Teil 1: Chinas Uiguren – wie umgehen mit Terror?

In China sollen aufgrund einer Rasterfahndung mittels Algorithmen mehr als 15.000 Menschen in Umerziehungslager gesperrt worden sein. Nach einer dschihadistischen Anschlagsserie waren muslimische Uiguren ins Visier der Behörden geraten.

Massenverhaftungen und wochen-, monate- oder gar jahrelange Inhaftierungen ohne ein faires Gerichtsverfahren sind inakzeptabel. Deshalb gilt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu Recht den Vorgängen um die ethnisch-religiöse Minderheit der moslemischen Uiguren in Xinjiang, der westlichsten Provinz Chinas.

Seit langem stehen Vorwürfe gegen die Regierung in Peking im Raum, uigurische Mitbürger:innen zu Hunderttausenden zwischen drei und zwölf Monaten in Lagern zu inhaftieren und "umzuerziehen". Sogar von Zwangsarbeit und Völkermord ist die Rede.

Schwerwiegende Verdachtsmomente

Einige Anhaltspunkte für weitreichende Umerziehungsmaßnahmen in Xinjiang wiegen schwer. Durch einen angeblichen Leak erhielt das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) 2019 Zugriff auf sechs Dokumente der chinesischen Behörden, die auf teilweise schwere Menschenrechtsverletzungen deuten, wenn sie echt sind.

Eines der Dokumente weist darauf hin, dass im Verlauf von einer Woche "15.683 Einwohner:innen Xinjiangs aufgrund einer von Algorithmen unterstützten Rasterfahndung inhaftiert und in Lager gesperrt wurden". Drei Dokumente betreffen denn auch die Erhebung und Verwendung von Daten, die im Zuge der (Massen)Überwachung von Uigur:innen anfallen. Ein weiteres Papier ist eine Art Durchführungsverordnung für den Umgang mit Inhaftierten. Schließlich bezieht sich die ICIJ noch auf ein – nicht geheimes – Gerichtsurteil; ein Einzelfall.

Schönheitsfehler

Leider ist die Sprache der ICIJ keineswegs als neutral zu bezeichnen. So werden etwa die Botschaften und ständigen Vertretungen der Volksrepublik pauschal als "globales Schleppnetz" (global dragnet) diskreditiert. Zudem fiel die Veröffentlichung dieses Leaks in die erste heiße Phase des vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump angezettelten Handelskrieges gegen China.

Dass dies höchstwahrscheinlich kein Zufall gewesen ist, zeigt ein Blick in die Liste der Unterstützerorganisationen des ICIJ. Denn die Kolleg:innen werden unter anderem vom National Endowment for Democracy (NED) und der Open Society Foundation finanziert.

Das NED ist 1983 gegründet worden, um politische Aufgaben zu übernehmen, an denen sich bis dahin die CIA vergeblich versucht und dabei viel Staub aufgewirbelt hatte. 2009 verfügte das NED über ein Budget von 135 Millionen US-Dollar.

Die Open Society Foundation des Multimilliardärs George Soros hat allein 2019 über 740 Mio. US-Dollar ausgegeben und gilt dabei als notorisch intransparent und die Komplexität ihrer Projekte als enorm. George Soros tritt in chinesischen Angelegenheiten als Falke auf und warnt bis heute bei jeder Gelegenheit vor dem Reich der Mitte.

Während die Informationen aus dem ICIJ Projekt letztlich einen Leak als durchaus möglich erscheinen lassen und die Kolleg:innen wahrscheinlich in gutem Glauben recherchiert und getextet haben, kann man das für einen aktuelleren "Leak", die Xinjiang Police Files, nicht behaupten.

Die Xinjiang Police Files

Die aufwendig gemachte Website dieser Datensammlung ist in Design und Wortwahl dramatisierend angelegt – die angebotenen Inhalte lösen diesen Anspruch jedoch nicht ein. Die in der Rubrik "Schlüsseldokumente" abgelegten Papiere sind nicht aktuell, keines von ihnen ist als geheim klassifiziert, und teils werden öffentlich gehaltene Reden präsentiert. Für so etwas braucht es kein Leak.

