Telepolis exklusiv: Gegen dieses SPD-Papier läuft Kiew gerade Sturm
Nein, das sind keine SPDler, sondern Friedensaktivisten. Bild: Uwe Hiksch, CC BY-NC-SA 2.0
Themen des Tages: Was der Mangel an Wohnraum bedeutet. Was Corona für China bedeutet. Und wie die SPD die Zeitenwende verstanden wissen will. (Teil 1)
Liebe Leserinnen und Leser,
1. Wo und wie werden die Menschen künftig wohnen?
2. Welche Perspektiven hat der Ukraine-Krieg?
3. Und auf Seite 2 ff.: Wie Fraktion und SPD die Zeitenwende umsetzen wollen.
Doch der Reihe nach.
Wohnraum und Mangel
Gegen den Mangel an bezahlbarem Wohnungsraum hilft – Bauen, stellt Telepolis-Autor Bernd Müller heute fest. Doch der Wohnungsbau stocke in Deutschland. Inflation, steigende Zinsen und Lieferengpässe trieben die Baukosten in die Höhe, sodass viele Bauunternehmer und Investoren von ihren Projekten wieder Abstand nehmen. Müller weiter:
In manchen Regionen Deutschlands warnt die Wohnungswirtschaft bereits, dass der Bau von Sozialwohnungen in Gefahr sei. So etwa in Bremen und Niedersachsen, wo der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft am Mittwoch beklagte, dass der Mietwohnungsbau an einem seidenen Faden hänge.
Ukraine und Perspektiven
"Wie in jedem Krieg wird der wichtigste Faktor für den künftigen Verlauf des Ukraine-Konflikts letztlich das sein, was auf dem Schlachtfeld geschieht", schreibt Anatol Lieven, Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft – und stellt damit nebenbei eine konträre These zu einer zentralen Aussage des hier im folgenden dokumentierten SPD-Papier auf. Lieven weiter:
Es gibt im Wesentlichen drei Möglichkeiten, wobei jede von ihnen eine Reihe potenzieller Konsequenzen nach sich ziehen würde: ein ukrainischer Durchbruch, ein russischer Durchbruch und eine Pattsituation, die in etwa den derzeitigen militärischen Frontverläufen entspricht.
China und Corona
Seit Peking Anfang Dezember die Abkehr von der Null-Covid-Strategie verkündet habe, überschlagen sich die Hiobsbotschaften zusammen mit Spekulationen über die Situation in China, schreibt heute Telepolis-Autor Arno Kleinebeckel. Es regten sich zugleich Bedenken, was den Rest der Welt betreffe.
Offiziell unbestätigte Schätzungen sprechen für die ersten drei Dezemberwochen von 248 Millionen Corona-Infizierten im Reich der Mitte, eine beachtliche Zahl, die hierzulande unter anderem von der ARD-tagesschau verbreitet wurde. Die Welle habe, so heißt es mit Bezug auf die chinesischen Staatsmedien, in Großstädten ihren Höhepunkt überschritten und erfasse allmählich die ländlichen Gebiete.
SPD zu Ukraine und "Zeitenwende": "Haben die Tür für diplomatische Lösungen offengehalten"
Die Außenpolitik der SPD sorgt spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine für Debatten. In diesem Zusammenhang liegt der Klausursitzung des Fraktionsvorstandes und der Fraktion am heutigen Donnerstag und morgigen Freitag ein umfassendes Positionspapier vor, das in Teilen schon in der Presse zitiert wurde.
Aus Kiew wurden einzelne bekannte Aussagen aus dem neunseitigen Dokument bereits kritisch kommentiert. Telepolis dokumentiert das Positionspapier mit dem Titel "Sozialdemokratische internationale Politik in der Zeitenwende" heute und morgen in zwei Teilen. Der folgende Text ist ein Entwurf, der in Fraktion und Partei am Mittwochabend verbreitet wurde.
