Think small

Nakagin Capsule Tower. Bild: Jihei / CC-BY-SA-3.0

Stellen Mikroapartments die Lösung des Wohnungsproblems dar?

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Das eigentlich Groteske, meinte einmal der Schriftsteller Max Frisch: "Wir wohnen gar nicht, wie wir wohnen möchten, sondern wie die Baugesetze es wollen." Natürlich ist das ein wenig überzeichnet. Doch so richtig glücklich macht die derzeitige Wohnsituation - zumal in Deutschlands großen Städten - wohl nur die Wenigsten. Allenthalben ist man mit der Zumutung konfrontiert, die "Komfortzone des Gewohnten" zu verlassen. Just diese Forderung findet nun, im Wortsinne, eine Konkretisierung im aktuellen Hype um die sogenannten Mikroappartments.

20 Quadratmeter, voll möbliert: Solche Miniatur-Wohnungen gibt es prinzipiell schon lange. Auch Dostojewskijs Raskolnikow lebte an einem solchen Ort: "Sein enges Zimmer, der sogenannte 'Sarg', geht direkt auf den Treppenabsatz hinaus. Seine Tür pflegt er, selbst wenn er fortgeht, niemals abzuschließen; der Innenraum, den er bewohnt, ist also von der Außenwelt nicht eigentlich abgegrenzt." Das Interieur der Salons und Arbeitsräume, der Wohnküchen und Schlafzimmer: Es fehlt.

Was freilich all jene wenig kümmert, die dringend auf der Suche nach einer bezahlbaren Bleibe in der Stadt sind. Für viele Studenten, Berufsanfänger und Berufspendler steht im Fokus, möglichst schnell zu einer noch akzeptablen Gesamtmiete eine gut gelegene Wohnung zu erhalten. Abstriche bei deren Größe nimmt man dann eben in Kauf.

"Apodment" microapartment building in Seattle. Bild: Joe Mabel / CC-BY-SA-3.0

Die Konzeptidee so einfach wie genial: Eine Begrenzung der Mieten durch eine Verknappung der Fläche. Dass es hierzulande immer noch zu wenig passenden, günstigen Wohnraum gibt, ist ja - zurecht - in aller Munde. Mit regulärem Wohnungsbau ist dem Mangel nur schwer beizukommen. Ein steigendes Angebot an Mikro-Apartments aber mag durchaus dem Missstand entgegenwirken. Das veranlasst nun Investoren massiv dazu, im großstädtischen Kontext solche alternativen Wohnformen umzusetzen.

Jahrzehntelang ist der Flächenbedarf beim Wohnen gestiegen. Noch 1965 beanspruchte eine Person in Deutschland, rein statistisch, 22 Quadratmeter. Schon im Jahr 2002 waren es 43 Quadratmeter. Und in den USA stieg die Größe von Einfamilienhäusern von durchschnittlich 165 Quadratmeter im Jahr 1978 auf 230 Quadratmeter im Jahr 2007. Und das, obwohl in den gleichen Zeiträumen in den meisten Industrienationen die Anzahl der in einem Haushalt zusammenlebenden Personen gesunken ist.

Nun könnte die Vervielfachung des Wohnraums, von der Wohnungsnot nach den Weltkriegen bis zur Ambiente-Adipositas der Gegenwart, an ein Ende gelangt sein. Denn zumindest auf den ersten Blick wirkt es, als decke der derzeit florierende Handel mit Mikro-Wohnungen genau die entscheidende Marktlücke ab: die des bezahlbaren, zentralen Wohnraums. Ganz gewiss wird die Akzeptanz solcher Grundrisslösungen durch die Weiterentwicklung der Technik befördert: Ein Flachbildschirm benötigt weniger Platz als ein Röhrenfernseher, viele Leute brauchen kein Bücherregal mehr, weil ihre Bücher auf dem Tablet stattfindet.

Zeitgenössisches Wohnen, reduziert auf die Kernfunktionen, aber trotzdem mit allem ausgestattet, was zum Leben unabdingbar dünkt. So wird es zumindest apostrophiert. Und tatsächlich scheinen die kleinen Wohnflächen mit komplexer Netzwerkstruktur immer beliebter zu werden. Deren Einrichtung entspricht zumeist einem durchdachten, platzsparenden Raumkonzept, bei dem die Kombination aus sowohl praktischen als auch ästhetischen Gestaltungselementen im Vordergrund steht.