Die Fotos von der chinesischen Polizei stammen sämtlich von Übungen und brauchten deshalb wohl ebenfalls nicht geleakt zu werden. Und derartige Fotos können nur Menschen als schockierend empfinden, die noch nie einem deutschen Sondereinsatzkommando der Polizei bei einem Einsatz zugesehen haben oder gar selbst deren Opfer geworden sind.

Auch die 2.800 vorgelegten Bilder von angeblich Verhafteten sind erkennbar keine Fotos, die aus einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch chinesische Behörden stammen. Dann wären sie nämlich nicht willkürlich geknipst worden, sondern standardisiert und selbstverständlich biometrisch ausgerichtet.

Unklar ist außerdem, wo sich die abgelichteten, namentlich genannten Menschen heute aufhalten. Wenn ihre Sicherheit in Xinjiang tatsächlich so fundamental gefährdet ist, wie die Website suggeriert, würden die Fotos diese Menschen zusätzlich gefährden. Denn zu glauben, dass die chinesischen Behörden derartiges, im Westen verbreitetes Material ignorieren, wäre bestenfalls naiv.

Schließlich enthält die Website eine große Zahl von Fotos, auf denen Kleidungsstücke und religiöse Devotionalien abgebildet sind. Angeblich sollen diese durch die chinesische Polizei beschlagnahmt worden sein. Als Quellen genauso problematisch sind Zeugenaussagen und "Forschungsberichte".

Dass das in den "Xinjiang Police Files" dargebotene Material deutliche Schwächen aufweist, ignorierte der Mainstream geflissentlich. So schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung:

Da findet sich eine Anweisung, Ausbrecher zu erschießen ebenso wie bislang unbekannte Reden der Provinzführer, interne Schulungsunterlagen und Listen von Internierten. Dazu mehrere Tausend eindrückliche Polizeifotos von Inhaftierten, aber auch Bilder aus den Lagern selbst, Schnappschüsse von schwerbewaffnetem Personal, von Wärtern mit Schlagstöcken, die auf dem Boden kniende Gefangene umringen.

Dass es sich um Fotos von Übungen handelt, wird frech unterschlagen. Zudem werden Aussagen der Macher benutzt, um sie auf die gesamte uigurische Bevölkerung der Provinz hochzurechnen.

Und wer sind die Macher? Die "Xinjiang Police Files" sind ein Produkt der Victims of Communism Memorial Foundation (VOC) und die Daten wurden Adrian Zenz angeblich zugespielt. Zenz ist Mitglied der VOC und wird der westlichen Öffentlichkeit seit Jahren als China-Experte präsentiert. In einem lesenswerten Portrait der Nachdenkseiten über ihn und seine Arbeit heißt es jedoch:

Adrian Zenz war nach eigenen Angaben ein einziges Mal in der Provinz Xinjiang – 2007 als Tourist. Für seine Studien hat er frei zugängliche Internetquellen […] durchforstet und auf dieser Basis dann Schätzungen über den Umfang der in chinesischen Umerziehungslagern Internierten aufgestellt. Gegenüber der FAZ beschreibt er diese Schätzungen selbst als "spekulativ".

Gegründet wurde die VOC 1994 von strammen Antikommunisten unter ihnen auch Zbigniew Brzezinski. Finanziert von rechten Thinktanks und anonymen Spenden üben sich die Protagonist:innen der VOC in Geschichtsklitterung, kombinieren dies mit radikalem Neoliberalismus und ziehen mit hysterischer Propaganda gegen alles zu Felde, was ihrer Meinung nach "links" ist.

