Teilhabe in und Aneignung der gebauten Umwelt

Hamburger Gängeviertel. Bild: An-d / CC-BY-SA-3.0

Die Architektur der Gesellschaft - Eine Annäherung

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Das bekannteste Werk des englischen Schriftstellers Douglas Adams heißt "Per Anhalter durch die Galaxis". Gleich zu Beginn des Romans kreuzt eine vogonische Bauflotte über der Erde auf und teilt deren Bewohnern mit, dass ihr Planet leider gesprengt werden müsse, um Platz für eine neue galaktische Expressroute zu machen. Die Menschen sind erregt und protestieren; allerdings sehr zum Unverständnis der Vogonen: Die Pläne hätten doch schon seit 50 Jahren im lokalen Planungsbüro auf Alpha Centauri ausgelegen. Bevor die Erde ausgelöscht wird, hört man über die Lautsprecher, die abzuschalten der Vogonen-Kommandeur vergessen hatte, dessen Missmut: "So ein blöder apathischer Planet, der geht mir echt am Arsch vorbei."

Hamburger Gängeviertel. Bild: An-d / CC-BY-SA-3.0

Diese Szene mag einem in den Sinn kommen, wenn man an die zahlreichen Proteste denkt, die sich jüngst gegen den Abriss gewachsener Strukturen und die Errichtung städtebaulicher Großinvestitionen richten: Etwa gegen Schloss-Neubau, gegen "Mediaspree" oder gegen den Ausbau der "A 100" in Berlin. In Hamburg gegen die "geldgesteuerte Planungskultur" im historischen Gängeviertel. Und - natürlich - gegen "Stuttgart 21". Denn am Neckar scheint der Umgang mit dem Bahnhofsareal mittlerweile die Schicksalsfrage schlechthin zu sein.

Über die Wechselwirkung von Lebensumständen und gebauter Umwelt. Die Architektur der Gesellschaft - Eine Annäherung: Teil 1

Und damit wird unsere Vorstellung sehr schnell vom sogenannten Wutbürger dominiert. Was freilich eine Verkürzung ist. Denn die Stichworte Beteiligung, Kooperation und private Initiative sind für die Stadtentwicklung im weiteraus umfassenderen Sinne relevant. In Analogie zum Fußball könnte man davon sprechen, dass die Stadt einem Spielfeld gleicht, auf dem nicht bloß die mit Nummern auf dem Rücken spielen. Auf diesem Feld gibt es Akteure, die treten, stoßen und ziehen; und es gibt Zuschauer, die mit Applaus, Pfeifen oder mit Schweigen Einfluss nehmen; es gibt Schiedsrichter, Berichterstatter, den Platzwart, Sponsoren des Vereins usw. Also: Urbanismus ist eine kollektive Disziplin, in der jeder seine Rolle finden muss.

Protest gegen Stuttgart 21. Bild: Ra Boe / Wikipedia / CC-BY-SA-3.0

Warum verwahren sich immer mehr Bürger gegen bestimmte bauliche Eingriffe? Letzte Weisheiten gibt es nicht; doch liegt ein gewisses Problem sicherlich darin, dass die beteiligten Fachleute ihre Möglichkeiten gerne überschätzen. Der Wiener Baumeister Hermann Czech hat das einmal so ausgedrückt: "Vor fünfzig Jahren war man davon überzeugt, dass moderne Architektur die Tuberkulose heilen könne; und da die Tuberkulose tatsächlich verschwunden ist, glauben Architekten sich jetzt zur Lösung umfassenderer Probleme berufen."

Waldschlößchenbrücke in Dresden. Bild: Daderot / Public Domain

In gesellschaftlich naiver Weise setzten ambitionierte Architekten und politische Visionäre recht oft auf den Instrumentenkasten von Planung und Gestaltung. Eigentlich sollte sich ein solches Denken gründlich überholt haben. Doch wenn man sich die Stadtbauprojekte der letzten 30 Jahre anguckt, dann will sich keine rechte Euphorie einstellen: Weil sie oft den Maßstab sprengen, weil sie gewachsene Lebenswelten durcheinander bringen, weil sie - zeitlich und räumlich - einfach nicht passen. Nicht umsonst wird in Frankfurt laut und leidenschaftlich um die Wiederauferstehung der Altstadt als Fachwerkidyll gekämpft. Und in Dresden sind die Wunden, die die der Bau der Waldschlösschenbrücke gerissen hat, längst nicht vernarbt.