Wohnwürfel in der Studentenstadt Freimann in München. Bild: Church of emacs / CC-BY-SA-4.0

Man kann sagen, dass Mini-Apartments - ebenso übrigens wie die derzeitige Parallelbewegung der sogenannten Tiny-Houses -, die Antwort der Wohnbauwirtschaft auf einen gesamtgesellschaftlichen Trend zur Reduktion darstellen. Dem Slim-Fit-Ideal in der Mode, der Coke "Zero" im Supermarkt und dem Drei-Liter-Auto auf der Straße entspricht die Less-is-more-Immobilie. Freilich sind die Gründe für die neue Niedlichkeit im Wohnbereich nicht nur modischer Natur: Kleinere Häuser brauchen weniger große Grundstücke (die es in den Ballungszentren auch kaum gibt). Obendrein können sie flexibel - und sogar transportabel sein: Tatsächlich gibt es etliche Minihäuser auch mit Rädern, die sich der Lebenssituation anpassen. Da sie meist modular aufgebaut sind, können sie problemlos erweitert oder verkleinert werden, sie ziehen mit um, wenn der Beruf das erfordert - und illustrieren so auch eine immer dynamischere Gesellschaft der neuen Nomaden.

Ein geringer(er) Mietpreis täuscht indes darüber hinweg, dass kleine Wohnungen keineswegs besonders günstig sind. Bezogen auf den Quadratmeter Wohnfläche ist der Bau von Kleinwohnungen stets teurer als der von größeren Wohnungen, da der Anteil der Verkehrs- und Erschließungsflächen höher ist. Auch bleiben Zweifel, ob eine Einzimmerwohnung wirklich dauerhaft den Ansprüchen der Menschen genügt. Umgekehrt aber liegt der große Vorteil für die Unternehmen auf der Hand: höhere Mieteinnahmen. Denn zehn Mikro-Wohnungen bringen mehr Rendite als eine 230-qm-Wohnung.

Homogene Zielgruppe mit hoher Fluktuation

Aktuelle Projekte für Mikrowohnungen sind jeweils durch eine sehr große Anzahl von Einheiten geprägt: Meist über 100 Wohnungen in einem Gebäude. Die Spitzenwerte liegen bei über 300 Einheiten. Der Bauherr Rudolf Muhr und der Architekt Stefan Forster etwa zeichnen verantwortlich für ein exemplarisches Projekt im Frankfurter Nordend: Ein neues, rotes Studentenwohnheim in der eintönig grauen Umgebung an der Adickesallee. Das Haus mit 340 Appartements ist schon das dritte der Marke "The Flag" in Frankfurt und eines von etwa einem Dutzend in der Stadt, die sich vor allem an Studenten und Berufsanfänger wenden.

Für Projektentwickler ist der Bau von Appartementhäusern besonders lukrativ, weil sich hohe Quadratmeterpreise von mehr als 20 Euro erzielen lassen. Das ist besonders bei der Umnutzung ehemaliger Büroimmobilien entscheidend: Weil der Umbau aufwendig ist und die Grundrisse die Nutzung stark einschränken, ist eine Umwandlung der Büros zu Appartements, die von einem langen Flur abgehen, die wirtschaftlichste Möglichkeit. Zudem ist der Stellplatzschlüssel bei Wohnheimen großzügiger: Ein Bauherr muss nur für jedes dritte Appartement einen Parkplatz nachweisen.

Diese großvolumige Monostruktur der neuen Bauprojekte begründet freilich auch Risiken. Denn die Miniapartments sind sehr stark auf eine relativ homogene Zielgruppe zugeschnitten, womit sie im Vergleich zum durchschnittlichen Wohnungsbestand wenig Flexibilität und Nutzungsalternativen aufweisen. Zudem: Die heutigen Nachfrager nach Mikrowohnungen verbindet, dass sie eine Wohnung nur für einen begrenzten Zeitraum suchen. Das bedeutet, dass sie einer sehr hohen Fluktuation unterliegen. Was wiederum die Bildung von Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, also eine soziale Einbindung in das Umfeld, schwierig gestaltet.