I. Putins Angriffskrieg als Zeitenwende
Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und etwas mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der jugoslawischen Nachfolgekriege herrscht wieder ein Krieg in Europa. Der völkerrechtswidrige, brutale und menschenverachtende Überfall Russlands auf die Ukraine hat der nach dem Ende der Blockkonfrontation mühsam aufgebauten internationalen Sicherheitsarchitektur den Boden entzogen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27.Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz den Krieg deshalb zurecht als eine Zeitenwende bezeichnet.
2022 hat Deutschland die Ukraine bilateral mit über zwölf Milliarden Euro unterstützt. Wir unterstützen finanziell, humanitär, militärisch und diplomatisch, damit die Ukraine ihr Territorium und ihre Souveränität erfolgreich verteidigen kann. Wir tun das gemeinsam mit unseren internationalen Partnern in der EU, der Nato und der G7. Nationale Alleingänge lehnen wir ab. Erstmals in seiner Geschichte hat Deutschland im großen Umfang Ausrüstung und Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert, damit sich die Ukraine gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriff verteidigen kann.
Lesen Sie zu diesem Thema auch unseren Nachrichtenbeitrag "SPD-Fraktion: Ablehnung weiterer Panzerlieferung 'zwischen den Zeilen'?"
Viele Ukrainer:innen haben durch den Krieg ihr Zuhause verloren und sind auf der Flucht. Die Bundesregierung hat deshalb erhebliche Mittel zur Linderung akuter Not bereitgestellt, um etwa Wohnunterkünfte für Binnenflüchtlinge zu finanzieren oder notwendige Infrastruktur wie die Strom- und Wasserversorgung sicherzustellen.
Überdies hat Deutschland bereits mehr als eine Million Ukrainer:innen aufgenommen und unterstützt auch die Nachbarländer der Ukraine, insbesondere Moldau. Hinzu kommen bilaterale Budgethilfen, um die staatliche Handlungsfähigkeit der Ukraine sicherzustellen sowie Rüstungsgüter im Wert von über zwei Milliarden Euro, die aus Deutschland bereits bereitgestellt wurden.
Deutschland ist darüber hinaus größter Einzahler in den Refinanzierungsfonds der Europäischen Friedensfazilität, dessen Gesamthöhe sich auf 5,5 Milliarden Euro beläuft. Mit dem Geld werden die ukrainischen Streitkräfte gezielt gestärkt. Diesem Ziel dient auch die Ausbildung von ukrainischen Soldaten auf dem Territorium der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen einer EU-Ausbildungsmission, bei der Deutschland eine koordinierende Rolle einnimmt.
Trotz der anhaltenden Kriegshandlungen geht es auch darum, die Ukraine beim Wiederaufbau zu unterstützen und schon jetzt dafür notwendige Maßnahmen zu koordinieren. Gemeinsam mit der Ukraine und internationalen Partnern arbeitet die Bundesregierung an einem "Marshall-Plan" für den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine.
Auf Initiative des Bundeskanzlers und der EU-Kommission sind deshalb im Rahmen einer internationalen Konferenz Ende Oktober 2022 in Berlin Vertreter:innen von internationalen Organisationen und Think-Tanks sowie aus der Wissenschaft, Zivilgesellschaft und des Privatsektors zusammengekommen. Dadurch wurden eine internationale Struktur für den Wiederaufbau und eine Plattform angestoßen, um unsere Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine zu koordinieren.
Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern haben wir weitreichende Sanktionen sowie ein Öl- und Kohleembargo beschlossen, die Russland politisch wie wirtschaftlich isolieren – und zugleich die Tür für diplomatische Lösungen offengehalten.
Denn wir wissen: Kriege werden in der Regel nicht auf dem Schlachtfeld beendet. Bei jeglichen Verhandlungsbemühungen gilt das Prinzip: nicht ohne die Ukraine, nicht über die Ukraine hinweg. Die Grundvoraussetzungen eines Friedensschlusses haben die G7-Staaten in ihrer Erklärung vom 11. Oktober 2022 in Absprache mit der Ukraine dargelegt.
