Teil 2: Chinas Uiguren – wie umgehen mit Terror?
Eine blutige Anschlagsserie, die Rolle der "Islamischen Partei Turkestans" und geopolitische Interessen westlicher Staaten.
Im ersten Teil dieses Artikels wurde untersucht, welche Anhaltspunkte zwei sogenannte Leaks aus der westchinesischen Provinz Xinjiang für schwere Menschenrechtsverletzungen Pekings gegen ethnische Uiguren tatsächlich liefern.
Nun soll gefragt werden, wie es so weit kommen konnte, dass chinesische Behörden meinen, auf offensichtlich sehr weitreichenden Maßnahmen in Xinjiang zurückgreifen zu müssen? Und welche Bedingungen erfüllt eigentlich der Westen, damit Terrorbekämpfung möglich wird, ohne die Menschenrechte völlig über Bord werfen zu müssen?
Der Terror ist real: Timeline Xinjiang
Die nun folgende Aufzählung ist bestimmt nicht vollständig. Sie ist jedoch geeignet einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Rolle Terror in Xinjiang in den letzten 15 Jahren gespielt hat:
- Im März 2008 versuchte eine 19 Jahre junge Uigurin laut einem Bericht der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs, nach Peking in die Luft zu sprengen.
- Im August des gleichen Jahres wurden in Kashgar 16 Polizisten getötet und weitere 16 verletzt als zwei Uiguren mit einem Jeep in eine Gruppe joggender bewaffneter Polizisten fuhren.
- Einen historisch bedeutsamen Höhepunkt erreichte der Terror in Xinjiang im Juli 2009 mit einem regelrechten Progrom in Urumqi. Den Urumqui-Riots fielen 197 Menschen zum Opfer – vor allem solche, die als ethnische Han-Chines:innen und/oder als nicht-muslimisch erkennbar waren. Zudem gab es über 1.700 Verletzte.
- Am 19. August 2010 wurde in der Stadt Aksu (ebenfalls Provinz Xinjiang) ein Bombenanschlag verübt, bei dem sieben Menschen starben und 14 verletzt wurden. Auch dieser Vorfall hat es in die englischsprachige Wikipedia geschafft.
- 2013 fuhren drei Uiguren mit einem Jeep in eine Gruppe von Fußgängern am Tor zum Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Fünf Menschen starben – darunter auch die Angreifer.
- Auch das Jahr 2014 war extrem unruhig; Am 1. März warnt die britische Daily Mail ihre Leser:innen vor "erschreckenden Bildern" weil etwa zehn mit Messern bewaffnete Männer und Frauen mindestens 33 Menschen am Bahnhof von Kunming ermordet und weitere 143 verletzt haben.
- Diese Anschläge fanden nicht isoliert statt: Die Islamische Partei Turkestans signalisierte im gleichen Jahr ihre Unterstützung für die Ermordung unbeteiligter Zivilist:innen in Westchina.
- Am 22. Mai wartete Fox News mit der Schlagzeile auf, dass auf einem Markt in Urumqui "mindestens 31 Menschen getötet und 90 weitere verletzt wurden".
- 28. Juli: Bei Unruhen in der Stadt Sache sterben erneut 96 Menschen. Chinesische Behörden sprechen von 37 zivilen Opfern und 59 Angreifern, die von der Polizei erschossen wurden. Uigurische Menschenrechtsgruppen im Ausland kritisieren den Vorfall als Massaker.
- Am 22 September 2015 meldet Radio Free Asia "40 Tote und Verletzte im Zuge einer Messerattacke bei einem Kohlebergwerk in Xinjiang".
- Im Dezember 2016 meldete die Regierung von Xinjiang einen Anschlag auf das Büro der Kommunistischen Partei Chinas im Kreis Karakax, der außer den Angreifern allerdings keine Opfer forderte.
- Am 15. Februar 2017 erschoss die Polizei in Xinjiang drei Angreifer, die zuvor acht Menschen mit Messern ermordet und weitere zehn verletzt hatten.
Wer sich daran erinnert, wie überzeugt wir alle 2015 wochenlang "Charlie" waren, braucht nur wenig Fantasie, um zu ermessen, wie schwierig es für eine Gesellschaft ist, angemessen auf solchen Terror zu reagieren.