Einbezug der Bürger stärker Fragen und Prozesse der Planung hat wenig gebracht

Die Begriffe Beteiligung und Partizipation sind seit jeher programmatische Schlagworte im Diskurs um Architektur und Städtebau. Seit Ende der siebziger Jahre ist das zweistufige Beteiligungsrecht, also die vorgezogene und die verbindliche Bürgerbeteiligung, fester Bestandteil unseres Planungsrechts. Als Modell ist dies Ergebnis eines jahrzehntelangen Emanzipations- und Demokratisierungsprozesses, bei dem die deutsche Planungspraxis auch international eine Vorreiterrolle gespielt hat.

Das Modell offenbart allerdings Grenzen, weil es in der Regel fallbezogen und reaktiv ist und weil der Regelkreis für planerische Handlungsalternativen so definiert ist, dass übergeordnete Zusammenhänge vernachlässigt werden. Als Folge von Rechtsprechung und Verwaltungsroutine sind die Verfahren stark formalisiert, auf den Ressortzuschnitt der zuständigen Verwaltung begrenzt und an die Definition eines bestimmten räumlichen Geltungsbereichs gebunden.

Erfahrungsgemäß werden durch die vorhabenbezogene Bürgerbeteiligung wichtige Planungen allenfalls in Einzelheiten beeinflusst, oder eine einvernehmliche Durchsetzung von Planungsentscheidungen kommt überhaupt nicht zustande - wie das speziell im Umweltbereich häufig der Fall war. Derartige Resultate erzeugen Frustration oder, was wohl noch problematischer ist, Anti-Planungs-Ressentiments bei den Bürgern. Baukultur wird als etwas betrachtet, das nur "von oben" bestimmt und der eigenen Mitwirkung entzogen ist. Und diese ist wichtig, weichen doch die Einschätzungen der Notwendigkeit und Ausrichtung von Interventionen deutlich voneinander ab.

Wann also werden Beteiligung bzw. Einbeziehung von Bürgern in die Prozesse von Architektur und Stadtplanung tatsächlich einmal gewährleistet? Und wie selten werden Bürger - von Einzelfällen und konkreten Anlässen einmal abgesehen - de facto von "Betroffenen" zu "Beteiligten" oder gar "Bestimmenden"? Dass solche Fragen so berechtigt wie notwendig sind, dürfte unstrittig sein. Allerdings, und andererseits, muss man sehen: An theoretischen wie praktischen Versuchen, Bürger stärker in Fragen und Prozesse der Planung einzubeziehen, hat es gerade in den letzten Jahrzehnten kaum gefehlt. Gebracht hat es allerdings wenig.

Das Problem wurzelt also tiefer, als man es gemeinhin wahrhaben will. Bürger unterstellen nicht selten eine fehlende Ernsthaftigkeit des Beteiligungsangebots. Investoren beklagen den zeitlichen - und damit auch finanziellen - Aufwand der Verfahren (und implizit die Unsicherheit von dessen Ausgang). Und von fachlicher Seite bestehen oft Vorbehalte wegen der Qualität der Ergebnisse ("Konsens bis zum Nonsens") bzw. wegen der Selektivität des Beteiligungsverfahrens ("die üblichen Verdächtigen"). Es braucht also neue Antworten auf alte Fragen. Dabei darf Partizipation nicht nur Befriedigung von Einzelinteressen bedeuten, sondern aktivierende Auseinandersetzung mit Vorstellungen und Wünschen möglichst vieler Bürger. Alle Widerstände und hochkochende Emotionen zeigen aber auch, dass das Planen und Bauen über seine unmittelbare Zweckbestimmung hinaus einen gewissen "Bedeutungsüberschuss" aufweist. Freilich lässt der sich kaum fassen.

Neue Perspektiven

Der Philosoph Alva Noe hat einmal im Interview dargelegt: "Städte kann man so eigentlich als Gestalt gewordene Angewohnheiten sehen. Angewohnheiten befähigen uns, Dinge zu tun, sie machen es aber auch unmöglich, Dinge zu tun. Wir zum Beispiel sind in einem Haus, in dem es Treppen gibt, so dass wir an einige Punkte leicht gelangen können. Aber in jene Richtung können wir nicht, denn dort ist eine Mauer. Wir bauen Strukturen, die uns gleichzeitig behindern und befähigen." Vom eigenen Heim ("My home is my castle") einmal abgesehen, scheint man in der Architektur sozialpsychologisch eher Einengung, Maßregelung oder Gängelung zu sehen als Aussicht, Möglichkeit und Chance.

