"The Beast": Kritik der Künstlichen Intelligenz – Was bleibt übrig von uns?

Junge Frau in einem kleinen dunklen viereckigen Wasserbecken. Die Augenschauen träumerisch nach oben. Über dieser "Badewanne" ein großes halbrundes Gebäudefenster

Copyright Carole Bethuel / Grandfilm

Bonellos Science-Fiction-Melodram warnt vor digitaler Apokalypse. Angst und Liebe im Schatten der kommenden Katastrophe. Bester Film des Jahres.

Angst ist nämlich ein Begehren dessen, was man fürchtet, eine sympathetische Antipathie; Angst ist eine fremde Macht, die das Individuum ergreift, und doch kann man sich nicht davon losreißen, und will das nicht, denn man fürchtet zwar, aber was man fürchtet, das begehrt man. Angst macht das Individuum ohnmächtig, und die erste Sünde geschieht immer in Ohnmacht.

Søren Kierkegaard

Vor einem komplett grünen Digital-Screen lauscht eine Schauspielerin den Anweisungen eines Regisseurs, der nicht zu sehen, sondern nur über seine Stimme zu hören ist. Bertrand Bonello spricht ihn selbst – und das ist alles andere als ein Zufall.

Die Schauspielerin soll puren Schrecken spielen, die Angst vor einem imaginären Feind. Es ist Entfremdung pur, denn die Schauspielerin kann sich das alles im abstrakten Green-Screen-Studio ja nur vorstellen, muss es aus der Macht nur ihrer eigenen Fantasie erst für die Leinwand erschaffen.

Dann bricht das Bild und zerfällt in eine Störung, die sich sofort in den Vorspann verwandelt. Die Scheinheiligkeit unseres CGI-gesteuerten modernen Kinos wird entlarvt.

Im Labyrinth der digitalen Realität: Kritik der Gegenwart

Dieser brillante Anfang liefert sofort einen der Schlüssel zum Verständnis von Bonellos neuem Film "The Beast" (Originaltitel "La Bête"): Wir haben es mit einem Werk in ständiger Fragmentierung zu tun, einem hypertextuellen Labyrinth, in dem sich die Geschichten, Genres, Bilder und Referenzen konzeptuell überlagern.

Worum es Bonello geht, ist eine Kritik der Gegenwart. Es ist glasklar, dass er die Neuen Medien und Künstliche Intelligenz kritisiert.

Mit seinem Green-Screen-Auftakt und dem unkonventionellen Abspann – man muss einen QR-Code scannen, um ihn zu sehen – verachtet "La Bête" ganz offen unsere neue digitale Realität. Zugleich argumentiert der Regisseur, dass der Prozess der Entmenschlichung auf unzählige, viel subtilere Arten stattfindet.

Unheimlichkeit des augenblicklichen technologischen Fortschritts

Die wichtigste Idee des Films ist aber die der Unheimlichkeit des augenblicklichen technologischen Fortschritts: ein Gefühl tiefer Angst vor einem Schrecken, der nicht wirklich existiert, und die Interaktion zwischen beiden.

Der Film ist unglaublich genau in seiner Erforschung unserer Angst, von der grausamen Natur der Vorahnung bis hin zu der Art und Weise, wie wir uns in die Vergangenheit flüchten, und wie wir uns in unserem verzweifelten Streben nach innerem Frieden oft selbst in Gefahr bringen.

Dieser Film handelt von der Angst. Und Bonello möchte uns nicht etwa sagen, dass das Einzige, das wir fürchten müssen, die Furcht selbst ist. Vielmehr möchte er uns sagen, dass es gute Gründe gibt, Angst zu haben – sehr starke Angst zu haben. Sein neuer Film ist ein Horrorfilm.

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In der von der KI kontrollierten Gesellschaft

Wenn nicht alles hier ein Spiel der Kunst und der Auftakt im Greenscreen die "wahre Welt" des Films ist, dann befindet sich die "reale" Handlungsebene von "La Bête" in der nahen Zukunft des Jahres 2044. Die wird komplett von Künstlicher Intelligenz beherrscht; in den technisch perfekt ausgestatteten Gesellschaften herrscht 60 Prozent Arbeitslosigkeit, den Rest der Arbeit machen die Roboter.

In dieser von der KI kontrollierten Gesellschaft haben Emotionen keinen Platz mehr. Gefühle sind zu überflüssigen Hindernissen geworden, die die Produktivität beeinträchtigen.

KI ist zugleich die Hüterin der Festung von Raum und Zeit, die in ihrer Erscheinung einer Bibliothek ebenso ähnelt, wie dem, was früher treffend "ein Tanzsaal" genannt wurde, oder später dann "eine Diskothek" oder "ein Club", jedenfalls ein Ort für die gewöhnlichen Sterblichen, die in der Langeweile des Alltags ihr Leben fristen.