Diese sind insbesondere die Achtung des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Schutzes der territorialen Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine, die zukünftige Sicherung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, die Gewährleistung des Wiederaufbaus der Ukraine, auch unter Prüfung von Möglichkeiten, hierzu Mittel aus Russland einzusetzen sowie die Rechenschaft für im Krieg begangene russische Verbrechen.
Auch wenn es aus nachvollziehbaren Gründen keinerlei Vertrauen mehr zur gegenwärtigen russischen Führung gibt, müssen diplomatische Gespräche möglich bleiben. Deshalb sind auch die Gespräche, die Bundeskanzler Olaf Scholz in Abstimmung mit der Ukraine und unseren internationalen Partnern regelmäßig mit Wladimir Putin führt, richtig und notwendig.
Deshalb brauchen wir auch weiterhin wo immer möglich diplomatische Initiativen – sei es im Rahmen der Vereinten Nationen oder zum Beispiel über den so wichtigen Einsatz der Internationalen Atomenergiebehörde zur Sicherung der ukrainischen Atomkraftwerke. Wir müssen weiterhin jeden Versuch unternehmen, Russland zum Rückzug zu bewegen und gegenüber Russland eine ehrliche Bereitschaft zu einem gerechten Friedensschluss einfordern.
In kleinen Teilbereichen konnten in Gesprächen mit Russland Vereinbarungen erzielt werden, etwa zwischen der Ukraine und Russland zu Fragen des Gefangenenaustausches oder zwischen den Vereinten Nationen, der Türkei, der Ukraine und Russland zur Ausfuhr von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer.
Es gilt, auf diesen Ansätzen aufzubauen, etwa im Bereich der Rüstungskontrolle. Bevor aber mit Russland wieder Vertrauen wachsen kann, muss es zu einer fundamentalen Abkehr vom verbrecherischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der dahinterstehenden expansionistischen Ideologie kommen.
Wenn eine ernsthafte Bereitschaft hierzu erkennbar sein sollte, könnte eine Politik der kleinen Schritte, die in überschaubaren Bereichen Initiativen zur Vertrauensbildung startet und regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft wird, ein diplomatischer Ansatz sein.
Eine sozialdemokratische internationale Politik muss auch Deutschlands grundsätzliche Rolle in den Blick nehmen. Dazu gehört auch die Stärkung von Deutschlands Sicherheit und der Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Klar ist: Deutschland sollte mehr Verantwortung für Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent und seiner Nachbarschaft übernehmen und dafür die notwendigen Instrumente bereitstellen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits zu Beginn des Krieges die richtigen Schlüsse gezogen und mit konkreten Maßnahmen diese neue Ära eingeleitet. Beispielhaft hierfür sind das Bundeswehr-Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, die kontinuierliche Steigerung der Verteidigungsausgaben, die EU-Sanktionspakete, die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Diversifizierung von Energieimporten, der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien, die Entlastungspakete für unsere Bürgerinnen mit einem Gesamtvolumen von mehr als 200 Mrd. Euro, die finanzielle und politische Stärkung der Entwicklungszusammenarbeit sowie das aktive Werben um neue Partner im Globalen Süden und darüber hinaus.
Diese Initiativen gilt es in den kommenden Monaten und Jahren auszubauen, weiter zu schärfen und in internationale Partnerschaften zu gießen. Konfrontiert mit neuen oder sich ausbreitenden Krisen und Konflikten auf unserem Planeten müssen wir Friedens- und Demokratieprozesse dort, wo wir es vermögen, unterstützen. Wir stehen fest an der Seite der Demokratiebewegung im Iran.
Wir wollen die zivile Krisenprävention stärken und uns für die Etablierung einer globalen und solidarischen Verantwortungspartnerschaft einsetzen, die ausdrücklich die Belange des Globalen Südens verstärkt in den Fokus nimmt. Zu einer globalen Verantwortungspartnerschaft gehört es zudem, die zweite Hälfte auf dem Weg der Umsetzung der Agenda 2030 zu nutzen, um die Zielerreichung der Sustainable Development Goals wieder stärker in den Fokus internationaler Politik zu rücken. Dies ist nur mit einer starken VN mit einem klaren Mandat möglich.