Dass eine solche Mentalität weit verbreitet ist, hängt auch mit dem sog. Bauwirtschaftsfunktionalismus zusammen. Die Alltagsarchitektur der siebziger Jahre gilt heutzutage als Tiefpunkt der Baugeschichte, und zwar bei Laien wie Architekten. Während die Bauten der fünfziger Jahre noch mit handwerklichen Details und charmanter Sparsamkeit aufwarten und die der sechziger mit formaler Stringenz für sich einzunehmen wissen, scheint dem Gros der zehn Jahre später entstandenen Gebäude die gestalterische Qualität abhandengekommen: Unverständlich ihre Volumetrien, grob gefügt die Fertigteile ihrer Fassaden, plump die Profile von Fenstern und Türen, ohne jede Eleganz die Abschlüsse von Trauf- und Mauerkanten, keine Materialien an Wand, Boden und Decke, deren Oberfläche auch nur den geringsten Reiz in punkto Haptik oder Textur verströmt.

Wohl gemerkt: Es geht hier nicht um die Glanzpunkte jener Epoche, die es zweifellos auch gibt - es geht um jene anonymen Gebäude, aus denen die Städte außerhalb ihre Zentren landauf, landab bestehen: um Schulen und Kindergärten, um Bürohäuser und Einkaufszentren, um Ein- und Mehrfamilienhäuser; um die Gebäude also, die jene diffusen Stadtbereiche bilden, die wenig zur Identität einer Stadt beitragen, stark aber das tägliche Leben ihrer Bewohner bestimmen.

Nach wie vor ist unsere gebaute Umwelt von einer aus dem Funktionalismus abgeleiteten Analyse- und Planungstechnik geprägt. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Und das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, wenn auch um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt. Die gesellschaftlichen Potentiale der Architektur hebt das indessen nicht.

Was könnte man verbessern? Eine Annäherung mag in vier Schritten bzw. Aspekten liegen:

(1) Entscheidend ist bereits die Aufgabenstellung, die Art des Zugangs zum Projekt oder zum Planungsthema. Denn ganz grundsätzlich gilt: Aufgaben und Projekte entstehen nicht aufgrund baukultureller Fragestellungen, sondern anhand konkreter Probleme. Es geht also ganz entschieden schon um Qualitäten beim Erheben und Festlegen der Aufgabenstellungen.

(2) Es braucht adäquate Verfahrenskonzepte, in denen neue Formen der Kooperation genauso erprobt werden wie innovative Instrumente der Qualitätssicherung im Planungsprozess - von Wettbewerben, über Gestaltungsbeiräte bis hin zu internationaler Zusammenarbeit. Dabei ist auch der Stellenwert des Experiments im Planungs- (und möglicherweise auch im Bau-) Prozess zu stärken. Auch wären Chancen durch Modelle "offener" Planungen zu nutzen.

(3) Ohne eine intensive Vermittlung können Projekt- und Programminhalte in Architektur und Städtebau heute nur noch schwerlich umgesetzt werden. Autokratische Alleinentscheidungen entsprechen nicht mehr den Bedürfnissen und den Forderung der Bürgergesellschaft nach Teilnahme und Mitsprache. Für den Erfolg einer Maßnahme ist die positive Akzeptanz vor Ort von zentraler Bedeutung. Dabei zeigt sich, dass sich die vormals vielfach getrennt behandelten Aspekte der Beteiligung und der Öffentlichkeitsarbeit zunehmend verschränken. Die Bedeutung kultureller Aktivitäten im Zuge des Planungsprozesses nimmt gleichzeitig zu.

(4) Last not least geht es natürlich um das Objekt. Dessen Qualitäten liegen freilich nicht nur in funktionaler Zweckerfüllung oder in einer überzeugenden Ästhetik, sondern auch etwa in Kontextbezug, Identifizierbarkeit, Aneignungspotential usw.

Diese vier Aspekte unterliegen keiner Hierarchie oder Gewichtung; sie sind gleichermaßen wichtig. Mehr noch: Nicht aus der isolierten Optimierung eines einzelnen, sondern nur aus der integrierten Verbesserung können Architektur und Städtebau, kann eine Baukultur entstehen, deren Anspruch und Wirkung über die einzelnen Felder hinausreicht.

Die angesprochenen Aspekte illustrieren, dass Stadtentwicklung ein komplexer Gegenstand ist. Sich damit zu beschäftigen, heißt mühevolle Detailarbeit, und die individuellen Einwirkungsmöglichkeiten im Prozess sind oftmals begrenzt. Dass Architektur im gesellschaftlichen Sinne keineswegs passiv ist, sollte freilich klar sein.