Miniaturisierte Wohn- und Büroraums konnten sich bislang nicht durchsetzen

Gesellschaftlich und wohnungspolitisch dürften Mikrowohnungen also ein Nischenprodukt bleiben. Auch architektonisch muss man wohl eine ähnliche Quintessenz ziehen - wenngleich aus anderen Gründen. Zwar ist der Typus des miniaturisierten Wohn- und Büroraums nicht präzedenzlos, wie ein knapper Blick in die jüngere Baugeschichte zeigt. Aber er entlarvt sich als hypertropher Auswuchs.

Der "Nakagin Capsule Tower" stellt hier die entscheidende Referenz dar: Ein 13-geschossiges Wohn- und Bürogebäude des japanischen Architekt Kisho Kurokawa, welches 1972 im Tokioter Stadtteil Ginza entstand. Während die beiden unteren Etagen konventionelle Büroräume beherbergen, wurden darüber 140 Wohnmodule montiert. Sie sind standardisiert, industriell vorgefertigt, und mit den zwei Hauptstützen nur mit jeweils vier Bolzen verbunden. Architektonisch lesen sie sich als Kombination aus biologisch inspirierten Formen und Hightech-Visionen der Raumfahrt.

Nakagin Capsule Tower. Bilder: Chris 73 / Jordy Meow / CC-BY-SA-3.0

Das Prinzip der Vorfabrikation erweist sich als in aller Konsequenz fortentwickelt, zumal es keine weiteren Stützkonstruktionen mehr benötigt. Ähnlich wie beim Bausystem des MERO-Knotens können die Kapseln an allen Seiten miteinander verbunden werden. In diesem Punkt der Tradition verpflichtet, leitete Kurokawa - Führungsfigur unter den Theoretikern der Megastrukturen - die Grundfläche seiner Module aus den Dimensionen eines traditionellen Teehauses von vier Tatami ab.

Noch heute stellt der "Nakagin Capsule Tower" eine Ikone des Metabolismus dar. Die in den Kern eingehängten, standardisierten Wohneinheiten sollten flexibel miteinander zu verbinden sein. Mehr noch: Sie sollten als Konstruktionsprinzip für ganze Städte dienen. Doch Demontierbarkeit und Austauschfähigkeit sind bloß Möglichkeit geblieben; es ist nie von ihnen Gebrauch gemacht worden. Die gestalterische Kompromisslosigkeit, die wie ein Steckspiel immer wieder um- und ausbaufähigen Strukturen: Sie fand gesellschaftlich nicht die Akzeptanz, derer es bedurft hätte, um so für die Zukunft zu bauen.

Gleichwohl gab und gibt es analoge Bauformen, die eine gewisse Verbreitung fanden, doch fast nur in Japan: Die sogenannten Kapselhotels, deren erstes 1979 in Osaka eröffnet wurde. Es ist die Antwort auf das Bedürfnis nach einer preiswerten Unterkunft in Städten mit großem Platzmangel. Die meisten dieser Einrichtungen - die auch als Waben-, Schließfach-, mitunter gar als Sarghotel bezeichnet werden - befinden sich in Rotlichtvierteln in der Nähe von großen Bahnhöfen und stehen lediglich Männern offen.

Ihre "Zimmer" bestehen in der Regel aus kleinen Plastikkabinen mit etwa 2 qm Bodenfläche und 1,20 m Höhe; sie beinhalten nicht mehr als Matratze, Fernseher und Radio. Das Gepäck wird in Garderobenschränken verstaut. Der Service ist einfach gehalten, Frühstück gibt es keines, dafür aber ein öffentliches Bad. Kein Wunder, dass das Image eher schmuddelig ist. Erst das "9 Hours" in Kyoto machte sich 2010 daran, die Röhre neu zu interpretieren. Aus dem Kapselhotel wurde ein futuristisch anmutendes Designobjekt, das für männliche und weibliche Kunden zugleich konzipiert wurde. Doch das wird eine Sonderform bleiben, die keine nennenswerten Auswirkungen auf die architektonische und habituelle Geographie der Gegenwart hat.

Was bleibt? Der Stellenwert des Wohnens als soziale Lebenspraxis hat im urbanen Alltag - und für die Ausgestaltung des Stadtgefüges - erheblich zugenommen: an Gewicht ebenso wie an Heterogenität. Letztes illustrieren derzeit die Mikro-Wohnungen. Mehr aber auch nicht.