Eine solche Transformation-Politik braucht mittel- und langfristig eine breite gesellschaftliche Zustimmung, denn es stehen nicht weniger als Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa auf dem Spiel. Dazu gehört, dass die deutsche Sozialdemokratie ihre internationale Politik im Zeichen der Zeitenwende auch durchaus selbstkritisch reflektiert, justiert und erklärt.
Hier setzt auch unsere Nationale Sicherheitsstrategie an, deren Erarbeitung wir unterstützen. Wir müssen die äußere und innere Sicherheit viel stärker ineinander verzahnen, um den aktuellen Bedrohungen gerecht zu werden.
II. Frieden und Sicherheit als Grundpfeiler sozialdemokratischer internationaler Politik
Auch in der Zeitenwende bleiben die Werte, die sozialdemokratische Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik leiten, ein starkes Fundament, das die SPD seit mehr als einem Jahrhundert trägt: Frieden, Freiheit, internationale Gerechtigkeit und Solidarität und eine starke Europäische Union sind die Leitlinien unserer Politik. Dazu gehören die universelle Geltung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
In einer zunehmend von vielfältigen Zentren geprägten Welt droht das außenpolitische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und der EU abzunehmen. Dem müssen wir mit Pragmatismus auf der Grundlage unserer Werte und Interessen entgegentreten. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Angriff auf unsere demokratischen Werte und bestärkt uns in dem Willen, mit anderen demokratischen Ländern diese zu verteidigen und vertieft zusammenzuarbeiten.
Wir haben jedoch kein lnteres.se an der Bildung neuer antagonistischer Blöcke. Die regelbasierte, VN-zentrierte internationale Ordnung fußt auf der Erkenntnis, dass unterschiedliche politische Systeme nebeneinander existieren können und miteinander kooperieren müssen.
Wir müssen uns vielmehr fragen, wie wir bestehende Bindungen stärken und zugleich neue belastbare Partnerschaften initiieren können, durch die wir eine gegenseitige Verantwortungsübernahme und damit letztendlich Frieden, Freiheit, Wohlstand und die regelbasierte Ordnung sichern.
Ein solch realitätsbezogener und pragmatischer Ansatz geht Hand in Hand mit einer wertegeleiteten internationalen Politik, die Fragen der Werte und Menschenrechte wo nötig kritisch adressiert und zugleich die menschenrechtsbasierten internationalen Rahmenwerke zu festigen versucht. Eine aktive Diplomatie, die Verantwortung übernimmt und sich auf die Suche macht nach gemeinsamen Sichtweisen, Interessen und "Inseln der Kooperation", ist die Grundvoraussetzung für internationale Zusammenarbeit.
Wir werden intensiv daran arbeiten, Vertrauensnetzwerke aufzubauen, mit dem Ziel, multilaterale Institutionen zu stärken und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Denn am nachhaltigsten lässt sich Vertrauen durch die Stabilisierung und den Aufbau effektiver internationaler Strukturen gewinnen.
Die Erfahrung zeigt: Sicherheit und Frieden in Europa benötigen eine glaubwürdige Abschreckung. Bereits Willy Brandts Ost- und Entspannungspolitik fußte auf einer festen Verankerung im westlichen Bündnis und einer robusten Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik.
Gleichzeitig braucht es Gesprächskanäle und institutionelle Formate, um den Draht zur Vermeidung einer noch größeren Eskalation nicht abreißen zu lassen. Insbesondere auf Ebene der Zivilgesellschaft gilt es, solche Verbindungen aufrechtzuerhalten. Sie sind Grundvoraussetzung für Vertrauen und einen Friedensprozess, der aber zum jetzigen Zeitpunkt in weiter Ferne liegt.
III. Globale Verantwortungspartnerschaften – attraktive Angebote an den Globalen Süden
Wir wollen den Ländern des Globalen Südens auf Augenhöhe begegnen und globale Verantwortungspartnerschaften aufbauen und stärken. Wir gestalten unsere Außen- und Entwicklungspolitik feministisch und machen unseren Partnern attraktive Angebote zur Zusammenarbeit, die für beide Seiten Vorteile bieten und zur nachhaltigen und sozial gerechten Transformation des globalen Wirtschaftssystems beitragen.