Hier werden die Gesetze des Glamours und der Anziehung unter der Herrschaft eines Spiels mit eigenen Regeln außer Kraft gesetzt, eine Fluchtmöglichkeit, nach der sich alle Normalsterblichen sehnen.

Leicht und sinnlich anzuschauen

Immer wieder gibt es in diesem Film solche Szenen wie die des Anfangs, in der wir einer Schauspielerin beim Spielen zusehen. Es ist die schlechthin großartige Lea Seydoux, die hier, in ihrem vielleicht bisher allerbesten Film, sämtliche Facetten ihrer Kunst auf die Leinwand bringen kann.

Sie ist wirklich mit einer hochdifferenzierten, facettenreichen Leistung dauerpräsent in diesem Film und in fast jedem Bild vertreten.

Dies, die Ebene des Spiels, ist zugleich die allererste von vier Zeit- und Handlungsebenen in diesem Film, der sehr schwer nachzuerzählen ist, aber ungemein leicht und sinnlich und – ja: – wunderschön anzuschauen.

Die Ursituation des Kinos als Traumfabrik

Die von Seydoux gespielte Hauptfigur heißt Gabrielle. Gabrielle will ihre DNA von der KI "reinigen" lassen. Das führt sie auf eine Art Zeitreise.

Die zwei anderen Zeitebenen des Films, in denen sie sich zeitweise aufhält, sind unsere Fast-Noch-Gegenwart des Jahres 2014, kurz vor einer kommenden Katastrophe, die 2025 begonnen haben wird, und auch einen US-Bürgerkrieg mit einschließt, und in der nur China Trost und Sicherheit bietet.

Und die Vergangenheit des frühen 20. Jahrhunderts, das Jahr 1910, kurz vor der Urkatastrophe dieses Jahrhunderts, des (Ersten) Weltkriegs, der diese "Welt von gestern" (Stefan Zweig) ein für alle Mal zerstörte.

Gabriele bewegt sich zwischen diesen verschiedenen Zeiten. Am ehesten tut sie das auf virtuellen Wegen mittels der fortgeschrittenen KI jener Jahre; vielleicht tut sie das auch mittels Zeitreise, oder in der Art von Psychoanalyse und Hypnose, oder einfach nur im Traum. Jedenfalls ist dies – sie liegend in einem schwarzen Raum, mit geschlossenen Augen in einer Art Trance – die Ursituation des Kinos als Traumfabrik.

Im Jahr 1910 entfaltet Bonello ein sinnliches, auf 35mm-Film gedrehtes Melodram, das Reminiszenzen an Martin Scorseses "The Age of Innocence" wachruft, und sich vor dem Hintergrund der Überschwemmung von Paris entfaltet, die sich im Jahr 1910 real ereignete – auch wenn man zunächst glaubt, es handle sich bei den hier gezeigten Bildern um eine wahnwitzige Fiktion.

1910 ist Gabrielle eine hochgefragte Musikerin, "eine Pianistin von seltener Fähigkeit". Die bessere Gesellschaft und deren Modeschöpfer reißen sich um sie.

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romantisch, ohne ein großes R

Bei einem Gespräch während einer Ausstellungseröffnungssoiree wird Gabrielle an ein anderes Gespräch erinnert. In dem ging es um ein Gefühl aus ihrer Jugend: "Das Gefühl von drohendem Unheil, das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert. Dass etwas Sie einholen wird. Sie möchten keine Beziehung führen, da ihr mit Sicherheit etwas zustoßen wird."

Sie antwortet: "Ich war jung und romantisch."

Aber dies ist eine romantische Geschichte. Sie ist romantisch, ohne ein großes R. So unangenehm, verzweifelt und melancholisch ein Großteil von "The Beast" auch ist, so bleiben doch die Momente echten, unkomplizierten Filmvergnügens, der Schwung und das Glück des Films in Erinnerung.

Und doch – irgendetwas wird auftauchen, "wie ein Biest".

Schließt euer Browserfenster!

Auf der Zeitebene des Jahres 2014 herrscht die dichteste Atmosphäre von schleichendem Grauen und drohenden Katastrophen. Die Welt wird durch Sonnenbrillen, Videotelefone, Überwachungskameras, YouTube und Fernsehnachrichten gefiltert; Dasha Nekrasovas Auftritt als Model, das in einem unaufrichtigen Millennial-Plapperton spricht, verkörpert das leere Getue dieser Zeit.

Bonello scheint uns anzubetteln: Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Schließt euer Browserfenster, stoppt eure Videos, schaltet die Tonanlage am PC stumm, schaltet die Alarmanlagen aus.

Auf ihren Zeitreisen entdeckt Gabrielle irgendwann, dass sie in all ihren verschiedenen Existenzen immer in einen jüngeren Mann namens Louis verliebt gewesen ist oder ihm zumindest begegnete.

