Tempo 30 zur Entlastung von Krankenhäusern
Nicht nur Covid19-Patienten brauchen Intensivbetten. Nachbarländer denken daher nach, wie die Zahl der Verkehrsopfer gesenkt werden kann
Die Millionengrenze ist erreicht. Bis Donnerstag hatten sich in Deutschland 1.007.617 Menschen mit dem Covid19-Virus infiziert, berichtet eine von diversen deutschen Zeitungen betriebene und genutzte Plattform, die regelmäßig alle Gesundheitsämter abfragt. Die Daten differieren meist geringfügig von denen des Robert-Koch-Institut und scheinen in der Regel ein paar Stunden voraus zu sein.
Natürlich ist das nur eine symbolische Grenze, deren Überschreitung den einen alarmieren, die andere eher weniger aufrütteln mag. Wichtiger ist, dass sich die täglichen Neuinfektionszahlen - wenn auch nicht mehr steigend - weiter auf sehr hohem Niveau bewegen. Die bisherigen Maßnahmen haben den weiteren Anstieg aufhalten. aber noch kein Abflachen der Kurve bewirken können.
Mittwoch und Donnerstag kamen jeweils wie schon in den Vorwochen etwas über 22.000 Neuinfizierte hinzu. Zum Wochenende hin gehen die Meldungen dann für gewöhnlich deutlich zurück. Alles in allem betragen die Zahlen der Neuinfizierten derzeit etwa das Vierfache des auf dem Höhepunkt der ersten Welle im Frühjahr erreichten.
Entsprechend steigt die Zahl der täglichen Todesfälle weiter an und liegt mittlerweile bei etwas über 400 täglich. In den Krankenhäusern sind inzwischen die Gesundheitsarbeiter und auch oft die Intensivstationen am Limit.
In Berlin zum Beispiel sind nun ein Viertel aller Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt und nur noch elf Prozent frei. Anderswo im Land sind noch mehr Plätze frei, wie das bundesweite "Intensivregister" zeigt, aber das kann sich schnell ändern.
Die Bundeshauptstadt gehörte nämlich zu den Orten wo die zweite Welle als erstes zuschlug. Inzwischen ist das Infektionsgeschehen in vielen Regionen in Sachsen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen erheblich schlimmer. Umgerechnet auf die Einwohner ist die Zahl der Neuinfizierten vielerorts in den Hotspots fast doppelt und bei den sangesfreudigen Hildburghausenern gar dreimal so hoch wie an der Spree. Das dürfte sich dort zeitverzögert auch in den Krankenhäusern bemerkbar machen.
Freies Böllern für freie Bürger
Wenn aber die Intensivstationen und das Krankenhauspersonal bereits aus den letzten Löchern pfeifen, dann sollte sich die Gesellschaft doch eigentlich mal Gedanken machen, wie die Krankenhäuser etwas entlastet werden könnten.
Ein Böllerverbot zu Silvester war zum Beispiel in diesem Zusammenhang vorgeschlagen worden, doch sofort im populistischen Gerede von "Politprofis" zerredet worden. Die Merkelsche Ministerpräsidentenrunde traute sich schließlich nicht mehr als ein paar belanglose Appelle in dieser Richtung zu formulieren. Schade.
In der Silvesternacht, so hatte im Januar 2020 ein Berliner Unfallkrankenhaus die letzte Jahreswende bilanziert waren alle zehn OP-Säle durchgehend belegt. Einige Zeitgenossen können eben nur zünftig ins neue Jahr feiern, wenn sie sich zuvor eine Hand oder auch Teile des Gesichts weggesprengt haben. Diese Freiheit soll ihnen auch in diesem Jahr nicht genommen werden.
Tempo 30 kann Leben retten
Es gäbe allerdings noch eine viel wirksamere Maßnahme, um die Krankenhäuser und die Intensivstationen zu entlasten: Tempolimits auf den Straßen. Auf jede Person, die bei einem Autounfall stirbt, sagt eine US-Statistik, kommen neun Personen, die in Krankenhäusern und 88 weitere, die von Ambulanzen versorgt werden müssen.