Erst durch eine solche nachhaltige Zusammenarbeit können wir globale Probleme langfristig und gemeinsam mit dem Globalen Süden lösen. Deshalb wollen wir bei steigenden Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit entsprechend anheben.
Für uns ist das Konzept der menschlichen Sicherheit zentral, welches auch soziale und ökologische Sicherheit umfasst. Dabei setzen wir auch auf den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme, die Absicherung in Krisensituationen schaffen und ihnen zugleich vorbeugen.
Globale Verantwortungspartnerschatten fußen auf einer langfristige Entwicklungsfinanzierung und beinhalten mehrere Ebenen gemeinsamen Handelns: von der Unterstützung in akuten Notlagen wie klimabedingte Ernährungskrisen oder Naturkatastrophen, über die Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Sustainable Development Goals, die Richtschnur unseres internationalen Handeins sind, und der Klimaziele bis hin zu multilateralen Partnerschaften für eine nachhaltige, sozial- und geschlechtergerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.
Die Einbeziehung wichtiger Entwicklungs- und Schwellenländer in die Beratungen der G7 und G20 sowie die Gründung des für alle Länder offenen Klimaclubs durch Bundeskanzler Olaf Scholz ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung.
Insbesondere mit den progressiven Regierungen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas haben wir die Chance auf verstärkte Partnerschaften beim Schutz des Klimas und der Umwelt. Darüberhinaus bieten sich in Lateinamerika Möglichkeiten im Rahmen von Handelsabkommen, die Globalisierung fair und nachhaltig zu gestalten.
Mit der Wahl Lula da Silvas zum Präsidenten Brasiliens bietet sich zudem ein neues Momentum, mit der größten Volkswirtschaft der Region Initiativen beim Schutz des Amazonasgebiets, Handelsfragen sowie zur Kooperation im Energiesektor voranzutreiben, auch um letztlich einen fortschrittlichen Abschluss des Mercosur-Abkommens zu erreichen. Zudem wollen wir im Rahmen der G4 (Brasilien, Japan, Südafrika und Deutschland) weiter auf eine Reform der Vereinten Nationen, insbesondere des Sicherheitsrates, hinwirken.
Auch auf dem afrikanischen Kontinent gilt es, vorhandene Partnerschaften zu stärken und neue Verbindungen aufzubauen. Zum einen müssen wir weiterhin fragile Staaten in Fragen von Sicherheit, Stabilität, nachhaltiger Entwicklung und Demokratie unterstützen.
Weitere konkrete Angebote können eine fairere Handels- und Migrationspolitik, die Stärkung der Gesundheitssysteme, zum Beispiel im Rahmen von Impfstoffproduktion, sowie ein mit der Afrikanischen Union abgestimmtes sicherheitspolitisches Engagement sein.
Die afrikanische Freihandelszone ist eine Chance für den Kontinent, die Deutschland zusammen mit der Europäischen Union stärker unterstützen sollte. Auch im Bereich der Forschung sowie Kultur- und Bildungspolitik lohnt es sich, Netzwerke mit den afrikanischen Partnern auszubauen. Zum anderen müssen wir gezielt beidseitig vorteilhafte Technologie-, Energie-, Infrastruktur- und Entwicklungspartnerschaften aufbauen.
Hier muss insbesondere der Ausbau von erneuerbaren Energien im Fokus des Handelns stehen. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesministerin Svenja Schulze vorangetriebenen Partnerschaften im Bereich der Energieversorgung (Just Energy Transition Partnerships) sind hierfür wegweisend.
Insbesondere Energiefragen bieten neue Ansätze der Kooperation mit dem Globalen Süden: Nachhaltige Alternativen zur russischen fossilen Energie müssen gefunden, Wettbewerbsnachteile sollten ausgeglichen, grüne Zukunftstechnologien gefördert und bestehende Lieferketten im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit und die Einhaltung menschenrechtlicher Standards überprüft werden.