Die Aufgabe, Terror erfolgreich zu bekämpfen und dabei die Menschenrechte zu wahren wird umso komplizierter, als Terrorist:innen nur allzu oft von der interessierten jeweils gegnerischen Seite unterstützt werden.
Geopolitische Interessen
Dass Xinjiang Spielball geopolitischer Interessen ist und im Westen interessierte Kreise mit den unlauteren Methoden klassischer Propaganda arbeiten, darf nicht zu dem Umkehrschluss führen, dass es keine Umerziehungslager in Xinjiang gibt.
Dennoch ist davon auszugehen, dass die Unruheprovinz Teil der Konflikte bleiben wird, die der Westen Peking gerne ans Bein binden würde. Auch zu diesem Themenkomplex ist schon einmal ein gut informierter Bericht in Telepolis erschienen. Hongkong und aktuell vor allem die Provinz Taiwan sind weitere Beispiele.
Uigurische Organisationen genießen im Westen nach wie vor erhebliche Unterstützung – auch und gerade in Deutschland. In München ist das Hauptbüro des "Weltkongresses der Uiguren" beheimatet; Ableger gibt es noch in Berlin und London.
Die Gruppe ist eng mit VOC verbunden und strebt ein unabhängiges "Ost-Turkestan" an. Von den chinesischen Behörden wird der uigurische "Weltkongress" daher als Terrororganisationen eingestuft.
Trotz der Aktivitäten der Exil-Uiguren ist mittlerweile zumindest der Vorwurf des "Völkermordes" aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Der wäre auch völlig haltlos angesichts der gegenteiligen Minderheitenpolitik Pekings: Zwischen 1964 und 2020 verdreifachte sich die ethnisch-uigurische Bevölkerung in China.
Das war nur möglich, weil sie – wie alle ethnischen Minderheiten im Reich der Mitte – nicht der Ein-Kind-Politik unterworfen wurde. Die Gesamtbevölkerung Chinas verdoppelte sich im gleichen Zeitraum bloß.
Die Uiguren müssen – wie alle in China lebenden Minderheiten – Mandarin lernen, dürfen aber ihre lokalen Sprachen weiter benutzen. Mehr noch: Sie dürfen Verwaltungsangelegenheiten und Gerichtsprozesse in ihren Sprachen abwickeln und genießen regionale Teilautonomie. Das sind Grundfreiheiten, die etwa die baltischen Republiken oder die Ukraine ihren russischsprachigen Bürger:innen nicht gewähren.
Der Westen schneidet gar nicht so gut ab
Und auch in anderen Menschenrechtsfragen schneiden westliche Länder im Vergleich zu China keineswegs so gut ab, wie immer suggeriert wird. Jahrelange Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren? Guantanamo macht's möglich, denn die extraterritoriale Inhaftierung der Betroffenen entbindet die USA formaljuristisch von den rechtsstaatlich absolut gebotenen (fairen) Gerichtsverhandlungen. Und der Rassismus in der US-Judikative und Exekutive sowie das Zwangsarbeitssystem im US-Strafvollzug oder das Trauerspiel um Julian Assange sollen hier nur der Solidarität willen und der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
Und wenn man gar nicht mehr weiter weiß, kann man vermeintliche oder tatsächliche Terrorist:innen auch einfach ermorden und das dann "Gerechtigkeit" nennen. An der Legitimität solcher Drohneneinsätze äußert übrigens sogar die Tagesschau vorsichtige Zweifel.
Solche Morde an vermeintlichen oder tatsächlichen Terrorist:innen durch ausländische Agent:innen geschehen auch in Deutschland. Ein solcher Vorfall war der Tiergartenmord, der die Behörden und die deutsche Öffentlichkeit zu Recht aufgebracht und zu einem harten Urteil für den Täter geführt hat.
Dieser Vorfall zeigt, dass es auch den westlich orientierten Industrienationen es gut zu Gesicht stehen würde, Menschenrechtsfragen gewissenhaft zu bearbeiten. Aktivist:innen dürfen nicht für eigene (geo)politische und wirtschaftliche Zielsetzungen instrumentalisiert oder gar militärisch ausgebildet werden.
Zudem ist es höchste Zeit, Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, um Unruhen zu provozieren, sie zu destabilisieren oder gar ihre Regierungen zu stürzen, endgültig aus dem Repertoire des außenpolitischen Instrumentenkastens zu verbannen.