Worüber Figuren im Jahr 2044 nachdenken

Louis aus L.A. im Jahr 2014 ist ein Monster, das als Reaktion auf seine Zurückweisung entstanden ist, ein "Incel", während Gabrielle aus dem Jahr 1910 zu spät erkennt, wem sie ihr Herz hätte schenken sollen.

Die Figuren im Jahr 2044 denken darüber nach, ihre Gefühle auszulöschen – das jüngste Beispiel für die seelenbetäubende Aktivität, die die Menschen schon immer betrieben haben.

Wenn wir könnten, würden wir uns heute auch einem medizinischen Eingriff unterziehen, bei dem alle Teile unseres Gehirns entfernt würden, in denen Aufregung und Angst sitzen?

Das Ergebnis sind Menschen, die eher einer Art von Schlafwandlern ähneln.

Neue Bilder in die Zukunft

Rückwärts gewandte Zukunft trifft vorwärts gewandte Vergangenheit – die Zeitebenen des Films sind elliptisch miteinander verbunden, durch Wiederholungen, Paramnesien – Störungen, bei der die betroffene Person "Erinnerungen" an Ereignisse hat, die niemals stattgefunden haben – und durch poetische Motive, wie agoraphobische Tauben oder Puppen, deren Entwicklung wir über den Lauf der Zeit mitverfolgen, von einer manuellen Fabrik für Kinderspielzeug bis zu den von der KI hergestellten Erwachsenen-Robotern unserer allzu nahen Zukunft.

Solche Motive verbinden die Zeitebenen und ermöglichen ihnen in Teilen, miteinander zu kommunizieren und eine flüssige Erzählung zu bilden. Der Komplexität dieser Erzählung kann eine linear geschriebene und zu lesende Filmkritik trotzdem nur ansatzweise gerecht werden. Bonello stellt eine Verbindung zwischen persönlichen und internationalen Katastrophen her und konfrontiert die Bestien Liebe und die Angst vor der Zukunft.

Gleichzeitig unternimmt es "La Bête", Diskurse über den filmischen Akt selbst, über Inszenierungsverfahren und Aufnahmetechniken zu führen und über die Notwendigkeit, sich in Bildern der Vergangenheit wiederzuerkennen, um neue Bilder in die Zukunft zu projizieren.

Dies ist eine überaus sinnliche, physische, immersive Reise, auf der der Filmemacher David Lynchs "Mulholland Drive" ínterpretiert, und Harmony Korines "Trash Humpers" zitiert werden, um den Zuschauer zu hypnotisieren, ohne ihn seines aktiven Blickes zu berauben, eines Blickes allerdings, der bereit ist, sich überwältigen zu lassen.

Wie lebt man? Was bleibt übrig von uns?

In Filmen wie "Nocturama" schilderte Bonello Menschen, die vom Leben lobotomiert zu sein schienen, deren vergebliche Handlungen ein verzweifelter Versuch sind, ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit einen Sinn zu geben.

Ein ähnliches Gefühl von Ennui durchdringt auch "La Bête", denn schon die Szene völliger Künstlichkeit zu Beginn etablierte ein Unbehagen, das sich durch den ganzen Film zieht.

Zugleich gelingt es Bonello unglaublich gut, mit unseren Gefühlen, Empfindungen und Emotionen zu spielen. Dies ist Science-Fiction, es ist ein von David Lynch inspirierter Psychothriller. Vor allem aber ist "La Bête" ein hochromantisches Melodram.

Es geht hier ganz ernsthaft darum: Wie lebt man? Was bleibt eigentlich übrig von uns, wenn man Roboter nicht mehr von Menschen auseinanderhalten kann, wenn man sich in einen Menschen verliebt, der sich dann als Roboter entpuppt?

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Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern und roboterhafte Verhaltensweisen entwickeln, wenn wir den Algorithmen gehorchen und den kleinen Maschinen, die uns lenken.

Diese Frage wird gestellt. Und sicherlich die Frage: Woran können wir uns festhalten? Worauf können wir aufbauen? Wie kommen wir wieder zum Ernst zurück? Meinetwegen auch zum Eigentlichen. Also zu etwas, an das wir wirklich glauben können? Vielleicht auch zu Utopien? Vielleicht auch zu universalen Werten?

Die unausschöpflichen Möglichkeiten des Kinos

Bonello ist ein konsequenter Film über Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit geglückt. Ein kluger, facettenreicher Filmund ein höchst virtuoser im mehrfachen Sinn: Er zeigt die Virtuosität dieses Regisseurs, er zeigt auch die Virtuosität von Lea Seydoux, und er zeigt die unausschöpflichen Möglichkeiten des Kinos.

Am Ende kehrt der Greenscreen wieder: Seydoux, die möglicherweise Gabrielle spielt, möglicherweise auch sich selbst spielt, kämpft mit der Bestie.

"La Bête" ist kurz gesagt: der beste Film des Jahres.