Durch verbindliche Sorgfaltspflichten für deutsche und europäische Unternehmen sollen zudem Arbeitnehmer:innen-, Sozial- und Umweltrechte weltweit gestärkt und Lieferketten damit nachhaltiger und risikoärmer werden. Hierzu haben wir mit der Verabschiedung des Sorgfaltspflichtengesetzes für deutsche Unternehmen den ersten Schritt unternommen. Wir streben jetzt eine wirksame europäische Lösung an.
Ein wichtiger Teil des deutschen Wirtschaftsmodells ist ein leistungsfähiger und kompetitiver industrieller Sektor; der Güter in die ganze Welt exportiert. Dieser ist angewiesen auf Rohstoff- und Energieimporte. Das wird auch in einer dekarbonisierten Welt so bleiben. Aus diesem Grund gilt es, Lieferbeziehungen zu diversifizieren und eine Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zukünftig zu vermeiden.
Dies muss beispielsweise auch beim Aufbau neuer Energiepartnerschaften für grünen Wasserstoff oder dessen Derivate mitbedacht werden. Gleiches gilt für kritische Rohstoffe wie Seltene Erden. Hierbei können vertiefte, gleichberechtigte Energie-Partnerschaften beispielsweise mit afrikanischen Ländern und damit eine verstärkte Zusammenarbeit mit Europas nächster Nachbarschaft zukünftig eine größere Rolle spielen.
Gleichzeitig wird auch der Nahe und Mittlere Osten auf absehbare Zeit bei Energiefragen für Deutschland und Europa von Bedeutung bleiben. Europa sollte sein Gewicht in der Region mehr nutzen, auch um den sicherheitspolitischen Dialog zu fördern.
Neben einem Ausbau der Handelsbeziehungen bieten gerade Wissenschafts- und Bildungskooperationen Chancen. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist und bleibt ein zentraler Bestandteil deutscher Außenpolitik. Um in der Zeitenwende zu bestehen, stärken wir die Mittlerorganisationen und damit auch die Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaften.
Seit Jahren ist Deutschland bei der humanitären Hilfe eines der Hauptgeberländer. Unser Engagement beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die bloße Bereitstellung von Geld und Ressourcen. Die humanitäre Hilfe ermöglicht Deutschland eine Präsenz in Regionen, die für andere Instrumente sonst unzugänglich bleiben und fungiert als effektives Mittel der Vertrauensbildung mit Staaten und Akteuren, mit denen die Schnittmenge an Werten und Interessen ansonsten überschaubar ist. Sie muss deshalb auch infolge der Zeitenwende eine Säule sozialdemokratischer Außenpolitik bleiben.
Unsere globalen Verantwortungspartnerschaften basieren auf den Werten der EU von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten sowie der Schaffung und Anerkennung allgemeingültiger internationaler Vereinbarungen. Wir stehen konsequent und in allen Fällen zu unseren Grundwerten und thematisieren diese auch gegenüber Partnern, die diese Werte nicht vollumfänglich teilen. Eine pragmatische internationale Politik auf Grundlage unserer Werte und Interessen bedeutet auch, Unterschiede im Wertegerüst der anderen Staaten zu erkennen und danach unterschiedliche Grade der Kooperation festzulegen.
Ein solcher wertegeleiteter Pragmatismus ist Grundbestandteil sozialdemokratischer Politik. Mit nichtdemokratischen Staaten bilden wir zwar keine Wertegemeinschaft, doch zielgerichtete Kooperation bleibt unerlässlich.
Globale Herausforderungen wie der Kampf gegen die Klimakrise, gegen Pandemien, gegen Nahrungsmittelkrisen, gegen nukleare Proliferation, gegen Überschuldung und für Steuergerechtigkeit lassen sich nur global lösen. Gleichzeitig müssen wir angesichts von Putins Angriff auf Freiheit und Demokratie umso enger mit Partnern zusammenarbeiten, die unsere Werte teilen.
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