Viele der hier zusammengestellten Fakten waren übrigens bereits 2019 schon einmal in Telepolis nachzulesen. Vor allem aber enthielt der Beitrag den wertvollen Hinweis, dass Chen Xu, der chinesische Botschafter bei den Vereinten Nationen seinerzeit Michelle Bachelet, Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UN, nach China eingeladen hatte. Bachelet solle doch nach Xinjiang kommen und sich selber ein Bild machen.

Dieses Puzzlestück ist bedeutend, denn es lässt vermuten, dass die "Xinjiang Police Files" gezielt und pünktlich kurz vor Beginn der Chinareise der UN-Menschenrechtskommissarin veröffentlicht und im westlichen Mainstream groß aufgezogen wurden. Zenz und VOC hatten demnach weit über ein Jahr Vorbereitungszeit, um die Reise Bachelets politisch zu hintertreiben.

Das rechte Sperrfeuer wirkt

Und das rechte Sperrfeuer wirkte. Bei der Nachbereitung ihrer Reise wirkte Bachelet eingeschüchtert. Ihr Resümee nach dem Besuch ist eine Art Arbeitsbericht, in dem sie betont, dass die Reise keine Untersuchung der Umstände vor Ort einschloss, sondern vor allem eine Chance bot, "mit chinesischen Partnern über Menschenrechte zu diskutieren". Dabei habe sie auch auf die menschenrechtlichen Probleme bei der Terrorbekämpfung in Xinjiang hingewiesen.

Bachelet betonte in ihrer Erklärung lieber die Bedeutung wirtschaftlicher Menschenrechte (z.B. erfolgreiche Armutsbekämpfung) und wies auf weitere Bereiche hin, wo China Fortschritte beim Menschenrechtsschutz erzielt hat – etwa bei den Frauenrechten.

Bachelet verzichtet zudem auf eine zweite Amtszeit als Hohe Menschenrechtskommissarin bei den Vereinten Nationen, und sie hat es bisher nicht gewagt, einen Abschlussbericht über ihre Reise vorzulegen.

Doch nicht nur Michelle Bachelet zeigte sich beeindruckbar. Auch breite Bevölkerungsschichten in westlichen Industrienation sind China mittlerweile feindlich gesonnen. In den USA gehört es schon längst zum guten Ton, das Reich der Mitte für die Wurzel fast allen Übels zu halten. Antichinesische Ressentiments sind dort so weit verbreitet, dass es sogar einen Wikipedia-Eintrag zu dem Problem gibt.

Laut Meinungsumfragen befürworten 70 Prozent der US-Amerikaner:innen "die Förderung von Menschenrechten in China, selbst wenn es den Wirtschaftsbeziehungen schadet". Während des letzten US-Präsidentschaftswahlkampfes hat denn auch ein regelrechter Wettbewerb darum stattgefunden, welcher der Kandidaten härter gegen China auftritt.

In Deutschland ist das Meinungsbild differenzierter: Viele Menschen haben verstanden, dass Chinas Aufstieg unumkehrbar und das Land ein wichtiger Wirtschaftspartner ist. Deshalb empfanden 2020 rund ein Drittel der Deutschen die Beziehungen zu China sogar als wichtiger als jene zu den USA.

Ein Jahr später ermittelte Forsa dann jedoch, dass 58 Prozent der Deutschen "für einen härteren Kurs" gegenüber China sind. In der Meldung dazu wird auch ein direkter Zusammenhang zum – vermeintlichen – Geschehen in Xinjiang hergestellt.

Was im Westen über China geschrieben und gedacht wird, hat sicher eine gewisse Relevanz für die Überlegungen innerhalb der kommunistischen Partei Chinas. Die viel wichtigeren Fragen aber lauten: Wie konnte es so weit kommen, dass chinesische Behörden meinen, auf offensichtlich sehr weitreichenden Maßnahmen in Xinjiang zurückgreifen zu müssen? Und welche Bedingungen erfüllt eigentlich der Westen, um eine Terrorbekämpfung zu ermöglichen, die die Menschenrechte soweit nur irgend möglich achtet?

Dieser Frage werden wir im zweiten Teil dieses Textes nachgehen.