nagorny-Karabach ganz in Eigenregie zu suchen. Aufgrund der enormen Einnahmen aus dem Geschäft mit Energieträgern konnte Baku ein gigantisches Übergewicht bei den Militärausgaben gegenüber Jerewan aufrechterhalten. Aserbaidschan gab zwischen 2009 und 2018 rund sechsmal so viele Devisen für hochmoderne Waffensysteme aus wie das verarmte Armenien, das nur in Russland Waffen einkaufen kann.
Das aktuelle Militärbudget Aserbaidschans ist mehr als fünfmal so hoch wie dasjenige Armeniens. Es besteht inzwischen ein mitunter enormes materielles Übergewicht der aserbaidschanischen Streitkräfte in allen Waffengattungen: von Panzern über Artillerie und Raketensystemen bis hin zu Flugzeugen und Hubschraubern. Zudem hat Aserbaidschan teilweise in kostspielige Hightech-Systeme investiert, etwa im Umfang von knapp fünf Milliarden US-Dollar in Israel, so dass die militärische Ausrüstung, die Baku zur Verfügung steht, mitunter qualitativ besser ist als das Material der armenischen Armee.
In Baku könnte die jüngste Verachtung diplomatischer Schritte somit von einem zunehmenden militärischen Kalkül motiviert sein, wonach das beständig zunehmende militärische Übergewicht des Landes endlich in die Praxis umgesetzt werden solle, um mit nackter Gewalt Fakten zu schaffen.
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