2019 sind auf hiesigen Straßen 3059 Menschen ums Leben gekommen, so das Bundesamt für Statistik im Februar in einer Pressemitteilung. 384.000 Personen wurden verletzt.
Ein zumindest temporäres Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde könnte die Unfallzahl und vor allem die Zahl der Schwerverletzten erheblich reduzieren. Wird innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 herabgesetzt vermindere dies das Risiko, dass eine Person bei einem Zusammenstoß stirbt, um den Faktor fünf, meint der spanische Innenminister.
Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg hat das Land daher als Antwort auf die Corona-Pandemie ein Tempolimit von 30 und zum Teil auch nur 20 Kilometer pro Stunde in seinen Städten eingeführt.
In Madrid seien davon 80 Prozent aller Straßen betroffen. In anderen westeuropäischen Ländern sieht es ähnlich aus. Paris hatte schon vor der Corona-Pandemie große Teile der Innenstadt in Tempo-30-Zonen verwandelt und diskutiert nun, dies auf alle Straßen auszudehnen.
Tempo 100 auf Autobahnen
Auch die Niederlande wollen flächendeckend in allen Siedlungen Tempo 30 zur zugelassenen Höchstgeschwindigkeit machen. Im März war bereits nur am Tag geltendes Limit von 100 km/h für die Autobahnen eingeführt worden.
Auch in Großbritannien wird derzeit in vielen Ortschaften eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 20 Meilen pro Stunde eingeführt, was in etwa 30 Kilometer pro Stunde entspricht. Auf den Autobahnen begann laut Bloomberg im September ein Pilotprojekt, bei dem auf einigen Abschnitt das Limit von 70 auf 60 Meilen pro Stunde (112 und 96 Kilometer pro Stunde) herabgesetzt wurde. Die Absenkung soll gegebenenfalls auf alle Autobahnen ausgeweitet werden.
Natürlich müssen die neuen Limits auch überprüft werden. Aus der ersten Welle ist zumindest aus den USA bekannt, dass Autofahrer sich durch leerere Straßen [Link auf https://www.washingtonpost.com/local/trafficandcommuting/the-coronavirus-pandemic-emptied-americas-highways-now-speeders-have-taken-over/2020/05/10/c98d570c-8bb4-11ea-9dfd-990f9dcc71fc_story.html\:gernmal] zum Rasen verleiten lassen. Ähnliches wurde auch in Großbritannien beobachtet.
Knast für Raser?
Vielleicht könnte auch helfen, den Bußgeldkatalog auf norwegisches Niveau anzuheben. Da kann es für einen Raser schon mal Gefängnisstrafen geben oder ein Ticket zehn Prozent des Jahreseinkommens kosten.
Im Februar hatte sich übrigens eine UN-Konferenz für Verkehrssicherheit in Stockholm dafür ausgesprochen, die Zahl der Verkehrstoten weltweit zu halbieren, indem in allen Ortschaften ein Tempolimit von 30 Kilometern die Stunde eingeführt wird.
Brussel Times, die über die Konferenz berichtete, schreibt zugleich, dass in der belgischen Hauptstadt ab 1. Januar 2021 ein Tempo-30-Limit eingeführt wird. Wie in Helsinki oder Oslo, so das Blatt, den einzigen beiden europäischen Städten, in denen es 2019 unter Fußgängern und Radfahrern keinen einzigen Verkehrstoten gegeben habe.
An der Stockholmer Konferenz haben übrigens 80 Minister sowie andere Regierungsvertreter aus insgesamt 140 Ländern teilgenommen. Bundesverkehrsminister Andy Scheuer, der am Freitag Besuch von Fridays for Future bekam, fand die Konferenz übrigens nicht so wichtig. Seinem Ministerium war sie nicht einmal eine Pressemitteilung wert und dem Minister war es wohl im Februar in Stockholm zu kalt. Er schickte lieber seine Beamten hin.
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